Kapitel 11

Hamburg, Büro Müller 08. Mai 14:20 Uhr MEZ

 

Das Erste, was Müller getan hatte, als sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, war, Martinus zu kontaktieren. Er war in London und musste ihr jetzt helfen.

»Martinus, hören Sie zu: Petersen ist in eine Falle gelaufen. Uns wurde weisgemacht, dass die Formel sich zusammen mit Jones bei Braake in Dresden befinden würde. Ich bin überzeugt, dass Simon Stark irgendwie dahinter steckt. Finden Sie ihn und holen Sie alles aus ihm raus, was er weiß. Die Formel ist noch da draußen, und ich will sie immer noch haben!«

Martinus sagte einige Sekunden nichts. Dann hörte sie ihn tief Luft holen. Schließlich antwortete er: »Stark hat wahrscheinlich nichts damit zu tun. Er ist da nur reingeraten. Jonathan Jones ist derjenige, der die Fäden zieht und alle gegeneinander ausspielt.«

Müller war jetzt hellwach. Was wusste Martinus, was sie nicht wusste. »Reden Sie weiter«, trieb sie ihn an.«

»Der Mann, der mir die Akte abgenommen hat, hat auch versucht, Stark umzubringen. Er hat es überlebt und dann seinerseits Infos aus dem Kerl herausgekitzelt. Stark kann da wohl ziemlich überzeugend sein.«

Müller nickte stumm. Natürlich konnte Stark auf sich aufpassen und selbstverständlich war es gefährlich, ihm ausgeliefert zu sein. In der Haut dieses Killers hätte sie nicht stecken wollen. Gut, dass sie Stark in der Hand hatte und nicht umgekehrt.

»Was hat Stark herausgefunden?«, fragte sie scharf.

»Der Auftraggeber des Anzugkillers ist kein Geringerer als Jonathan Jones persönlich.«

Müller blieb beinahe die Spucke weg, als sie das hörte. In alle Richtungen hatte sie gedacht, aber in diese nicht.

»Martinus, sind Sie sicher? Das bedeutet, Jones wollte die Formel ganz für sich allein. Greene als Mitwisser musste weg und mit Braake hätte er sich nie und nimmer getroffen, um mit ihm einen Deal bezüglich der Formel zu machen.«

»Richtig«, stimmte Martinus ihr zu. »Wir sollten das aber glauben. Und während Sie Petersen in dieses sinnlose Gefecht geschickt haben, konnte Jones hier in London völlig ungehindert mit der Formel herumspielen. So sehe ich das wenigstens.«

»Das sehe ich jetzt auch so. Bleiben Sie, wo Sie sind, Martinus. Ich nehme die nächste Maschine nach London. Diesen Typen kaufen wir uns.«

»Aber …« setzte Martinus an, doch Müller hatte entschieden. Sie drückte das Gespräch weg und rief ihre Sekretärin herein.

»Buchen Sie mir einen Flug nach London. Am besten gestern. Pronto, machen Sie hin.«

***

London, Hotelzimmer Ragnar, 08. Mai 13:25 Uhr GMT

 

Martinus schwirrte der Kopf. Er kam einfach nicht mehr mit, so, wie sich die Ereignisse überschlugen. Immerhin hatte er diesen unerwarteten Anruf seiner Chefin einigermaßen souverän gemeistert.

Jetzt blickte er in die fragenden Augen von Simon Stark, dessen Freund Ragnar und diesem Typ, der sich ihm als Mehmet vorgestellt hatte.

»War das Müller?«, fragte Simon ihn scharf. Offenbar war Stark noch nicht ganz auf der Höhe, sonst hätte er die Stimme seiner Agentenführerin erkannt. Immerhin hatte Martinus das Telefon geistesgegenwärtig auf Mithören gestellt.

»Ja, das war sie«, bestätigte Martinus. Die anderen drei nickten nachdenklich und schwiegen. Martinus war froh, dass Stark ihn nicht sofort mit weiteren Fragen bestürmte. Er brauchte dringend Gelegenheit, seine Gedanken zu sortieren. Es war gerade mal ein paar Stunden her, als er den Anruf von diesem Ragnar bekommen hatte. Martinus hatte immer noch unter Schmerzmitteln gestanden, und dann hatte er plötzlich einen aufgeregt plappernden Nerd am Ohr gehabt, der etwas von einer Sophie gefaselt hatte.

Wenig später hatte Martinus dann verstanden. Ragnar und ein Freund hatten sich auf den Weg zu Jones´ Geheimlabor gemacht, nachdem Stark und seine Freundin Stunden vorher dorthin gefahren, dann aber verschwunden geblieben waren. Dort hatten sie versucht, in das Gebäude zu gelangen, in dem sie Stark und die Frau vermuteten, und schließlich gewaltsam probiert, sich Zugang zu verschaffen.

Irgendwie war dann plötzlich eine Schießerei losgegangen, an deren Ende zwei Leute von Jones tot waren, Stark halb wahnsinnig und diese Sophie schwer verletzt. Dann hatten Ragnar und Mehmet also Stark samt der erbeuteten Akte in den Mietwagen gepackt, mit dem sie gekommen waren, hatten ihn ins Hotel gefahren und dort alle Krankenhäuser abtelefoniert, bis ihnen jemand sagen konnte, wo diese Sophie eingeliefert worden war. Und da war Martinus dann ins Spiel gekommen. Ragnar hatte Martinus in diesem Telefonat eingetrichtert, er solle sofort in die Notaufnahme gehen und sich nach dem Zustand der Frau erkundigen, weil die in genau die Klinik gebracht worden war, in der Martinus versuchte, sich von seinen Verletzungen zu erholen.

Das hatte er getan und pflichtschuldig wieder Ragnar auf Starks Handy angerufen. Als Martinus ihm mitgeteilt hatte, dass die Frau durchkommen würde, hatte der sich wie irre gefreut und Martinus dann gefragt, ob er aus dem Krankenhaus abhauen könne, um ins Hotel zu kommen.

Und da war er nun. Kaum zur Tür herein, hatte sein Handy gebimmelt und Müller hatte ihn genötigt, zu improvisieren.

»Hätte ich Müller nichts über Jones sagen sollen?«, fragte er jetzt vorsichtig. Stark schüttelte entschieden den Kopf.

»Nein, das war gut, Martinus. Diesen Teil der Wahrheit kann sie wissen. Ist besser, als wenn sie auf die Idee kommt, ich hätte etwas mit dem Tod von diesem Petersen zu tun.«

»Aber jetzt kommt sie hierher«, gab Ragnar zu bedenken. »Was fangen wir mit ihr an, wenn sie hier ist? Sie wird die Formel von uns haben wollen.«

»Dann geben wir sie ihr«, erwiderte Simon. »Sie funktioniert sowieso nicht.«

Martinus wurde hellhörig. »Was heißt das, sie funktioniert nicht? Woher wollen Sie das wissen?«

»Mehmet, würdest du den Sack aus Simons Zimmer holen«, bat Ragnar den Türken, der dieser Aufforderung nur widerwillig nachkam. Martinus war extrem gespannt, was nun wieder geschehen würde.

Ein paar Minuten später war ihm klar, wovon Stark gesprochen hatte. Ein Blick in den Sack, zusammen mit Ragnars kurzem Exkurs über Telomerase und Krebs, reichten aus, um ihn zu überzeugen. Müller, Greene, Jones – alle waren einem Phantom hinterhergejagt. Es gab kein ewiges Leben – für niemanden.

»Gut, dann übergeben wir die Akte an Müller und alle gehen ihrer Wege«, stimmte Martinus zu.

Doch Ragnar widersprach heftig. »Das könnt Ihr nicht machen. Die Methode funktioniert so nicht – OK. Aber ich bin sicher, ich kann sie optimieren.«

»Und dann?« Simon sah seinen Freund mitleidig an. »Findest du wirklich, dass du der Menschheit damit einen Gefallen tun würdest?«

»Wie kleingeistig kann man denn sein?«, ereiferte sich Ragnar. »Du siehst nur die Risiken, aber ich sehe die Chancen. Die Menschen würden viel verantwortungsvoller mit der Welt umgehen, wenn sie wüssten, dass sie auch in ein paar hundert Jahren selbst noch in ihr leben werden. Wer würde heute den Klimawandel ignorieren, wenn er selbst die Folgen ausbaden müsste?«

»Schluss jetzt«, herrschte Simon ihn an. »Wegen dieser verdammten Formel sind schon Menschen gestorben, als nicht mal klar war, ob sie funktioniert oder nicht. Was denkst du, wird geschehen, wenn du sie anwendbar machst? Ich sage es dir – weitere Menschen werden sterben, aber dann vielleicht Millionen, weil Kriege darum geführt werden würden.«

Martinus pflichtete ihm bei. »Er hat Recht. Geben wir die Formel, so wie sie ist, an Müller heraus. Wir sagen ihr, dass sie wertlos ist.«

»Dann wird sie daran arbeiten, begreift Ihr das nicht?« Ragnar war vollkommen aufgebracht.

»Wird sie nicht«, widersprach Simon. »Ich habe immer noch die Bilder, die sie und den kriminellen Rocker Petersen beim Schäferstündchen zeigen.«

»Du willst sie erpressen? Mit ein paar Schmuddelbildern?«, fragte Ragnar ungläubig.

»Ja, auch wenn ich es zuerst für keine gute Idee gehalten habe. Aber Sophie hatte von Anfang an Recht. Wenn ich sie mit dem Material konfrontiere, muss sie tun, was wir verlangen. Sie kann uns nicht alle umbringen lassen. Oder?« Er sah Martinus an.

»Nein, kann sie nicht. Aber ich sage es ihr nicht, das steht fest. Ich traue ihr zumindest zu, den Überbringer der schlechten Nachricht zu killen.«

»Gut. Und danach ist alles Friede, Freude, Eierkuchen?«, fragte Ragnar missbilligend.

»Ich denke schon«, gab Simon überrascht zurück. »Müller behält ihren Job, Dawn und ich genießen immer noch ihre Protektion, ohne weiter für sie arbeiten zu müssen, und die Formel ist aus der Welt. Glaubst du nicht, dass damit alles gut ist?«

»Nicht zu vergessen Braake und Petersen«, warf Martinus ein. »Auch beide tot. Von denen kommt uns keiner mehr in die Quere.«

»Seid ihr denn wirklich so blind?«, rief Ragnar und sprang wütend von seinem Stuhl auf. »Jones ist immer noch da, und er wird nicht ruhen, ehe er die Formel zurückhat. Und Sophie liegt schutzlos im Krankenhaus. Zählt doch mal Eins und Eins zusammen, verflucht.«

»Scheiße«, entfuhr es Simon und Martinus gleichzeitig.

Mehmet wurde einfach nur blass.

Minuten später saßen sie zu viert in dem Mietwagen und rasten in Richtung Klinik.

***

London, 14:10 Uhr GMT

 

Es war der größte Fehler seines Lebens, diesen Mann unterschätzt zu haben. Jetzt hatte er die Formel und Jones jede Menge Schwierigkeiten am Hals. Für die Cops hatte er keine befriedigende Erklärung gehabt, warum zwei schwerbewaffnete Tote in seinen Räumen herumlagen, was überhaupt passiert war und was genau er eigentlich in diesem Labor trieb, das offiziell gar nicht angemeldet war, wie sie schnell herausgefunden hatten.

Seine Anwälte würden die Ermittlungen noch eine Weile torpedieren und verzögern können, doch am Ende des Tages würde er England verlassen und sich anderswo etwas aufbauen müssen. Aber mit leeren Händen würde er ganz sicher nicht in dieses neue Leben gehen.

Die kleine Schlampe, die mit Stark zusammen da gewesen war, hatten seine Männer erwischt, und jetzt war sie in die Klinik gebracht worden.

»Sie wissen, was ich von Ihnen will, Wilson. Machen sie Ihr Medizinding und seien Sie ganz natürlich, wenn uns jemand anspricht.«

Der Doktor auf dem Beifahrersitz war immer noch kreidebleich und zitterte.

»Nehmen Sie sich um Himmels willen zusammen, Mann. So fallen Sie auf.«

»Ich kann das nicht«, jammerte Wilson. »Ich bin Wissenschaftler, kein Gangster.«

Jetzt reichte es Jones. Er zog eine Pistole aus dem Handschuhfach und drückte sie Wilson gegen die Schläfe.

»Sie wussten genau, worauf Sie sich einlassen, Doc. Jetzt ziehen Sie es mit mir zusammen bis zum Ende durch oder Sie verabschieden sich gleich hier von der Welt.«

»Schon gut, ich mach´s ja«, winselte der Wissenschaftler unterwürfig. Jones legte die Pistole wieder weg und tätschelte ihm jovial die Wange. »So mag ich Sie, Wilson. Eingeschissen vor Angst und ohne jedes Selbstwertgefühl. Und jetzt nehmen Sie sich zusammen, wir sind da.«

Jones steuerte den Wagen in die Tiefgarage für Besucher, parkte ein und stieg aus. Zusammen mit dem Doktor fuhr er dann mit dem Lift hoch zur Lobby.

Jones fragte am Informationsschalter nach einer jungen Frau, die mit Schussverletzungen eingeliefert worden war, und ließ sich die Zimmernummer geben. Wilson stand derweil abseits und tat, als gehöre er nicht zu Jones.

Der signalisierte ihm, indem er ihm unauffällig drei Finger zeigte, in welchem Stockwerk sich die Frau befand, wegen der sie hier waren. Wilson nickte und verschwand im Treppenhaus, während Jones zu Fahrstuhl ging.

Als er im dritten Stockwerk aus dem Fahrstuhl trat, sah er sich um und entdeckte kurze Zeit später auch Doc Wilson, der ein Krankenbett den Flur entlang rollte. Am Schwesternzimmer machte er kurz Halt und sprach mit der Stationsschwester. Dann setzte er seinen Weg fort und kam zu Jones.

»Glück gehabt. Ich konnte die Schwester überzeugen, dass die Patientin zum CT gebracht werden muss. Sie wird aber gleich noch einmal beim behandelnden Arzt anrufen und sich das bestätigen lassen. Zum Glück war er gerade nicht erreichbar.«

»Wie lange haben wir?«, fragte Jones nervös.

»Keine Ahnung. Wir müssen uns einfach beeilen. Und vielleicht wäre es gut, wenn Sie die Schwester im Auge behalten, während ich die Patientin für den Transport vorbereite.«

Jones stimmte zu. Daraufhin verschwand Wilson in Sophies Krankenzimmer und Jones schlenderte zum Schwesternzimmer. Dort angekommen sah er durch die Glasscheibe, wie die Frau, mit der Wilson geredet hatte, am Telefon hing und wild gestikulierte. Jones öffnete leise die Tür und schob sich unauffällig in den kleinen Raum. Die Schwester drehte ihm den Rücken zu und telefonierte aufgeregt weiter, ohne ihn zu bemerken.

»Nein, den Arzt habe ich noch nie gesehen. Und Sie sind sicher, dass keine Untersuchung angesetzt ist? Gut, den Burschen kaufe ich mir.«

Jones behielt sie genau im Auge, während er vorsichtig die Jalousie im Büro herunterließ. Für solche Dinge heuerte man normalerweise Profis an, aber es sah so aus, dass er jetzt auf sich gestellt war. Die Schwester legte den Hörer auf und drehte sich um. Als sie ihn sah und feststellte, dass man nicht mehr durch die Fenster auf den Korridor sehen konnte, schrie sie.

Jones war mit drei großen Schritten bei ihr und schlug ihr mit aller Kraft ins Gesicht. Als sie zu Boden ging, warf er sich auf sie und umklammerte ihren Hals. Doch sie wehrte sich verzweifelt. Er würde sie nicht lange genug am Boden halten können, bis ihr die Luft wegblieb und sie ohnmächtig wurde. Also tastete er mit beiden Daumen nach ihrem Kehlkopf. Sobald er den richtigen Punkt gefunden hatte, wendete er all seine Kraft auf und drückte zu. Es folgte ein letztes panisches Röcheln, dann erschlaffte sie und verdrehte die Augen. Ihr den Kehlkopf einzudrücken und sie damit zu töten, war das Einzige, was Jones in dieser Situation übriggeblieben war. Keuchend und erschöpft erhob er sich und verließ den kleinen Raum wieder. Auf dem Korridor war niemand zu sehen. Das war gut. Aber jeden Augenblick konnte dieser Arzt hier auftauchen.

Er eilte zurück zum Krankenzimmer. Er wollte gerade hineingehen, als von innen die Klinke gedrückt wurde und die Tür aufschwang.

»Halten Sie auf«, flüsterte Wilson, als er seinen Boss sah. Der hielt ihm die Tür auf und gab sich Mühe, dem Doc nicht im Weg zu stehen, während er das Bett hinaus auf den Korridor rollte.

Im Laufschritt hetzten sie dann in Richtung der Aufzüge. Jones kam zuerst an und hämmerte auf den Knopf. Hinter ihm kam Sekunden später Wilson zum Stehen und fuhr ihm mit dem Krankenbett in die Hacken.

»Passen Sie doch auf, Sie Idiot«, zischte Jones.

»Der andere Aufzug kommt hoch«, wisperte Wilson zurück und deutete panisch auf die Stockwerkanzeige. »Wenn das der Arzt ist, sind wir geliefert. Bestimmt bringt er den Sicherheitsdienst mit.«

Wilson zappelte wie ein hyperaktives Kind, während er auf die Anzeige starrte. Dann war ihr Aufzug da. Ein leiser Gong ertönte und die Tür glitt auf. Jones und Wilson warfen sich gleichzeitig gegen das Bett und rammten es unsanft in die Kabine. Im selben Augenblick erklang wieder dieser Gong. Jetzt war auch der andere Fahrstuhl angekommen. Wie hypnotisiert starrten die beiden Männer durch die sich viel zu langsam schließende Tür auf den Korridor hinaus. Im Fahrstuhl nebenan polterte es und plötzlich sprangen vier Männer in den Krankenhausflur und rannten los, ohne sich nach Wilson und Jones in ihrer Kabine umzusehen.

Es war nicht der Stationsarzt mit dem Sicherheitsdienst.

»Simon Stark«, raunte er Wilson völlig perplex zu. Dann war die Tür vollständig geschlossen und der Fahrstuhl setzte sich mit einem Ruck in Bewegung.

»Das war verflucht knapp«, stöhnte Wilson und wischte sich über die Stirn.

***

Auf der Fahrt zum Krankenhaus hatte Martinus mindestens drei rote Ampeln überfahren und war mehrere Male verbotswidrig abgebogen. Simon wunderte sich, dass der Agent erstens fahren konnte wie ein Rallye-Pilot und er sich zweitens in Londons Straßen vollkommen ohne Navigationsgerät zurecht fand.

»Vier Semester Politikwissenschaft an der University of Westminster«, gab er knapp zurück, als Simon ihn darauf ansprach.

»Politikwissenschaft, ernsthaft? Und da lernt man auch, zu schießen und so Auto zu fahren?«

Ohne den Blick von der Straße zu nehmen, antwortete Martinus: »Ich wollte in den diplomatischen Dienst. Daher das Studienfach. Bin dann aber neben dem Studium noch Sportschütze gewesen und hätte beinahe die Olympiaqualifikation geschafft. Da ist der Verfassungsschutz auf mich aufmerksam geworden und hat mir einen Job angeboten. Ende der Geschichte.«

Simon hätte ihn gerne noch weiter ausgefragt, doch in dieser Minute erreichten sie das Klinikgelände.

»Halten Sie da vorne an, direkt vor dem Haupteingang«, kommandierte Simon, ohne zu bemerken, dass er in seinen alten Offizierstonfall verfiel. Martinus reagierte prompt, und Sekunden später sprangen alle vier aus dem Wagen. Im Laufschritt ging es durch die Lobby in Richtung Empfang. Die dort sitzende Dame war angesichts der vier auf sie zu stürmenden Fremden vor Schreck aufgesprungen und machte den Eindruck, dass sie gleich um Hilfe schreien würde.

Simon setzte sich vor die anderen und bremste sie mit ausgebreiteten Armen ab. Dann hob er beschwichtigend die Hände und rief der Sekretärin freundlich aus einigen Metern Entfernung zu: »Verzeihen Sie unser Auftreten. Wir suchen Frau Sophie Palmer, eine gute Freundin. Wir sorgen uns sehr um sie. Man hat sie mit Schussverletzungen in Ihre Klinik gebracht.«

Jetzt entspannte sich ihr Gesicht deutlich, und als sie antwortete, brachte sie sogar ein halbwegs freundliches Lächeln zustande. »Drittes Obergeschoss, Zimmer 23.«

»Danke sehr«, rief Mehmet stellvertretend für alle und rannte zu den Fahrstühlen. Hinter ihm drängten sich Simon, Martinus und Ragnar ungeduldig, bis die Tür aufglitt und alle hineinstürzten. Eine ältere Dame, die von der Tiefgarage mit dem Lift nach oben gekommen war, verzog sich vollkommen verschreckt in die hinterste Ecke der Kabine und hielt ihre Handtasche ängstlich umklammert.

Ragnar grinste sie lausbübisch an und raunte ihr zu: »Keine Angst. Wir sind die Guten.«

Die Fahrt in den dritten Stock schien ewig zu dauern. Als dann der erlösende Gong erklang, drängten wieder alle gleichzeitig nach vorn, doch die Schiebetür öffnete sich nur zeitversetzt, sodass Simon, der ganz vorn stand, zunächst mit dem Gesicht gegen die Tür gepresst wurde.

»Ihr brecht mir die Nase, ihr Spinner«, schimpfte er. Dann öffnete sich der Lift und alle rannten einfach los. Jeder hatte das Gefühl, dass sie schon zu spät sein konnten, und niemand wollte die entscheidende Sekunde verschwenden.

Simon war mit seinen Hightech-Beinen deutlich vor den anderen bei Zimmer 23. Er musste sich geradezu zwingen, die Tür nicht einzutreten, sondern den Türdrücker zu betätigen. Er stieß die Tür trotzdem eine Spur zu heftig auf und blieb wie angewurzelt stehen. Gerade als die übrigen auf Höhe des Zimmers ankamen, federte die Tür zurück und fiel direkt vor Simons Nase ins Schloss. Er blinzelte nicht mal, als das geschah, auch wenn nur Millimeter fehlten, um ihm die Nase zu brechen.

»Was ist los?«, rief Ragnar alarmiert, doch er bekam keine Antwort. Simon stand einfach da und reagierte nicht. Er war kalkweiß.

»Ach Scheiße«, murmelte Ragnar verzweifelt und stieß die Tür wieder auf. Er trat ein und Mehmet und Martinus folgten ihm zögerlich.

Da war keine Sophie. Ein Krankenbett, ein abgeklemmter Infusionsschlauch und ein abgeschalteter Überwachungsmonitor waren die einzigen Zeugen dafür, dass hier vor kurzem noch jemand gewesen sein musste.

»Wir sind zu spät«, analysierte Martinus wenig scharfsinnig. Aber da er am wenigsten emotional involviert war, übernahm er jetzt die Führung. Simon war das recht. Er konnte angesichts des leeren Zimmers einfach keinen klaren Gedanken fassen. Das zweite Mal innerhalb der letzten Tage loderte plötzlich das Verlangen nach einem starken Drink in ihm auf. Als ihm das bewusst wurde, schlug er sich mit der flachen Hand ins Gesicht und befahl sich, verdammt noch mal nicht so ein Arschloch zu sein.

»Es ist noch warm«, bemerkte Martinus, der das Laken des leeren Bettes befühlte. »Weit können sie nicht sein.«

»Glaubst du, Jones hat sie?«, fragte Ragnar.

»Wer wohl sonst?«, antwortete Martinus ungeduldig. »Also los, wir müssen sie finden – jetzt!«

***

London, Hotel in Camden, 08. Mai 16:32 Uhr GMT

 

Zwei Stunden später trotteten die vier Männer niedergeschlagen den Gang zu Ragnars Hotelzimmer entlang. Von Jones und Sophie war in der gesamten Klinik keine Spur zu finden gewesen. Ragnar hatte leider auch kein passendes technisches Equipment dabei, mit dem er die Überwachungskameras der Umgebung hätte anzapfen können. Das Zeug hätte er nie und nimmer durch die Kontrolle am Flughafen bekommen.

Ragnar ging voran und kramte umständlich die Chipkarte für seine Zimmertür hervor, als er stockte. Die Tür war nur angelehnt. Dann hörte er, dass drinnen leise der Fernseher lief.

»Da ist jemand drin«, flüsterte er Simon zu, der hinter ihm stand.

Simon sah Martinus vielsagend an. Mit Handzeichen verständigten sie sich, dass Simon zuerst reingehen und nach rechts wegtreten, und Martinus direkt hinterher kommen und sich im Zimmer nach links orientieren sollte. So konnte sie der Eindringling nicht beide gleichzeitig erschießen, falls er bewaffnet war. Ragnar und Mehmet sollten zurückbleiben und im Ernstfall abhauen.

Simon trat leise vor die angelehnte Tür, zählte mit den Fingern für alle gut sichtbar von fünf runter und trat dann die Tür auf. Er glitt hinein und verschwand sofort hinter dem rechten Türrahmen, während Martinus ihm dichtauf folgte und den verabredeten Schritt nach links machte.

Simon war bereit, sofort ein paar Kugeln, Messern oder was auch immer auszuweichen, rechnete mit bis zu vier Angreifern und sonstigen Überraschungen, aber was er sah, überrumpelte ihn völlig.

»Frau Müller«, sagte er tonlos und ließ die zum Kampf erhobenen Arme langsam sinken.

»Chefin? Ich hatte Sie nicht so schnell erwartet.« Martinus wirkte ebenso verwirrt, wie Simon sich fühlte. Neugierig streckten jetzt auch Ragnar und Mehmet die Köpfe ins Zimmer.

Die Agentin saß in einem für sie untypischen, körperbetonten Overall mit übergeschlagenen Beinen im Ohrensessel und sah die ankommenden Freunde mit hochgezogenen Brauen an. In der Linken schwenkte sie einen Cognac, und wie die halbleere Flasche auf dem Beistelltischchen vermuten ließ, was das heute nicht ihr erster Drink.

»Wo zum Teufel kommen Sie denn jetzt her? Ich warte hier schon ewig.«

Martinus übernahm die Zusammenfassung der jüngsten Ereignisse. Sonderlich interessiert wirkte Müller dabei nicht. Als er fertig war, nickte sie Martinus knapp zu und wendete sich dann an Simon.

»Ich darf dann um die Akte bitten, Herr Stark.«

Simon zog sie hervor und ging zu Müller.

»Nein, du darfst sie ihr nicht geben«, rief Ragnar, doch sein Protest klang jetzt schwach. Im Innersten hatte er wohl schon verstanden, dass er die Formel nicht bekommen würde, um daran zu forschen.

»Hier haben Sie sie«, brummte Simon und drückte Müller die Dokumentensammlung in die Hand. Sie schlug sie auf, überflog mit prüfendem Blick das Register und sah dann skeptisch zu Martinus hinüber. »Ist sie vollständig? Er würde sie mir nicht einfach so überlassen, wenn kein Haken bei der Sache wäre.«

Simon verkniff sich ein Grinsen, was Müller nicht verborgen blieb.

»Das finden Sie lustig? Ob Sie auch noch lachen, wenn ich ihren Arsch ins Kittchen einfahren lasse?«

Jetzt prustete Simon los. »Entschuldigung, es soll nicht respektlos erscheinen, aber es ist zu komisch.«

Wieder sah sie Martinus fragend an. Simon sah das und sagte: »Erklären Sie es ihr, Martinus. Nur zu.«

Der Blick des Agenten sprach Bände. Er hätte Simon am liebsten erwürgt, das sah man ihm deutlich an. Jetzt war der schwarze Peter doch bei ihm gelandet, und er konnte zusehen, wie er seiner Chefin klarmachte, dass sie mit Zitronen gehandelt hatte.

»Er gibt sie Ihnen, weil sie sowieso nicht funktioniert«, sagte er und verkniff das Gesicht, als erwarte er eine Ohrfeige.

Doch statt Ärger erntete er Unglauben. »Erzählen Sie keinen Mist, Martinus. Der verarscht Sie und mich. Natürlich funktioniert es. Sonst wäre Jones nicht dahinter her wie ein Kater hinter einer rolligen Katze.«

»Ich fürchte, verarscht, wie Sie es ausdrücken, hat uns alle Ryan Greene und sonst niemand«, erwiderte Martinus bedauernd. »Seine in der Akte dokumentierten Versuchsprotokolle, die auf erfolgreiche Tierversuche verweisen, sind zum größten Teil gefälscht. Den einzigen Versuch hat er an seinem eigenen Hund durchgeführt, und den hat er ein paar Tage nach der ersten Gabe des Serums nicht mehr gesehen, sondern bei seiner Großmutter gelassen. Was da zum Versuchsverlauf steht, ist frei erfunden.«

Müller sah aus, als hätte sie jemand geohrfeigt. In ihrem Gesicht konnte Simon den Kampf zwischen Verzweiflung, Wut und Trotz ablesen. Sie machte einen letzten Versuch.

»Aber dann ist noch lange nicht gesagt, dass das Mittel nicht wirkt. Es heißt doch nur, dass nicht sauber dokumentiert wurde. Wir führen die Tests einfach zu Ende, nur um sicherzugehen. Es funktioniert ganz bestimmt.«

Ragnar hatte inzwischen den Müllsack mit dem Kadaver aus dem Bad geholt, wo sie ihn deponiert hatten, und stellte ihn Müller jetzt vor die Füße.

»Der Versuch ist abgeschlossen. Das Ergebnis ist da drin. Sehen Sie nach«, ermunterte Ragnar sie.

Der Anblick des Kadavers ließ auch Müller nicht kalt. Nachdem sie fast eine Minute lang fassungslos in den Sack gestarrt hatte, verschloss sie ihn wieder und sackte förmlich in sich zusammen. Sie trank den Rest Cognac aus ihrem Glas und schenkte sofort nach.

Die Stimmung im Zimmer war deprimierend. Niemand wusste etwas zu sagen und keiner hatte eine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Da klingelte Simons Handy.

Simon nahm das Gespräch entgegen.

»Hallo?«, sagte er. Dann verfinsterte sich sein Gesicht und er sagte nichts mehr, sondern hörte nur konzentriert zu. Schließlich legte er wortlos auf. Die anderen hatten ihn mit wachsender Neugier beobachtet. Jetzt starrten ihn alle fragend an.

»Jones hat Sophie. Es geht ihr schlecht. Wenn sie nicht schnell in ein Krankenhaus kommt, stirbt sie.« Simon machte eine Pause und schluckte. Er war aufgewühlt, wütend und voller Sorge. Der Geruch von Müllers Cognac stieg ihm plötzlich in die Nase und verhöhnte ihn. Er versuchte, es zu ignorieren, und sprach weiter: »Er will die Formel – natürlich. Er weiß ja nicht, dass sie wertlos ist.«

»Wann und wo?«, unterbrach Ragnar ihn. »Wir holen sie da raus.«

Doch Müller sprang auf und presste die Akte an sich. »Niemand geht mit dieser Akte irgendwo hin. Vor allem nicht Sie, Stark. Ich habe für Sie ohnehin keine Verwendung mehr. Sie haben mich hintergangen und dafür bekommen Sie die Quittung.«

Simon beachtete sie nicht. »In einer Stunde in seinem Labor. Ich soll allein kommen.«

»Wir kommen natürlich mit und sichern dich ab«, widersprach Ragnar und Mehmet nickte demonstrativ. Müller stampfte mit dem Fuß auf und blickte von einem zum anderen, als hätten alle den Verstand verloren.

»Niemand geht mit dieser Akte irgendwohin, haben Sie das nicht verstanden?«

»Jones wird Sophie umbringen oder einfach sterben lassen«, antwortete Simon.

»Nicht mein Problem«, antwortete Müller kalt. »Im Gefängnis hätten Sie von Ihrer kleinen Freundin sowieso nichts. Schreiben Sie sie ab, Stark.«

»Wissen Ihre Vorgesetzten eigentlich, dass Sie sich von einem Nazirocker haben bumsen lassen?«, warf plötzlich Mehmet ein und baute sich mit verschränkten Armen vor ihr auf.

»Was? Wovon …?«, doch Mehmet brachte sie zum Schweigen, indem er ihr sein Handy mit einem der kompromittierenden Fotos auf dem Display unter die Nase hielt. Simon beobachtete die Szene mit Genugtuung. Müller entglitten die Gesichtszüge. Statt rot vor Scham wurde sie weiß. Das musste der ultimative Schock für sie sein.

»Ihr Fehler war, sich mit uns anzulegen, Frau Müller«, giftete Mehmet. »Haben Sie gedacht, Sie könnten Dawn Widow und Simon Stark einfach so wie Marionetten für sich tanzen lassen?«

Müller brachte Mehmet mit einer flehenden Geste zum Schweigen. »Bitte, lassen Sie mich erklären. Ich … ich war nicht ich selbst. Ich habe gegen ihn ermittelt, und irgendwie sind wir …«

»Ineinander gerasselt wie Elche in der Brunst«, ergänzte Ragnar spöttisch. Müller sah ihn verletzt an. »Ich bin auch nur eine Frau. Tut mir leid, wenn Sie das nicht verstehen. Jedenfalls ja, es stimmt – ich habe mich von ihm ausnutzen lassen. Ich war ihm hörig und dafür schäme ich mich.«

»Schämen Sie sich lieber für das, was Sie mit Simon und Dawn abgezogen haben«, entgegnete Ragnar bissig.

»Also gut, was wollen Sie?«, fragte sie resigniert.

Simon ging zu ihr. Ragnar trat zur Seite und überließ ihm das Feld. »Sie wissen, dass Sie gar nichts haben. Die Formel ist Mist und Ihr Job ist Geschichte, wenn das hier den richtigen Leuten zugespielt wird.« Er deutete auf das Handy.

Müller nickte ergeben. »Schon gut, ich habe verstanden. Aber was wollen Sie jetzt von mir?«

Simon riskierte einen kurzen Seitenblick auf Martinus. Er schien sich ganz gut zu amüsieren. Simon blinzelte ihm zu und fixierte dann wieder Müller.

»Punkt eins: Sie geben mir die Akte und lassen mich damit zu Jones fahren. Punkt zwei: Dawn und ich werden weiterhin von ihrer Behörde protegiert, arbeiten aber nicht mehr für Sie. Punkt drei: Sie lassen sich innerhalb der Behörde versetzen. Ihren Job übernimmt Martinus. Punkt vier: ...« An dieser Stelle unterbrach Simon und beugte sich weit zu Müller hinunter. Was Punkt vier war, flüsterte er ihr ins Ohr. Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung, doch sie nickte zustimmend. Nach all den bitteren Kröten, die er ihr zu schlucken gegeben hatte, sorgte Simon mit der letzten Bedingung dafür, dass Müller ihr Gesicht würde wahren können.

***

»Was ist die vierte Bedingung?«, bedrängte Ragnar ihn zum wiederholten Male, als sie auf dem Weg zu Jones an einer Ampel anhalten mussten.

»Kann ich dir nicht sagen, tut mir leid«, sagte Simon bedauernd. »Das ist eine Sache zwischen ihr und mir. Muss sonst keiner wissen.«

»Spielverderber«, brummte Ragnar verstimmt und ließ sich unzufrieden in den Sitz zurücksinken.

»Ich lasse Sie hier jetzt raus wie verabredet, Stark«, sagte Martinus und lenkte den Wagen an den Straßenrand. »Und auch, wenn Sie mich nicht sehen – ich bin in Ihrer Nähe«, fügte er hinzu und reichte Simon die Hand. Der ergriff sie und drückte fest zu.

»Sie sind gar nicht so verkehrt, Martinus.«

»Sie auch nicht, Stark. Und danke, dass Sie mir Müllers Job verschafft haben. Das war sehr anständig von Ihnen.«

Simon blinzelte listig: »Gern geschehen. Dass Sie jetzt in meiner Schuld stehen, ist Ihnen aber klar, oder?«

Martinus rollte mit den Augen. »Ich habe es befürchtet, ja. Aber jetzt sehen Sie zu, dass Sie Ihre Freundin retten.«

Simon nickte und stieg aus. Martinus fädelte wieder in den fließenden Verkehr ein, und Simon sah ihm nach, bis der Wagen im Gewühl verschwunden war. Normalerweise wäre es von diesem Standort aus ein Fußweg von gut fünfzehn Minuten bis zum Labor gewesen, doch Simon würde die Strecke dank seiner Prothesen in fünf schaffen. Angst, Aufsehen zu erregen, hatte er nicht. In Hamburg war das etwas anderes, aber hier in London würde einer, der durch die Straßen rannte wie ein Dieb auf der Flucht, niemandem großartig auffallen. Klar, die Leute würden gucken und vielleicht missbilligend den Kopf schütteln, aber gleich darauf würden sie sich wieder auf sich besinnen und ihn vergessen. London war ein Moloch mit dem Herzschlag eines Kolibris. Simon hätte auch fliegen können, ohne Aufsehen zu erregen.

Er rannte los. Im Hotel hatte er extra noch die Brennstoffzellen erneuert, um nicht im entscheidenden Moment mit ausgepowerten Beinen liegenzubleiben.

Als das Gebäude in Sichtweite war, ließ er sich langsam austrudeln. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Martinus und die anderen in einigem Abstand zum Eingang geparkt hatten. Im Wagen saß niemand mehr. Sie hatten also bereits ihre Beobachtungsposten bezogen. Dass sie nicht die Rolle spielen würden, die sie erwarteten, hatte er ihnen nicht gesagt. Simon hatte andere Pläne.

Die zerstörte Fensterfront war repariert und der Blick ins Innere war wieder wie zuvor versperrt. Simon verzichtete darauf, an der Tür zu klopfen oder die Klingel zu betätigen. Er stellte sich einfach vor den Eingang und blickte mit unbewegter Miene zu der Überwachungskamera hoch.

Er musste nicht lange warten, bis ein leiser Summton erklang und ein Klicken im Schließmechanismus der Tür verriet, dass er bemerkt worden war. Er drückte gegen die Tür und trat ein.

Drinnen erwartete ihn zunächst niemand. Der Eingangsbereich war leer und die Schleuse zum Laborbereich verschlossen. An der Decke war eine Kamera angebracht. Simon tat, als sehe er sich eingehend in dem Raum um und drehte sich dabei langsam um die eigene Achse. Als er die Kamera im Rücken hatte, zog er unauffällig sein Smartphone vorne aus dem Hosenbund und sendete die vorbereitete Nachricht an Ragnar.

Bin drin, lautete die simple Botschaft. Sie hatten verabredet, dass Ragnar auf diese Nachricht hin einen Rettungswagen alarmieren und zu dieser Adresse schicken sollte. Statistisch gesehen blieben ihm von jetzt an knappe zehn Minuten, die Sache hier in trockene Tücher zu bringen. Erschien der Krankenwagen, bevor Simon Jones die Akte übergeben hatte, würde der Lunte riechen und Sophie umbringen. Er ließ das Handy zurück in den Hosenbund gleiten und beendete seine Drehung. Jetzt sah er direkt in die Kamera. »Ich bin hier«, sagte er mit fester Stimme. »Bringen wir das Geschäft hinter uns.«

Als Antwort ertönte abermals ein Summen, nur dieses Mal wesentlich lauter als das am Eingang. Die Schleuse zum Labortrakt öffnete sich. Simon ging ohne zu zögern hindurch, die Schleuse schloss sich hinter ihm wieder. Ein leichter Druck auf den Ohren verriet ihm, dass es sich um eine Unterdruckschleuse handelte. Er stand in einer Kammer zwischen zwei Türen der gleichen Bauart. Nach wenigen Sekunden gab es wieder das Summen und die Tür vor ihm öffnete sich. Es folgte noch ein kurzer, weiß gekachelter Gang, der nach zwei Metern einen scharfen Knick nach rechts machte. Als Simon um die Ecke bog, blieb er abrupt stehen und erhob seine Hände.

»Herr Simon Stark, ich grüße Sie.«

Jones stand hinter einem intensivmedizinischen Bett. Darin lag, angeschlossen an zahlreiche Sensoren und Schläuche, Sophie. Der Alte war unbewaffnet, aber er hatte seine Hand am Ventil eines Infusionsbeutels, dessen Zugang in Sophies Handrücken steckte.

»Kaliumchlorid«, erklärte Jones leichthin, als er Simons alarmierten Blick bemerkte. »Ist eine ganz saubere und humane Sache. Ich bin kein Freund von Blutbädern, müssen Sie wissen.«

Simon senkte seine Stimme zu einem bedrohlichen Knurren. »Wenn Sie ihr etwas antun, töte ich Sie. Und ich bin ein Freund von Blutbädern.«

Jones lachte schallend. »Sie verkennen die Situation vollkommen, junger Mann. Selbst wenn ich Ihre Freundin jetzt umbringen würde, könnten Sie mir gar nichts anhaben. Sie kommen ohne mich nie mehr aus diesem Raum heraus. Ich fürchte, ich bin der einzige Mensch, der den Code für die Schleuse kennt.«

Simon ließ sich nicht beirren. »Ich habe die Akte, Sie haben Sophie. Machen wir den Deal jetzt oder nicht?«

Jones strahlte ihn an. »Selbstverständlich machen wir den. Ich möchte Sie nun bitten, die Unterlagen zur Prüfung an meinen Mitarbeiter zu übergeben. Dr. Wilson, wären Sie so freundlich?«

Aus dem Nebenraum trat der Mann ein, dem Simon bei seiner Flucht aus diesem Gebäude die Akte abgenommen hatte. Jetzt nahm er sie von ihm wieder in Empfang. Während der Wissenschaftler die Unterlagen gründlich durchsah, spürte Simon den misstrauischen Blick des verrückten Milliardärs auf sich ruhen. Er wusste, dass Sophie in dem Augenblick tot wäre, in dem Wilson seinem Boss ein Problem mit der Akte signalisierte. Es war goldrichtig gewesen, keinen Täuschungsversuch zu unternehmen.

Nach einigen Minuten sah der Doc von den Papieren auf und hob den Daumen. Simon atmete erleichtert auf, obwohl er ja wusste, dass mit der Akte alles in Ordnung war. Auch Jones schien bester Stimmung zu sein. Er ließ sich die Akte bringen und nahm sie beinahe zärtlich in Empfang. Dann sah er wieder Simon an.

»Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer Entscheidung, Herr Stark. Durch mich wird dieses Wissen die Welt, wie wir sie kennen, revolutionieren. Ein bisschen schade, dass Sie sich an diesen Veränderungen gar nicht werden erfreuen können.«

Simons Herz setzte einen Schlag aus. Danach begann Adrenalin, seinen Körper zu fluten.

»Wir hatten einen Deal, Sie Schwein«, rief er und setzte zum Sprung an. Doch Jones hob warnend den Zeigefinger und deutete dann mit missbilligendem Kopfschütteln auf das Ventil, das er noch immer mit der anderen Hand hielt.

»Kaliumchlorid, schon vergessen?«

»Sie töten uns sowieso«, presste Simon wütend hervor und ballte die Fäuste. Doch etwas sagte ihm, dass Jones noch nicht alle Karten aufgedeckt hatte, weshalb er sich noch zügelte.

»Wer hat denn gesagt, dass ich unseren Deal nicht einhalte und Sie beide töten will?«

Simon verstand nicht, worauf der Kerl hinaus wollte. Für ihn klang es wie wirres Gerede. »Wovon sprechen Sie, Jones? Töten Sie uns, oder lassen Sie uns gehen? Mehr Möglichkeiten gibt es nicht. Ist eine ganz einfache Frage.«

Wieder dieses missbilligende Kopfschütteln. »Star, Stark, Stark, was mache ich nur mit Ihnen? Es gibt doch mehr als schwarz und weiß auf der Welt. Ich bin ein Ehrenmann, und natürlich lasse ich Ihre Freundin gehen. Nur Sie werde ich töten.«

Simon war sprachlos. Ihm drehte sich der Kopf.

»Sehen Sie, Ihr Leben, Herr Stark, war nie Teil der Abmachung. Die Formel gegen Ihre Freundin. Dazu stehe ich. Sie hat einfach nicht die Mittel, mir später gefährlich zu werden, wenn sie wieder auf dem Damm ist. Sie aber wären ein unkalkulierbares Risiko für mich, solange Sie leben. Ich kenne Typen wie Sie. Wadenbeißer, Kampfterrier – nennen Sie es, wie Sie wollen. Als taktisch geschulter Soldat – ja, das habe ich herausgefunden – sollten Sie meine Entscheidung verstehen.«

Und das tat Simon. Er konnte dieser kalten Logik tatsächlich folgen. Sein Leben für das von Sophie. Er schluckte. Wenn es so sein sollte, dann war er bereit.

»Einverstanden«, krächzte er mit trockenem Mund. Er würde es durchziehen. Die körperlichen Symptome der Todesangst fluteten ihn trotzdem. Ohne die Prothesen wäre sein Gang sicher wankend gewesen, doch so ging er mit festen Schritten und klopfendem Herzen auf Jones zu, der ihn heranwinkte.

Der Milliardär deutete auf einen zweiten Infusionsbeutel und Simon nickte.

»Wilson, kommen Sie und machen Sie Ihre Arbeit«, rief Jones, doch jetzt ohne jede Heiterkeit in der Stimme. Der Wissenschaftler kam widerstrebend zu ihnen.

»Legen Sie ihm den Zugang«, kommandierte Jones.

»Ich kann das nicht tun. Das ist Mord«, protestierte der Doktor weinerlich. Das brachte Jones aus der Fassung. Blitzartig zog er eine Pistole aus seinem Jackett und richtete sie auf seinen Mitarbeiter.

»Ich mache es selber. Hören Sie? ICH mache es«, schrie Simon mit immer noch erhobenen Händen. »Sie müssen heute niemanden mehr umbringen, Jones«, flüsterte er jetzt beschwörend. »Nicht mal mich. Ich mache alles allein. Einverstanden?«

Das nötigte dem Mann offenbar Hochachtung ab, denn er senkte die Waffe und musterte Simon wie ein Weltwunder.

»Das habe ich an Soldaten nie begreifen können – die Bereitschaft, das eigene Leben hinzugeben für irgendjemanden oder irgendetwas. Das ist verrückt, aber ich habe höchsten Respekt davor.«

Simon würdigte ihn keiner Antwort, sondern griff nach der bereitliegenden Kanüle und führte sie in eine Vene auf seinem linken Handrücken ein. Dann verband er sie mit dem Schlauch des Infusionsbeutels. Als er fertig war, deutete er stumm auf Sophies Hand, doch Jones schüttelte den Kopf.

»Erst, wenn das Zeug in Ihrem Kreislauf ist, Stark. Wenn Sie es tun, haben Sie mein Wort, dass Ihre Freundin leben wird.«

In diesem Augenblick hasste Simon diesen Mann, wie er nie zuvor jemanden gehasst hatte. Nicht, weil er ihm das Leben nahm, sondern weil er ihm all die Jahre an der Seite von Sophie nehmen würde, die er sich so sehr gewünscht hatte.

Simon drehte das Ventil auf. Die klare Flüssigkeit floss durch den dünnen Schlauch. Schon war es in der Kanüle. Jetzt hatte er nur noch Sekunden zu leben, doch er verbot sich, es zu realisieren. Stattdessen sah er Jones direkt in die Augen und sagte: »Es ist noch nicht vorbei.«

Dann setzte sein Herzschlag aus und Simon starb.