Kapitel 6

London, Camden Market 20.55 Uhr GMT

 

Der Mann im Anzug hatte den ganzen Tag gebraucht, um die Spur wieder aufzunehmen. Der Zugriff im Kaufhaus war erschreckend schiefgelaufen, und die ersten zwei Stunden konnte ihm niemand seiner Leute erklären, was genau vorgefallen war. Als das dann feststand, konnte er sich immer noch keinen Reim auf das Wie machen. Erst, als er alle seine internationalen Kontakte aktiviert hatte, begann sich das Puzzle zusammenzufügen. Der überhebliche Nerd von der Party hatte Unterstützung bekommen. Der Mann wurde zunächst als Mutant von Hamburg identifiziert. Jedenfalls wurde er so in einem viel beachteten Internetvideo genannt, weil er mit scheinbar übermenschlicher Geschwindigkeit durch die Stadt rennend gefilmt worden war. Das war schon eine Weile her, aber seine Informanten konnten mehr über diesen Mann ausgraben. Offenbar war er ein ehemaliger deutscher Elitesoldat, der zunächst auf eigene Rechnung Bösewichte gejagt hatte und heute im Dienst des deutschen Verfassungsschutzes stand. Warum das alles so kompliziert geworden war, wusste der Mann im Anzug nicht, aber im Grunde war ihm das auch scheißegal. Er wollte diese Formel, und die würde er bekommen. Alles andere war unwichtig.

Wiedergefunden hatten sie die Flüchtigen, weil sie mit dem Verfassungsschutz zu tun hatten. Dorthin hatte man exzellente Kontakte, sodass die aktuelle Mission des Ex-Soldaten Simon Stark schnell aufgedeckt war. Die dazugehörige Hotelreservierung hatte der Kontakt gleich mit den Missions-Details geliefert.

Der Anzugmann stand seit zwanzig Minuten an diesem Chinese Food Stand und knabberte zur Entspannung an ein paar Hühnerbeinen herum, während er das Hotel auf der anderen Seite nicht aus den Augen ließ. Da sich nichts tat, erlaubte er sich, die Gedanken schweifen zu lassen. Simon Stark sollte angeblich militante Neonazis in London infiltrieren. So lautete zumindest die offizielle Mission.

»Das ist Bullshit«, flüsterte er und spuckte einen Knochensplitter aus, den er versehentlich vom Hühnerbein genagt hatte. Wenn das so war, warum traf er sich dann hier mit dem Nerd, nachdem der die Formel an sich genommen hatte?

Es ergab alles keinen Sinn.

Plötzlich ging drüben die Eingangstür zum Hotel auf und drei Männer traten auf die Straße. Es waren Simon Stark, der Nerd und eine dritte, nicht identifizierbare Person. Der Anzugträger warf seinen abgenagten Hühnerfuß zur Seite und hängte sich mit einigem Abstand an das Trio dran.

Die Tasche trug der Unbekannte. Das war interessant.

Nach zweihundert Metern trennte sich die Gruppe plötzlich. Der Soldat und der Nerd betraten ein Restaurant, während der Mann mit der Tasche über die Straße lief und sich an eine Bushaltestelle stellte.

»Komm zu Papa«, flüsterte der Mann im Anzug erregt und beschleunigte seine Schritte.

***

 

»Bevor wir jetzt da raus gehen, Martinus: Was wollen Sie mit den Dokumenten? Ragnar hat Ihnen doch erklärt, dass sie unvollständig sind.«

»Das wissen Sie und das weiß ich«, entgegnete Martinus. Aber raten Sie mal, wer das nicht weiß und richtig heiß darauf ist.«

Simon verstand nicht gleich, worauf der Agent hinaus wollte, doch dann fiel der Groschen doch noch.

»Sie wollen Müller damit irgendwie reinlegen, habe ich Recht? Aber wie?«

Martinus grinste hinterhältig. »Wissen Sie, Stark – ich werde ihr einfach all das erzählen, was Sie beide mir erzählt haben. Und sie wird mir trotzdem nicht die Augen auskratzen, sondern mir den Hintern küssen. Den Haken an der Sache werde ich ihr nämlich verschweigen.«

»Und dann?« Simon kam nicht ganz mit.

»Sie wird Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um diese Formel zu verifizieren und sie anwendbar zu machen. Und sie wird sich damit vollkommen blamieren. Wenn sie einer solchen Fehlinformation aufsitzt, wird sie in ihrem Job kaum noch zu halten sein.«

Simon pfiff anerkennend durch die Zähne. »Und dann stehen Sie bereit, um sie zu beerben.«

»Wer sonst? Ich war immer in alle Missionen eingeweiht, kenne die Abteilung wie meine Westentasche und werde vor allem derjenige sein, der beim Geheimdienstausschuss frühzeitig Zweifel anmeldet, was die Operation London betrifft.«

»Der Teil Ihres Planes gefällt mir. Aber sagen Sie mir auch, was Sie jetzt mit den Dokumenten vorhaben? Es gefällt mir nicht, dass Sie damit allein durch die halbe Stadt fahren wollen.«

»Die Story braucht noch etwas mehr Fleisch, damit Müller anbeißt, und das verschaffe ich ihr jetzt.«

»Sie sprechen in Rätseln«, beschwerte sich Simon, doch Martinus ließ sich nicht beirren.

»Vorläufig ist das besser so. Sie werden es bald verstehen. Jetzt müssen wir gehen. Draußen trennen wir uns. Gehen Sie mit Ihrem Freund etwas essen. Ich nehme den Bus.«

Simon stimmte widerwillig zu. Martinus hatte sich als Verbündeter angeboten, statt Ragnar und ihn ans Messer zu liefern. Da musste er ihm wohl oder übel ein Stück weit vertrauen und ihn machen lassen.

Gemeinsam verließen sie das Hotel und trennten sich ein Stück die Straße runter. Während Martinus sich an die Haltestelle stellte, ging Simon mit Ragnar in ein Lokal und bestellte für beide etwas zu trinken.

»Worüber habt ihr geredet?«, wollte Ragnar wissen, nachdem sie sich gesetzt hatten.

»Wenn ich das so genau wüsste«, antwortete Simon. »Wir können nur hoffen, dass Martinus weiß, was er tut. Wir können jetzt erst einmal nichts unternehmen. Martinus ist am Zug.

***

Die Aktentasche an der Bushaltestelle zu entwenden, war zu riskant. London wimmelte nur so von Polizei und Kameras, und ein Raub an einem so belebten Ort war ein weiteres unkalkulierbares Wagnis, von denen er schon zu viele eingegangen war.

Als der Bus kam, beeilte sich der Mann im Anzug daher, ebenfalls zur Haltestelle zu gelangen und mit dem Taschenträger einzusteigen. Früher oder später würde sich eine gute Gelegenheit ergeben.

Nach einer halben Stunde begann er, sich zu fragen, wohin die Fahrt überhaupt gehen sollte. Der Typ stieg dauernd aus und um. Er wechselte die Busse und Bahnen scheinbar willkürlich und alles in allem waren sie in der ganzen Zeit nicht aus einem wenige Kilometer umfassenden Radius rund um das Hotel hinausgekommen.

Letztlich landeten sie beim Highgate Cemetry, der im gleichen Stadtteil lag wie das Hotel. Auf direktem Weg hätten sie für die knapp drei Kilometer kaum eine Viertelstunde benötigt, schätzte der Anzugträger.

Der Typ mit der Aktentasche passierte das Eingangstor des Friedhofes und ging zügig den Hauptweg entlang. Diese Gelegenheit war einfach zu günstig, um sich noch lange Gedanken darüber zu machen, was der Mann hier überhaupt wollen konnte. Der Friedhof bot eine Fülle von Möglichkeiten, jemanden an einem schlecht einsehbaren und um diese Zeit kaum frequentierten Ort abzupassen und auszurauben.

Da bog der Kerl auch schon in einen unbeleuchteten Nebenweg ab. Der Anzugträger beschleunigte seine Schritte. Dort, abseits des Hauptweges, zwischen hohen Hecken und alten Grabsteinen, würde er seine Chance nutzen. Welche Ironie, dass er das Geheimnis des ewigen Lebens ausgerechnet auf einem Friedhof in seinen Besitz bringen würde.

***

Auf der Fahrt vom Flughafen zum Hotel war Martinus nachlässig gewesen. Stark hatte ihn auf den Verfolger aufmerksam gemacht, den er überhaupt nicht bemerkt hatte. Das würde ihm nicht noch einmal passieren. Heute war er von vornherein darauf gefasst, dass sich jemand an seine Fersen heften würde. Alles andere wäre eine herbe Enttäuschung gewesen.

Schon beim Einsteigen in den Bus hatte er einen Mann im Anzug gesehen, der quer über die Straße geeilt war, um den Bus ebenfalls noch zu erwischen. Martinus hatte ihn unauffällig im Auge behalten und sofort erkannt, dass der Fremde sich im Fahrzeug umgesehen hatte, nachdem er eingestiegen war. Nachdem er in Martinus Richtung geblickt hatte, bestand kein Zweifel mehr, dass er seinetwegen mitgefahren war. Da war dieser Sekundenbruchteil, in dem seine Mimik und seine Körpersprache ihn verraten hatten. Martinus wusste, wann er jemandes Interesse hatte, und dieser Typ im Anzug war ganz eindeutig an ihm interessiert.

Ihn zunächst mit häufigem Umsteigen in die Irre zu führen, war eine gute Möglichkeit, seine Aufmerksamkeit über eine längere Zeit zu strapazieren und ihn ungeduldig zu machen. Umso leichter würde Martinus ihn später hinters Licht führen können.

Jetzt, auf dem dunklen Friedhof, konnte Martinus nur hoffen, dass der andere noch an ihm dran war. Er hatte sich jetzt länger nicht mehr vergewissert, ob er noch verfolgt wurde. Zu groß erschien ihm das Risiko, den Verfolger zu warnen, dass er entdeckt worden war.

Als er jetzt in den dunklen Seitenweg abbog, riskierte er zumindest einen flüchtigen Seitenblick in die Richtung, aus der er gekommen war. Er selbst war in diesem Moment außerhalb des Lichtkegels der nächsten Laterne. Sein Verfolger dagegen durchschritt gerade einen beleuchteten Bereich, als Martinus hinsah. Er war also noch an ihm dran. Das war gut.

Er tastete noch einmal nach seiner Sig Sauer im Holster unter dem Jackett. Den Besitz dieser Waffe würde er seinen Vorgesetzten später erklären müssen. Ebenso, wie er sie mit an Bord des Flugzeuges nach London hatte bringen können. Dienstwaffen waren bei seinem Landesamt für Mitarbeiter nicht vorgesehen. In den südlichen Bundesländern war das teils anders geregelt. In Hamburg dagegen hielt es die Behörde für unnötig. Diese Sesselfurzer verlangten allen Ernstes, dass die Agenten Rockerclubs, Neonazigruppen und andere Organisationen ohne jede Eigensicherung infiltrieren und ausspähen sollten. Nun, Martinus hatte nicht vor, mit einem Loch im Kopf zu enden, nur weil er im falschen Bundesland arbeitete.

Knapp fünfzig Meter und zwei Abzweigungen weiter fand Martinus die perfekte Stelle. Ein mannshoher, verwitterter Grabstein ragte etwas zurückgesetzt am Rand des schmalen Weges auf. Er glitt dahinter, zog und entsicherte seine Waffe und lauschte in die Dunkelheit.

Sekunden später hörte er tatsächlich schnelle Schritte und ein angestrengtes Atemgeräusch näherkommen. Martinus wartete ab, bis die Schritte auf Höhe seines Versteckes ankamen, und trat dann hinter seinem Verfolger leise auf den Weg.

»Die Hände nach oben und ruhig stehen bleiben«, raunte er dem Anzugträger zu. Der blieb wie erstarrt stehen und hob nach einer Schrecksekunde ganz langsam die Arme in die Höhe.

»Darf ich mich umdrehen?«, fragte er mit ausgesuchter Höflichkeit und ruhiger Stimme.

Bei dem Kerl musste Martinus aufpassen. Die Situation schien ihn nicht aus der Ruhe zu bringen, was auf einen Profi schließen ließ.

»Ich bevorzuge es, wenn Sie zunächst so bleiben«, antwortete Martinus ebenso höflich. Dieses Spiel beherrschte er auch.

»Sie wollen den Inhalt der Aktentasche, nehme ich an?«

»Woher wussten Sie, dass ich Ihnen folgen würde?«, fragte der Anzugmann zurück, statt zu antworten.

»Ihre Leute hatten uns bereits seit unserer Ankunft in London im Visier. Ich war nicht so naiv, zu glauben, dass wir Sie in diesem Kaufhaus endgültig abgeschüttelt hätten.«

»Und was jetzt? Erschießen Sie mich?« Der Mann drehte sich langsam zu Martinus um. »Wenn ja, will ich Ihnen in die Augen sehen. Wenn nicht, dann werden Sie es auch nicht tun, weil ich mich umdrehe.«

Martinus Hand zitterte, als er den Griff der Pistole fester umklammerte. Der Typ spielte Psychospielchen mit ihm. Das gefiel ihm nicht.

»Sie haben noch nie jemanden erschossen, nicht wahr? Was sind Sie? Deutscher? Vom Bundesnachrichtendienst? Verfassungsschutz sogar?«

Martinus räusperte sich nervös.

»Also Verfassungsschutz. Tatsächlich? Nun, ich frage mich, welche Bedrohung ich für die deutsche Verfassung darstellen soll. Vor allem frage ich mich, was Ihre Behörde mit diesen Dokumenten zu schaffen haben könnte. Wissen Sie, wenn ich darüber nachdenke, komme ich zu einem merkwürdigen Schluss. Sie handeln hier auf eigene Faust.«

Martinus machte einen schnellen Schritt auf den Mann zu und drückte ihm den Lauf der Pistole gegen die Stirn.

»Dann ist Ihnen ja auch klar, dass ich keinen hinderlichen Vorschriften unterliege, Sie Klugscheißer. Ich kann Sie einfach abknallen und mir eine schöne Geschichte dazu ausdenken.«

Der Andere grinste ihn höhnisch an. »Das würde Ihnen mehr Probleme bereiten als lösen, mein ungestümer Freund. Ich dagegen habe tatsächlich etwas zu gewinnen.«

Martinus wusste nicht, worauf der Typ hinaus wollte. Er sah ihn fragend an.

»Ich habe nichts bei mir, was Sie brauchen. Sie haben aber etwas, das ich unbedingt will.«

Jetzt grinste Martinus. »Nein, habe ich nicht. Sie glauben nur, ich hätte etwas sehr Wertvolles.«

»Weil es nur eine Hälfte der Unterlagen ist? - Jetzt müssten Sie Ihr Gesicht sehen. Ja, ich weiß, dass Sie nicht im Besitz der ganzen Information sind.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte Martinus überrascht und frustriert zugleich.

»Weil wir die andere Hälfte haben«, entgegnete der Anzugträger und trat dem völlig überrumpelten Agenten mit einem ansatzlosen, blitzschnellen Tritt die Waffe aus der Hand. Der folgende Kampf zeigte Martinus in Sekundenschnelle seine Grenzen auf. Er hatte sich immer für gut trainiert und kampferprobt gehalten, doch dieser Kerl zerlegte ihn in Sekunden.

Als er nach einigen Minuten benommen wieder zu sich kam, lag er in einer Lache seines eigenen Blutes und sein ganzer Körper schmerzte, als sei er unter eine Dampfwalze geraten. Die Aktentasche war fort.

Martinus schleppte sich stöhnend zurück zum Hauptweg. Zwischendurch verlor er immer wieder beinahe das Bewusstsein. Der Kerl hatte ihm mit ziemlicher Sicherheit die Nase und das Schlüsselbein sowie ein paar Finger gebrochen. Bei seinen Rippen war er sich nicht sicher. Sein Gebiss dagegen schien die Attacke wie durch ein Wunder unbeschadet überstanden zu haben, auch wenn seine Lippen aufgeplatzt und geschwollen waren.

Als er nach einer gefühlten Ewigkeit wieder einen beleuchteten Bereich des Friedhofes erreichte, war er am Ende seiner Kräfte. Irgendjemand würde ihn schon finden. Martinus schloss die Augen und ließ sich in die Ohnmacht fallen.

***

Simon und Ragnar saßen schon geschlagene zwei Stunden in dem Laden und warteten auf ein Lebenszeichen von Martinus.

»Der hat uns verarscht«, mutmaßte Simon. »Der ist mit den Dokumenten geradewegs zu Müller, wo er uns denunziert und die Formel noch als Bonus serviert. Der versucht einfach, seinen Arsch zu retten, ohne in Müllers zu treten.«

»Genau«, stimmte Ragnar schlecht gelaunt zu. »Der tritt seiner Chefin nicht in den Arsch, der kriecht ihr rein. Wie vorher eben.«

Da klingelte Simons Handy. Angespannt riss er es ans Ohr und nahm den Anruf entgegen. Wer immer dran war – es bedeutete vermutlich nichts Gutes.

»Hallo?«

Außer einem Röcheln war zunächst nichts zu hören.

»Wer ist da? Verarschen Sie mich nicht.«

Ragnar sah ihn gespannt an. Als sich dann Martinus meldete und mit brechender Stimme berichtete, entgleisten Simon die Gesichtszüge, sodass auch Ragnar sofort alarmiert war.

»Halten Sie durch, Martinus. Wir schicken einen Krankenwagen zu Ihnen. Das wird schon wieder. Ich bleibe dran, bis man Sie gefunden hat.«

Simon hielt das Mikrofon des Handys kurz zu, als er sich an Ragnar wandte. »Ruf einen Krankenwagen und schick ihn zum Highgate Cemetery. Auf dem Weg hinter dem Haupteingang liegt Martinus mit wahrscheinlich üblen Verletzungen. Alle Weitere erkläre ich dir hinterher. Los jetzt!«

Dann setzte er das Gespräch mit Martinus fort. Eigentlich war es mehr ein Monolog, da der Agent immer wieder nahe dran war, weg zu driften und das Bewusstsein zu verlieren. Simon wusste, dass die Chancen besser standen, wenn es ihm gelang, den Mann wach zu halten, bis Hilfe eintraf. Ragnar rief derweil den Notruf und schilderte, ohne seinen Namen zu nennen, die Situation und legte dann schnell wieder auf.

»Sie sind unterwegs«, teilte er Simon mit, der erleichtert nickte und die guten Neuigkeiten sofort an Martinus weitergab.

Ein paar Minuten später hörte Simon durch das Telefon, wie die Sanitäter laut rufend den Ort des Geschehens erreichten.

»OK, Martinus, wir legen jetzt beide auf. Werden Sie gesund. Wir kümmern uns jetzt allein um die Sache. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe und Ihr Vertrauen. Ich werde das nicht vergessen.«

Er legte das Telefon auf den Tisch und atmete zitternd aus.

»Verdammte Scheiße«, flüsterte er. Ragnar legte seine Hand auf Simons Schulter und sah ihn prüfend an.

»Alles in Ordnung, Mann? Martinus wird es überstehen. Hilfe ist da. Du kannst dich entspannen, du hast doch alles getan, was du konntest.«

Doch Simon schüttelte den Kopf und zitterte immer noch leicht. »Ich kann mit so was nicht umgehen. Du kannst mir zehn Mann auf den Hals hetzen oder mich in einem Kriegsgebiet aussetzen – alles im grünen Bereich. Ich kann mich meiner Haut wehren. Aber das …«

Ragnar glaubte zu verstehen.

»Du hättest nichts tun können. Martinus ist auch ein Profi und er hat auf eigene Faust gehandelt. Du warst nicht für ihn verantwortlich. Und nebenbei: Wo war er überhaupt? Was hat er gemacht?«

Natürlich hatte Ragnar Recht. Nur machte es die Sache nicht besser.

»Ich hatte schon lange nicht mehr ein so starkes Verlangen, mich zu besaufen«, flüsterte er und bekam eine Gänsehaut. Dieser Dämon war immer noch in ihm. Hörte das denn niemals auf? Da traf ihn Ragnars flache Hand im Gesicht.

»Verdammt, reiß dich zusammen, Simon Stark«, zischte der ihn an. »Du redest jetzt mit mir und danach unternehmen wir etwas. Wenn du dich danach immer noch in den stinkenden Alki von früher zurückverwandeln willst, dann von mir aus. Aber jetzt brauche ich dich hier mit einem klaren Kopf.«

Simon rieb sich verwundert die Wange und starrte seinen Freund mit großen Augen an.

»Mein Gott, es tut mir leid. Danke, dass du mir den Kopf zurechtgerückt hast. Und beim nächsten Mal darfst du mir gleich die Nase brechen.«

Ragnar lachte. »Das lasse ich schön bleiben. Ich hatte schon bei der Ohrfeige die Hosen voll. Aber was ist jetzt mit Martinus?«

»Er wurde überfallen und man hat ihm die Dokumente gestohlen. Der Dieb hat behauptet, die andere Hälfte schon zu besitzen.«

Diese Nachricht traf Ragnar wie ein Faustschlag. Sein entsetztes Gesicht sprach Bände.

»Weißt du, was das bedeutet, Simon?«

»Dass wir den Dieb finden müssen, nehme ich an«, entgegnete er, ohne zu begreifen, warum sein Freund so aufgeregt war. »Aber das ist doch kein Grund, auszuflippen. Martinus ist in Sicherheit und sonst droht auch keine Gefahr. Was ist los mit dir?«

»Was mit mir los ist? Denk doch mal einen Augenblick nach. Wer dieses Wissen besitzt und keine guten Absichten hat, ist gefährlicher als jeder Bombenleger.«

Simon begriff nicht und hob ratlos die Augenbrauen.

Ragnar seufzte. »Wenn dieses Wissen exklusiv in den Händen skrupelloser Menschen liegt, dann können die sich die ganze Welt untertan machen. Sie haben dazu ewig Zeit, denn sie sterben nicht. Sie können sich jeden mächtigen Mann und jede mächtige Frau dieses Planeten kaufen, weil jeder Mächtige sich insgeheim nach Unsterblichkeit sehnt. Es wird die Sterblichen und die Unsterblichen geben, verstehst du? Eine neue Elite würde entstehen. Eine Herrenrasse, gegen die die Nazis nur ein Fliegenschiss gewesen sein werden.«