Kapitel 9

London, Geheimlabor Jonathan Jones, 06. Mai, 15:07 Uhr GMT

 

»Wie lange brauchen Sie, um aus den Informationen etwas zu machen, das funktioniert?«, fragte Jones seinen Laborleiter, der ihn hilflos ansah.

»Im Grunde könnten wir heute noch anfangen, aber ich muss dringend davon abraten. Das Verfahren ist hoch spekulativ und unerprobt. Die Datenreihen sehen plausibel aus, aber niemand kann mit Sicherheit sagen, dass sie authentisch sind.«

Das war nicht das, was Jones hören wollte. Wissenschaft war etwas Großartiges, aber Wissenschaftler konnten eine Pest sein. Immerzu zögerten und zweifelten sie.

»Wo ist Ihr Pioniergeist, Doktor Wilson? Wenn wir es nicht machen, tut es niemand. Wir haben diese Formel und wir werden sie auch einsetzen.«

»Aber die Risiken«, wandte Wilson noch einmal schwach ein.

»Ich bin nicht der reichste Mann Großbritanniens geworden, weil ich jedem Risiko aus dem Weg gegangen bin, Sie Feigling. Tun Sie es einfach.«

Der Wissenschaftler zuckte resigniert mit den Schultern und warf noch einmal einen Blick auf die Daten.

»Also schön. Sie wollen es ja nicht anders. Wir beginnen mit der Telomerasegabe heute Abend. Vorher schleusen wir die modifizierte Gensequenz in Ihre Zellen ein, die dafür sorgen soll, dass unkontrollierte Zellwucherungen verhindert werden.«

Jones nickte zufrieden. »Dann los jetzt. Wo muss ich mich hinlegen?«

»Sie können auch sitzen«, entgegnete Wilson. »Es ist kein großer Eingriff. Die Gensequenzen werden Ihnen mithilfe retroviraler Vektoren verabreicht.«

Als er den ungeduldigen Gesichtsausdruck seines Chefs bemerkte, fügte er eilig hinzu: »Das bedeutet, Sie bekommen ein paar Spritzen.«

»Damit kann ich leben. Also los – schreiben wir die Menschheitsgeschichte neu.«

***

Hotelzimmer Simon 14:40 Uhr GMT

 

Die Zimmertür war nur angelehnt. In diesem Augenblick wusste Simon, dass sie ein ernstes Problem hatten. Er warf Sophie einen warnenden Blick zu und bedeutete ihr, ein paar Schritte von der Tür zurückzutreten. Simon stieß die Tür auf und bereitete sich darauf vor, angegriffen zu werden, sobald er den Raum betrat. Doch drinnen war niemand. Simon eilte ins Badezimmer und fluchte.

»Was ist?«, rief Sophie von draußen. »Ist er weg?«

Fassungslos und wütend starrte Simon auf die Fesseln, die der Killer zurückgelassen hatte. Die Plastikleine, mit der sie ihn an die Heizung gebunden hatten, lag fein säuberlich auf dem Boden. Auch die Fußfesseln hatte er zurückgelassen. Er musste sie aufgeknüpft haben. Simon konnte keine Schnittspuren an den Fesseln entdecken. Er wollte Sophie gerade zurufen, was los war, als sie auch schon den Kopf zur Tür hinein steckte.

»Er ist abgehauen? Wie konnte er das?«, fragte sie fassungslos.

»Das muss ein verdammter Houdini sein«, fluchte Simon und schlug frustriert mit der Faust gegen die Wand.

»Und was jetzt?«, fragte Sophie. »Wir müssen Martinus warnen. Der Killer könnte versuchen, ihn im Krankenhaus zu erwischen.«

Doch Simon glaubte das nicht. »Er wird erst mal Kontakt zu seinem Auftraggeber aufnehmen. Bis dahin ist Martinus relativ sicher, wo er ist. Wir müssen Jones finden.«

»Und wie willst du den finden? Wir wissen doch gar nichts über ihn«, gab Sophie zu bedenken.

»Wir nicht«, bestätigte Simon knapp und stürmte an Sophie vorbei aus dem Bad, durch das Zimmer und hinaus auf den Korridor. Sophie beeilte sich, ihm zu folgen. Als sie auf dem Flur ankam, hämmerte Simon bereits an eine Tür ein Stück den Gang hinauf.

»Ragnar, wach auf, verdammt noch mal. Ich bin es.«

Jetzt ging Sophie ein Licht auf. Natürlich: Ragnar war ja bei Jones zu Gast gewesen. Sie hatten bisher nur noch nie darüber gesprochen, wo das gewesen war. Sie ging zu Simon und horchte mit ihm gemeinsam an der Tür.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Ragnar stand tropfnass, in ein Handtuch gehüllt vor ihnen und starrte sie entgeistert an.

»Was ist los? Sind wir am Arsch? Müssen wir weg?« Der Nerd war völlig verängstigt. Seine bisherigen Erlebnisse hatten Spuren bei ihm hinterlassen und sein Nervenkostüm ziemlich strapaziert.

»Können wir reinkommen?«, gab Simon ungeduldig zurück.

»Natürlich, entschuldigt bitte.« Ragnar ging einen Schritt zur Seite und machte eine einladende Handbewegung. Als beide drin waren, streckte er noch einmal den Kopf aus der Tür und blickte nervös den Flur entlang. Dann schlug er die Tür zu und schloss von innen ab.

***

Er war angeschlagen, aber wieder frei. Die Fesseln loszuwerden, war lächerlich einfach gewesen. Dieser Stark wusste zwar, was er tat, aber gerade das hatte es leicht gemacht. Es waren professionelle, standardisierte Knoten, und genau auf die war er vorbereitet gewesen.

Der Anzugträger war kurz hin und hergerissen gewesen, als er das Hotel verließ. Einerseits musste dieser Agent noch ausgeschaltet werden, dem er die Akte abgenommen hatte, aber andererseits musste er seinem Boss Bericht erstatten. Letztlich würde Jones entscheiden müssen, was Priorität hatte. Also war er zur London Bridge gefahren und hatte den Aufzug zum Büro von Jones genommen. Doch die Empfangsdame teilte ihm mit, dass Jones nicht da sei. Wo er hin wollte, hätte er nicht hinterlassen. Daraufhin war er wieder abgezogen, denn er wusste, dass das nur eines bedeuten konnte. Er zieht es heute durch. Dann ist er im Labor.

Der Killer machte sich auf den Weg. Er brauchte neue Instruktionen, und ganz hinten in seinem Kopf tanzte die Sorge, dass sein Versagen ihn den Kopf kosten könnte.

***

»Und das ist alles passiert, während ich gepennt und geduscht habe«, flüsterte Ragnar erschüttert. »Was machen wir jetzt also?«

Simon sah auf die Uhr. »Du setzt dich mit Dawn in Verbindung. In zehn Minuten beginnt ihr Yoga-Training. Das bedeutet, dass du sie erreichen kannst. Hier, nimm mein Handy. Ihre Geheimnummer ist eingespeichert.«

»Und was soll ich ihr sagen?«, fragte Ragnar verständnislos.

»Ihr müsst zusammen irgendwas drehen, damit Müller und Petersen uns hier nicht in die Quere kommen, während wir es mit Jones aufnehmen. Wir wissen nicht, ob er nur diesen Typ hat, der Martinus überfallen hat, oder ob er eine ganze Armee aus dem Ärmel schütteln kann, wenn es drauf ankommt.«

»Aber wie sollen wir das anstellen?«, protestierte Ragnar und raufte sich die Haare.

»Lass das Dawns Sorge sein. Ihr wird schon was einfallen«, gab Simon überzeugt zurück. »Aber jetzt das Wichtigste: Wo finden wir Jones?«

»Er hat seinen Firmensitz und seine Privatwohnung in dem Wolkenkratzer an der London Bridge Station. Aber was wollt ihr da?«

»Diese verdammte Formel holen und sie vernichten.«

Ragnar warf theatralisch die Hände in die Höhe. »Bist du wahnsinnig? Du kannst diese Formel nicht vernichten. Die Menschheit hat ein Recht auf dieses Wissen.«

Sophie packte ihn energisch an den Schultern und zwang ihn, sie anzusehen. »Ragnar, was ist los mit dir? Diese Formel ist Teufelszeug. Kannst du dir vorstellen, was passiert, wenn irgendjemand die Kontrolle darüber bekommt? Wir können sie Jones vielleicht wegnehmen, aber solange sie nicht aus der Welt ist, wird es immer einen anderen Jones geben, der dafür über Leichen geht - kannst du das verantworten?«

Ragnar machte ein bockiges Gesicht. »Wie edel du bist, Sophie Palmer. Ich habe meine Eltern sterben sehen, als ich klein war. Sie waren noch ganz jung und hatten noch tausend Pläne. Meine Mutter hatte irrsinnige Angst, zu sterben, und weißt du was? Das habe ich auch. Diese Formel ist nicht nur gefährlich. Wenn du nur die Chancen erkennen könntest, wäre dir klar, dass sie ein Segen sein kann.«

»Das können wir später noch erörtern«, ging Simon energisch dazwischen. »Wir sind uns aber einig, dass Jones sie nicht haben soll, ja?«

Ragnar nickte misstrauisch.

»Also gut«, fuhr Simon fort. »Dann holen wir uns jetzt diese Formel und sehen anschließend weiter.«

»Ihr zerstört sie nicht?«, hakte Ragnar vorsichtig nach.

»Kann ich dir nicht versprechen, Kleiner. Aber wenn es möglich ist, setzen wir uns noch mal zusammen und entscheiden gemeinsam. Einverstanden?«

Dann fiel Simon plötzlich noch etwas ein.

»Ragnar, du hast doch erzählt, dass Greene die Methode an seinem Hund ausprobiert hat. Dawn muss unbedingt auch noch herausfinden, wo das Tier geblieben ist, und dann muss sie Mehmet hinschicken. Jemand anderen wird sie nicht mehr kontaktieren können. Mehmet muss dann eben nach London kommen – oder wohin auch immer der Hund gebracht wurde.«

Ragnar verstand. »Du willst wissen, ob die Sache funktioniert, damit du entscheiden kannst, was du mit der Formel tust, wenn du sie hast.«

Simon nickte zögerlich. »Ich glaube, wenn wir beweisen können, dass es nicht funktioniert, können wir wenigstens Müller und Petersen davon abhalten, uns auch noch zu jagen.«

»Aber es funktioniert ganz sicher«, rief Ragnar.

Simon sah ihn traurig an. »Ich weiß, dass du das unbedingt willst. Aber wenn auch nur die kleinste Chance besteht, dass die Methode gefährlich ist, dann müssen wir es wissen, damit wir dieses Wissen für uns nutzen können. Momentan solltest du dir lieber wünschen, dass die Formel ein Reinfall ist. Das würde unser kurzfristiges Überleben wesentlich wahrscheinlicher machen.«

Dem Hacker blieb nichts übrig, als zuzustimmen. Immerhin war Simon auf ihn eingegangen. Jetzt konnte er nur hoffen und bangen. Natürlich hatte Simon Recht, aber Ragnar wollte dennoch weiter daran glauben, dass Greenes Methode wirksam war.

»Also gut verschwindet schon. Gib mir das Handy, ich rufe Dawn gleich an.«

Simon gab es ihm, nickte knapp und verließ dann das Zimmer. Sophie verabschiedete sich mit einem Kuss auf die Stirn von ihrem guten Freund und folgte Simon.

***

»Schätzchen, wo steckst du? Schön, deine Stimme zu hören«, jubelte Dawn, als sie Ragnar am Telefon hatte. »Wie geht es Sophie und Simon?«

Ragnar hatte Mühe, gegen ihren Überschwang anzukommen und sie zum Zuhören zu bringen, doch schließlich nahm sie sich zusammen und lauschte dem, was Ragnar zu berichten hatte.

Er vergaß auch nicht, Dawn auf Simons Wunsch bezüglich Greenes Hund hinzuweisen.

Nach wenigen Minuten war er fertig und wartete nun auf ihre Antwort. In Dawns Kopf hatte es schon zu rattern begonnen, kurz, nachdem Ragnar angefangen hatte, zu sprechen. Jetzt hatte sie das Problem vollständig erfasst und arbeitete bereits an einem Plan.

»Dawn? Bist du noch dran?« Ihr Freund klang beunruhigt.

»Bin schon bei der Arbeit, Schatz. Gib mir eine Minute. Ich muss mein hübsches Köpfchen ein bisschen anstrengen.«

»Ich vermisse dein hübsches Köpfchen sehr«, flüsterte Ragnar und Dawn kam kurz aus dem Konzept. Sie vermisste ihn auch – schmerzlich sogar. Doch jetzt war nicht der Zeitpunkt für Sentimentalitäten.

»Später, mein Geliebter«, flötete sie neckisch. »Bring mich aber jetzt nicht durcheinander. Es ist schon schwer genug, dich nicht sehen zu können.«

Schließlich war sie so weit. Sie hatte den Zugang zu Müllers Mail Account geöffnet und nachgesehen, ob sie in den letzten Stunden Mails mit Bezug zu Jones bekommen hatte. Tatsächlich fand sich eine gerade mal zehn Minuten alte Nachricht eines Analysten an Müller. Sie hatte eine Anfrage bezüglich des aktuellen Aufenthaltsortes von Jonathan Jones gestellt.

Aufenthaltsort der Zielperson nicht feststellbar, lautete die Kernbotschaft. Es folgten eine Auflistung bekannter Adressen und ein Haufen anderer Informationen über Jones. Dawn fand, dass es lächerlich wenig war, was die Schnüffler vom Verfassungsschutz über Jones ad hoc herausbekommen hatten. Sie selbst hatte, noch während sie Müllers Korrespondenz durchgegangen war, in einem parallelen Suchprozess herausgefunden, dass Jones neben seinem offiziellen Firmensitz über ein Labor verfügte, was er aber offenbar verschleiern wollte. Gegenüber den britischen Finanzbehörden hätte diese Verschleierung vermutlich sogar funktioniert, wenn die Prüfung nicht allzu tief ginge, doch Dawn ließ sich nicht täuschen und fand die Adresse in einem Dschungel aus Beteiligungen und Strohmännern.

Einer Eingebung folgend sendete sie die Anschrift des geheimen Labors an Simons Nummer. Diese Information könnte ihm vielleicht nützlich sein.

Die Nachricht des Analysten löschte sie und mogelte stattdessen eine eigene Antwort unter Verwendung der Adresse des Geheimdienstlers in Müllers In box. Sie lautete jetzt:

Zielperson heute Vormittag vom Flughafen Heathrow Richtung Dresden geflogen. Vorher Telefonat mit folgendem Dresdner Anschluss. Hier fügte Dawn die Nummer von Braake ein.

Sie grinste zufrieden und meldete sich wieder bei Ragnar.

»So, Süßer, bin fertig. Hör mal: ...« Sie schilderte ihm kurz, was sie gemacht hatte und las ihm die Mail vor. Als sie fertig war, hörte sie Ragnar am anderen Ende der Leitung zufrieden brummen.

»Du bist die Beste. Und kannst du jetzt noch Simons Extrawunsch erfüllen?«

Dawn seufzte. »Ich kann es versuchen. OK, sehen wir mal, was wir haben. Ich suche zunächst nach Ryan Greene und seiner Gruppe. OK, habe ich. Das sind also seine engsten Mitarbeiter. Es ist ein Schuss ins Blaue, aber wenn ich mich mit allen seinen Mitarbeitern in Verbindung setze, könnte jemand wissen, wo der Hund nach Greenes Ermordung hingekommen ist. Mehr kann ich jetzt nicht tun. Ich bleibe am Ball, Schatz. Jetzt muss ich ein paar Telefonate machen und dann ist meine unbewachte Onlinezeit auch schon rum. Wir hören frühestens morgen wieder voneinander.«

»OK, mein Mädchen, du machst das schon«, sagte Ragnar. Und dann fügte er mit flüsternd hinzu: »Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch, mein Held«, hauchte Dawn in den Hörer. Dann legte sie schweren Herzens auf.

***

Hamburg Airport, 06. Mai, 18:20 Uhr MEZ

 

»Ihr erstes Mal, junger Mann?« Die ältere Dame vom Nebensitz legte Mehmet eine Hand auf die Schulter. »Ist überhaupt nicht schlimm. Ich fliege andauernd und ich hatte erst eine Notlandung.«

Sie schmunzelte, doch Mehmet brach der Schweiß aus. Es war nicht sein erster Flug, aber er hasste das Fliegen. Da vorn saß jemand am Steuer, den er nicht kannte, und er selbst konnte nichts machen, als dazusitzen und zu hoffen, dass die Crew wusste, was sie tat.

Dawn hatte ihn am Telefon regelrecht bekniet, bis er sich überwinden konnte und zusagte. Die ganze Story klang zwar etwas wirr und er hatte sicher auch nur die Hälfte richtig verstanden, aber offenbar war es unumgänglich, dass er so schnell wie möglich nach London reiste.

Nun saß er hier und lenkte sich notdürftig von seiner aufsteigenden Panik ab, indem er in Gedanken immer wieder durchging, was er zu tun hatte.

Ein Taxi nach Greenwich nehmen. In die Burney Street. Da wohnt Curt Isle. Klingeln und nach dem Hund fragen. Rausfinden, wie es ihm geht. Hund abtasten und nach Geschwülsten suchen. Hund mitnehmen und zu Simon und Ragnar bringen.

Mehmet kam der Gedanke absurd vor, dass er als medizinischer Laie überhaupt in der Lage sein könnte, ein Krebsgeschwür bei einem Tier zu ertasten, aber er hatte den Auftrag angenommen und kam aus der Nummer jetzt nicht mehr raus.

***

London, Heathrow, 19:10 Uhr GMT

 

Mehmet war immer noch grün im Gesicht, als er beim Haltebereich für Taxis ankam. Entsprechend skeptisch sah der Fahrer ihn an, als er einstieg.

»Kotzen Sie mir nicht das Taxi voll«, blaffte der ihn an. Ragnar überhörte das geflissentlich und entgegnete: »Greenwich, Burney Street.«

Mit einem Schlag hellte sich die Miene des Chauffeurs auf. Für so eine lukrative Tour war er anscheinend bereit, über Ragnars Zustand hinwegzusehen.

In den folgenden neunzig Minuten wurde Mehmet immer klarer, wie gut diese Tour für seinen Fahrer war. Beim Blick aufs Taxameter wurde ihm fast schon wieder schlecht. Allein der Fahrpreis würde seine Kreditkarte schon glühen lassen. Wenn er dann noch bedachte, wie teuer London war, nach allem, was man so hörte, nahm er sich vor, Sophie später um einen Spesenausgleich zu bitten.

Nachdem sie angekommen waren und Mehmet mit blutendem Herzen den horrenden Fahrpreis beglichen hatte, sah er sich unschlüssig um. In der Theorie hatte es ganz simpel geklungen. Er würde bei diesem Curt Isle klingeln, ihm erzählen, dass er ein Freund von Ryan Greene sei und er sich nach dem Hund erkundigen wollte. Jetzt, da er fast am Ziel war, kamen ihm Zweifel. Würde der Mann ihm seine Geschichte abkaufen und ihn tatsächlich den Hund ansehen lassen? Mehmet hielt es plötzlich für viel wahrscheinlicher, dass ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen würde. Sein Englisch war furchtbar und die Story so dünn wie amerikanischer Kaffee. Wie sollte er so einen Fehlschlag Dawn erklären? Und wie würde sich das auf Simon und Sophie auswirken? Wenn er auch nicht alles verstanden hatte, wusste er doch, dass einiges davon abhing, ob er Erfolg hatte. Mehmet hatte ganz einfach Lampenfieber.

»Jetzt reiß dich zusammen«, flüsterte er sich zu. Das half ihm zumindest, sich in Bewegung zu setzen. Es nützte alles nichts – er musste das hier jetzt durchziehen.

Fünf Minuten später stand er vor der Wohnung von Curt Isle und drückte mit zitternden Fingern den Klingelknopf. Er bereitete sich darauf vor, Hundegebell zu hören, doch nichts geschah. Stattdessen nahm er nach einer gefühlten Ewigkeit ein schlurfendes Geräusch hinter der Tür wahr. Gleich darauf wurde sie dann geöffnet und eine alte Frau mit zerfurchtem Gesicht und strähnigen grauen Haaren sah ihn abwartend an.

»Sie wünschen?«, fragte sie in schwer verständlichem Englisch. Ihre undeutliche Aussprache führte Mehmet darauf zurück, dass sie offenbar ihr Gebiss nicht eingesetzt hatte.

Es dauerte deshalb etwas, bis er ihr klargemacht hatte, warum er da war. Mit Händen und Füßen ersetzte er die Vokabeln, die ihm fehlten, und schließlich zeichnete sich Verständnis im Gesicht der alten Dame ab.

»Sie wollen Ryans Hund holen«, sagte sie.

»Äh, nein, eigentlich will ich ihn nicht holen, sondern …«

Auf einmal wurden ihre Augen todtraurig und Mehmet vergaß, was er sagen wollte. Tränen schimmerten in ihren Augen, als sie ihm bedeutete, einzutreten. Sie ging auf wackligen Beinen voran und Mehmet folgte ihr durch einen windschiefen Korridor in Richtung Küche.

»Sie können ihn nicht mitnehmen«, schluchzte sie und blieb in der Küchentür stehen. »Sehen Sie, dann verstehen Sie es.«

Nervös und ängstlich drückte Mehmet sich an der Alten vorbei in die kleine Küche und sah sich um. Dann erstarrte er.

»Oh Gott, was ist das?«

In einem Weidenkorb vor dem Herd lag Greenes Hund auf einer versifften Decke. In dem Raum stank es erbärmlich und Mehmet wusste sofort, dass es der Hund war, von dem dieser Gestank ausging.

»Er ist so krank«, jammerte die Frau und wendete sich ab.

Mehmet aber konnte seinen Blick nicht von der armen Kreatur nehmen. Der kleine Beagle lag zitternd und völlig apathisch da. Sein Körper war übersät mit furchtbaren, offenen Geschwüren. Das Leid, das dieser kleine Kerl erduldete, musste unbeschreiblich sein. Mehmet hatte einen Kloß im Hals und ihm kamen die Tränen. Noch nie hatte er ein so tiefes Mitleid empfunden wie bei diesem Anblick.

»Was ist geschehen?«, flüsterte er heiser. Die alte Dame schluchzte wieder laut auf.

»Es hat vor zwei Wochen angefangen. Gleich, nachdem Ryan ihn hier abgegeben hatte. Ich habe es ihm noch nicht gesagt.« Sie schluckte und zog die Nase hoch. »Ich bringe es nicht übers Herz, ihn anzurufen. Er liebt diesen kleinen Kerl so sehr.«

Das war ein Albtraum. Die Frau war schon völlig am Boden, und jetzt stellte sich heraus, dass sie nicht mal vom Tod des Hundebesitzers gehört hatte. Wie stand sie überhaupt zu Greene?«

»Verzeihen Sie«, sagte er leise. »Darf ich fragen, wer Sie sind? Am Klingelschild steht Curt Isle.«

Jetzt drehte sie sich um und sah Mehmet mit verweinten Augen an. »Curt ist mein zweiter Mann. Ich bin Ryans Großmutter. Ich habe nach dem Tod meines ersten Mannes wieder geheiratet.«

Als sie Mehmets fragenden Blick bemerkte, setzte sie hinzu: »Mein Name stand nie an der Tür. Wir haben es am Anfang vergessen und dann kamen wir nie dazu, es zu ändern. Aber nach mir sucht niemand. Ich habe nur noch Ryan, und er weiß, wo er mich findet.«

Das war furchtbar. Mehmet wollte nur noch raus aus der Wohnung. Er konnte dieser hilflosen Frau doch nicht auch noch sagen, dass ihr Enkel tot war. Er wäre auch sofort verschwunden, aber da war noch dieser Hund. Er konnte ihn nicht einfach so zurücklassen und ihn weiter seinem Siechtum ausliefern. Also fasste er sich ein Herz und ging zu der alten Dame hinüber. Er nahm sie ungelenk in den Arm und flüsterte ihr zu. »Bevor ich gehe – ich möchte ihn erlösen. Ja?«

Wieder erschütterte ein Schluchzen den ausgemergelten, gebrechlichen Körper der Dame. Sie konnte nichts mehr sagen, doch Mehmet spürte, wie sie an seine Schulter gelehnt nickte. Mit pochendem Herzen löste er sich von ihr und ging langsam zu dem todkranken Beagle hinüber.

»Es ist ein Akt der Barmherzigkeit«, sprach er sich selbst Mut zu. Er wusste, was zu tun war, aber er hatte keine Ahnung, ob er es wirklich fertigbringen würde. Natürlich – er hätte die Dame bitten können, den Tierarzt zu rufen, damit er das Tier einschläferte, aber der hätte den Kadaver mitgenommen. Simon hatte aber darauf bestanden, dass Ragnar sich das Tier ansehen musste. Lebendig wollte Mehmet ihn aber keinesfalls durch die ganze Stadt karren.

So kniete er sich neben den kleinen Kerl, streichelte ihm vorsichtig über ein noch unversehrtes Stück Fell am Hinterkopf und flüsterte leise und beruhigend auf ihn ein.

Er betete, dass er es richtig machen würde. Alles in ihm sträubte sich dagegen, doch es musste sein. Blitzschnell nahm er den Kopf des Beagles in beide Hände und verdrehte ihn mit aller Kraft nach hinten. Ein hohes Fiepen und ein widerliches Geräusch von brechenden Knochen bohrten sich wie ein Messer in Mehmets Eingeweide. Er ließ den Hund los und sprang von sich selbst angeekelt auf. Der Hund lag mit verdrehtem Kopf und heraushängender Zunge bewegungslos in seinem Körbchen. Seine kleinen Pfoten zitterten noch, als flösse ein schwacher Strom durch seinen Körper. Dann war auch das vorbei.

Mehmet rannte zur Spüle und übergab sich. Kalter Schweiß bedeckte seinen ganzen Körper und ließ die Kleidung an seinen Armen und Beinen kleben. Dieses Zittern hatte ihn vollständig unter Kontrolle.

»Schnaps«, krächzte er verzweifelt. Tatsächlich brachte die Dame des Hauses ihm eine Flasche Bourbon und stellte sie vor ihm auf die Spüle. Sie streichelte seine Wange, als sie gerührt lächelnd sagte: »Sie haben ihn erlöst. Er ist jetzt an einem besseren Ort. Tausend Mal danke, mein lieber Junge.«

Dann schenkte sie ihm und sich selbst je ein großes Wasserglas voll und gemeinsam tranken sie gierig aus.

Der Alkohol brannte in der Kehle und die warmen Worte der alten Lady linderten seine Schuldgefühle. Beides zusammen ließ das Zittern weniger werden, und zwei Minuten später hatte Mehmet sich wieder einigermaßen im Griff.

Er sagte der Frau, dass er den Hund mitnehmen und für eine schöne Beisetzung sorgen würde. Er schwor sich, das auch wirklich zu tun. Ganz egal, was Ragnar mit dem Kadaver noch vorhatte. Hinterher würde er die Kreatur würdevoll bestatten.