Juli 1985

Seine Mutter war gerade mal fünfunddreißig Jahre alt. Verglichen mit seinen elf, war das natürlich steinalt, aber trotzdem: Seine Großeltern waren alle über siebzig und sie erfreuten sich guter Gesundheit. Warum nur musste diese schreckliche Krankheit ausgerechnet seine Mama aussuchen?

Ragnar wollte nicht in das Zimmer, in dem sie lag. Er konnte es nicht ertragen, sie so zu sehen. Der Krebs hatte ihr alles genommen, was sie ausgemacht hatte – ihr Lächeln, ihr Haar, ihre Figur und ihren Lebensmut. Es war alles so schnell gegangen. Vor nicht einmal fünf Monaten war Mama zum Arzt gegangen, weil sie Gewicht verlor und ihre Haut ganz gelbstichig war. Es ging ihr überhaupt nicht gut und sie hatte Angst.

Als sie vom Doktor zurück war, hatte sie sich in ihr Schlafzimmer eingeschlossen und war bis zum Abend, als Papa von der Arbeit kam, drin geblieben. Ragnar hatte sie weinen gehört. Sie hatte fast die ganze Zeit geweint, da drinnen. Ragnar hatte es die Kehle zugeschnürt, denn er hatte seine Mutter noch nie so erlebt.

Sie hatten ihm dann am nächsten Tag erklärt, dass Mama Bauchspeicheldrüsenkrebs hätte. Dass sie das nicht überleben würde, hatten sie ihm erst viel später erzählt, aber da hatte sein Herz es schon längst gewusst. Er hatte die Angst in den Augen seiner Mutter gesehen, und dieser Ausdruck war bis heute geblieben. Er war so unglaublich wütend. Was hatte seine Mutter denn verbrochen, dass sie so jung sterben sollte? Warum, um alles in der Welt, konnte sie nicht alt werden und ihr Leben genießen?

Und nun stand er da wie angewurzelt vor der Tür und konnte nicht hineingehen. Drin hörte er seine Eltern gemeinsam leise weinen. Er hätte in diesem Moment da reingehen und mit beiden kuscheln sollen. Er hätte sich verabschieden sollen. Stattdessen schlich er in sein Zimmer, schloss die Tür ab und lag bis zum nächsten Morgen wie betäubt auf seinem Bett. In dieser Nacht starb seine Mutter – viel zu jung und völlig verängstigt.

Als sein Vater ihn zu dem Bett führte, in dem ihr lebloser Körper lag, konnte er nicht weinen. Er stand da, starrte in dieses eingefallene, von Leid gezeichnete Gesicht und flüsterte. »Das ist nicht richtig. Sterben ist falsch. Ich hasse den Tod.«