Kapitel 2

04. Mai, 10.00 Uhr, Dresdner Büro von Frau Müller

 

»Sie hätten an den Zielpersonen dranbleiben sollen, Stark. Wahrscheinlich hätten die Sie direkt zu ihren Hintermännern geführt.«

Frau Müller, Simons Führungsoffizierin, schaffte es, diesen Tadel nicht wie einen Vorwurf klingen zu lassen.

In dem gleichen Ton hätte eine Lehrerin einem Schüler erklären können, dass die Mathe Aufgabe leider falsch gelöst war und er es beim nächsten Mal sicher besser machen würde, wenn er sich nur ein bisschen mehr Mühe gäbe.

Ihre ganze Erscheinung war auf den ersten Blick mütterlich und bieder. Einer Frau wie ihr traute man zu, Kuchen zu backen und Sofabezüge auszusuchen, aber nicht, eine Einheit gegen politischen Extremismus beim Geheimdienst zu leiten.

Doch davon ließ sich Simon schon lange nicht mehr täuschen. Das alles war nur Fassade. Ihr wahres Gesicht hatte sie gezeigt, als sie ihn und Dawn in dem kleinen Verhörzimmer in Hamburg kalt lächelnd vor die Wahl gestellt hatte, jahrelang im Knast zu verschwinden, oder sich ihr auf Gedeih und Verderb auszuliefern und ihr ihre Seelen zu verkaufen.

»Die waren so sternhagelvoll, dass die nirgends mehr hingegangen sind außer nach Hause, um ihren Rausch auszuschlafen«, widersprach Simon und erntete einen verächtlichen Blick.

»Das können Sie gar nicht wissen«, beharrte sie und erhob sich von ihrem Schreibtisch, vor dem er seit zehn Minuten stand wie ein Befehlsempfänger. »Wir werden das jetzt forcieren, Herr Stark. Da diese Leute Ihnen keinen Hinweis gegeben haben, wo sie sich gemeinhin tagsüber aufhalten, wir das aber durch unsere Observation wissen, inszenieren wir einen kleinen, aber nützlichen Zufall.«

Simon sah sie fragend an. Ihm gefiel die Idee nicht, sich in einen von Müllers Plänen einbinden zu lassen.

»Die Vereinbarung lautet, dass ich entscheide, wie ich bei der Infiltration der Gruppe vorgehe. Ich trage das Risiko und ich habe Erfahrung mit solchen Dingen.«

Müller schnaubte ärgerlich. »Das war keine Vereinbarung, sondern eine Arbeitshypothese. Wenn Sie nicht zu Potte kommen, hilft die Abteilung eben nach. Wo ist Ihr Problem?«

Simon war fassungslos. »Nicht zu Potte kommen? Das war mein allererstes Treffen mit Leuten aus dem Umfeld der Gruppe. Haben Sie gedacht, die präsentieren mir die ganze Organisation schon am ersten Abend auf dem Silbertablett?«

Müller sah ihn über den Rand ihrer Brille hinweg an und entgegnete: »Haben Sie in Ihren Jahren bei den Kommandospezialkräften etwa Zeit vergeudet, wenn Sie eine Mission hatten? Sehen Sie - das tue ich nämlich auch nicht. Wenn wir die Sache beschleunigen können, dann tun wir das. Ist das klar?«

Weiterer Widerspruch war ohnehin sinnlos, das wusste Simon aus Erfahrung. Also stimmte er widerwillig zu. »Wenn es sein muss. Wie soll denn dieser Zufall aussehen?«

»Sie bekommen heute Abend eine Adresse von uns. Halten Sie sich dort in der Nähe auf. Es wird der Treffpunkt der Skinheadbande sein, so viel kann ich verraten.«

»Und dann?« Simon war ungeduldig und ärgerlich, denn er sah Müller an, dass es ihr Spaß machte, ihn schmoren zu lassen.

»Dann halten Sie die Augen auf und reagieren auf das, was passiert«

»Geht das nicht etwas konkreter?«

»Aber Herr Stark«, antwortete sie tadelnd. »Sie wollen doch authentisch wirken. Wie wollen Sie das erreichen, wenn Sie von vornherein wissen, was passieren wird? Sie machen das schon. Ich verlasse mich auf Sie.«

Müller setzte sich zurück in ihren Drehstuhl und nahm sich das Dossier wieder vor, in dem sie gelesen hatte, als Simon in den Raum gekommen war. Das bedeutete, das Gespräch war beendet. Simon drehte sich um und verließ grußlos das Büro seiner Vorgesetzten. Er musste Dawn kontaktieren. Sie würde für ihn herausfinden müssen, was Müller vorhatte. Die Dame mochte ihre eigenen Vorstellungen davon haben, wie man eine Mission über die Bühne brachte, aber die hatte Simon auch. Und in seiner kam das Wort Überraschung nicht vor.

***

Nachdem Simon Stark ihr Büro verlassen hatte, nahm Müller den Hörer ihres Telefons und wählte die Nummer eines Wegwerfhandys, das sie selbst vor einigen Wochen besorgt hatte. Beinahe augenblicklich meldete sich ihr Gesprächspartner.

»Ich bin es. Das Problem Dresden ist in Arbeit. Ja, ich weiß, dass es eilt, das brauchst du mir nicht immer wieder zu sagen. Was? Nein, es wird klappen. Der Mann, den ich drauf angesetzt habe, ist ein Vollprofi und ich habe ihn in der Hand.«

Dann wechselte Müller vom dienstlichen zu einem intimen Tonfall und flüsterte ins Telefon: »Und wenn du dich mal wieder bei mir sehen lässt, können wir auch andere Dinge austauschen als Informationen. Ich bin nachher wieder in Hamburg«

***

Kurze Zeit später in Hamburg

 

Für heute hatte sie es lange genug in ihrer Wohnung ausgehalten. Seit der Verfassungsschutz ihre gesamte Rechner- und Server-Infrastruktur beschlagnahmt hatte, war diese Bleibe ohnehin nur noch eine leere Hülle. Wenn sie nicht ein paar Stunden der Woche von Müller als staatlich beschäftigte Hackerin eingesetzt würde, wäre sie vermutlich längst wahnsinnig geworden.

Während Simon für eine obskure Undercover-Aktion nach Ostdeutschland abkommandiert war, hatte man Dawn dazu verdonnert, ihre Fähigkeiten beim Infiltrieren geschützter Netzwerke und bei der Entwicklung von Exploits für den Verfassungsschutz zu nutzen.

Alle Einwände, dass sie unbedingt ihr eigenes, modifiziertes Equipment benötige, um ihre Fähigkeiten voll zu entfalten, waren von Müller abgebügelt worden. Die Schnüffler trauten ihr keinen Zentimeter über den Weg, womit sie natürlich Recht hatten, wie Dawn vor sich eingestehen musste. Jeder nicht überwachte Schritt, den man Dawn Widow im Internet machen ließe, hätte die Gefahr geborgen, dass sie einen nach Strich und Faden austrickste.

Sie schnappte sich ihre Sporttasche und rief sich ein Taxi. Als sie die Wohnung verließ, spürte sie ein leichtes Vibrieren an ihrem rechten Fußgelenk. Die elektronische Fußfessel sollte nicht nur überwachen, wo sie sich jeweils aufhielt – sie sollte Dawn auch ständig daran erinnern, dass sie es tat.

Vor dem Haus registrierte sie aus dem Augenwinkel, dass ihre Bewacher wie immer zur Stelle waren. In einem grauen Skoda Kombi saßen zwei Männer, die übertrieben umständlich mit einer Straßenkarte hantierten. Wenn Frau Müller auch nur ahnen würde, dass Dawn ihre Beschattung längst bemerkt hatte, würde sie vor Wut schäumen und die beiden Mitarbeiter vermutlich in die Materialverwaltung strafversetzen.

Ihr Handy summte. Müller hatte also schon mitbekommen, dass Dawn ihre Wohnung verlassen hatte.

»Frau Müller, schön, dass Sie anrufen«, flötete sie spöttisch ins Telefon. »Wie? Ja, genau. Zum Yoga, wie immer. Da müssen Sie unbedingt mal mitkommen. Das hilft gegen Verspannungen im ganzen Körper. Und mentale Blockaden baut es auch ab. Hallo?«

Müller hatte aufgelegt und Dawn fühlte sich an diesem Tag zum ersten Mal fröhlich. Zwischen ihr und dieser Krampfhenne Müller gab es nicht den Hauch gegenseitiger Sympathie, doch in letzter Zeit schaffte es Dawn immer häufiger, Müller subtil auf die Palme zu bringen. Die perfekte Fassade bekam langsam Risse, und bald würde sie der alten Schachtel so auf den Wecker gehen, dass sie den Kontakt zu Dawn meiden würde, wo immer es ging. Genau diesen Freiraum brauchte sie auch.

Ihr Taxi kam wie immer pünktlich und hielt direkt vor ihr am Straßenrand.

Dawn musste lachen, als sie den Fahrer sah, und sie hoffte, dass ihre beiden Beschatter diesen Heiterkeitsausbruch nicht bemerkten und misstrauisch wurden. Deshalb stieg sie schnell in das Taxi und schloss die Tür hinter sich.

»Toller Bart«, neckte sie den türkischen Fahrer. »Und die Voku-Hila-Frisur ist der Brüller.«

Dawn kriegte sich vor Kichern gar nicht wieder ein. Der Fahrer verdrehte nur schicksalsergeben die Augen und fuhr los.

»Allmählich gehen mir aber auch die Ideen für neue Verkleidungen aus«, klagte er. »Muss das denn wirklich sein?«

Dawn sah ihn streng an. »Das haben wir doch schon alles x-mal durchgekaut, Mehmet. Sobald die spitzkriegen, dass mich derselbe Fahrer mehr als einmal zum Yoga bringt, überprüfen die dich. Und dann war alles für die Katz.«

»Ich weiß ja«, seufzte Mehmet. »Aber ich sehe halt nicht gerne scheiße aus.«

»Du bist vielleicht eine Diva. Was für eine Art Türke bist du denn? Du siehst doch aus wie direkt aus einer Jugendgang entsprungen. Die Jugendlichen würden dich cool finden.«

Mehmet antwortete nicht, sondern blickte beim Fahren immer wieder konzentriert in den Rückspiegel.

»Folgen sie uns?«, fragte Dawn.

»Nein, sieht nicht so aus«, antwortete Mehmet.

»OK, dann los.«

Mehmet griff unter seinen Sitz und zog einen Laptop hervor, den er Dawn übergab. Dann zog er noch ein Handy aus seiner Jackentasche und übergab es ihr ebenfalls. Sie steckte beides ganz unten in ihre Sporttasche und schloss den Reißverschluss wieder.

»Danke, Mehmet.«

»Nichts zu danken. Wenn ich dir helfen kann, dich und Simon aus der Scheiße zu holen, mache ich das gern. Aber wie steht es um Simon und Sophie?«

Dawn sah ihn traurig an. Sophie und Simon waren drauf und dran, ein Paar zu werden, nachdem sie alle zusammen diese Sache mit dem Immobilienhai durchgestanden hatten. Doch als Simon dann ins Visier der Behörden geraten war, hatte er sich von Sophie getrennt und ihr verboten, ihn jemals wieder zu kontaktieren. Dawn wusste, dass er die Frau, die er doch liebte, damit nur schützen wollte, aber sie wusste auch, dass es ihm und Sophie das Herz gebrochen hatte.

»Es gibt kein Sophie und Simon mehr. Das ist so wahnsinnig traurig«, antwortete sie Mehmet mit einem Kloß im Hals.

Er nickte stumm.

»Leg den Rechner und das Telefon nachher wieder an der Bar ab. Meine Cousine Arzu bringt mir dann beides wieder für das nächste Mal. Und jetzt viel Spaß, wir sind da.«

Die Tatsache, dass man ihr für die kurze Strecke zwischen der Wohnung und dem Yoga-Studio ein Taxi bewilligte, war vermutlich keine großzügige Geste des Verfassungsschutzes, sondern eine willkommene Möglichkeit, Dawns Kontakte zur Außenwelt so gering wie möglich zu halten. Zu Fuß hätte sie sich mit allen möglichen Leuten treffen können. Im Taxi waren dagegen nur sie und der Fahrer. Dawn grinste, als ihr diese Gedanken durch den Kopf gingen. Genau so dachte Müller, das wettete Dawn. Für sie war das ein Glücksfall, denn so konnte sie vier Mal die Woche unkontrolliert arbeiten. Ihren Notfall-Laptop hatte sie, genau wie das Prepaid Handy, schon länger bei Mehmet deponiert gehabt. Als dann der Verfassungsschutz auftauchte und ihr alles wegnahm, hatte sie sich mit ihm in Verbindung gesetzt und bei der ersten Fahrt ins Yoga-Studio das künftige Procedere abgesprochen. Seither lief die Sache reibungslos. Sie konnte im Notfall sogar direkt mit Simon telefonieren, denn ihm hatte sie als Einzigem die Nummer ihres Geheimtelefons gegeben. Ihr offizielles Gerät, das auf ihren Namen angemeldet war, hatte Müller gleich am Anfang ihrer sogenannten Zusammenarbeit einkassiert. Natürlich würde es überwacht werden.

Sie gab Mehmet einen Kuss auf die Wange und stieg aus. Mehmet fuhr hupend davon und Dawn winkte ihm nach. Dann ging sie ins Studio. Drin begrüßte sie Arzu am Tresen und begab sich dann direkt in den Ruheraum, statt in den Trainingsbereich. Sie suchte sich einen freien Sessel, legte den Rechner auf die Knie und fuhr ihn hoch.

Wenig später war sie über eine mehrfach gesicherte Verbindung online und klinkte sich in ihr System ein. Was Frau Müller und die anderen Schnüffler nicht wussten, war, dass Dawn sich ein Leben lang auf solche Situationen vorbereitet hatte wie die, in der sie jetzt steckte. Ihr gesamtes, beschlagnahmtes System gab es auf virtuellen Servern in der ganzen Welt noch einmal. Zugriff bekam nur Dawn persönlich, denn sie hatte in ihren Laptop einen Fingerabdrucksensor und einen Iris-Scanner eingebaut. Die letzte Hürde war eine Stimmerkennung. Alle drei Sicherheitssysteme zusammen ergaben in Verbindung mit der von ihr selbst geschriebenen Datenverschlüsselung ein so hohes Maß an Sicherheit, dass ein Eindringen unautorisierter Personen ausgeschlossen war.

Dawn rief als Erstes eine verschlüsselte Datei mit dem Namen Müllermonster auf. Dort speicherte sie alles, was sie auf ihren digitalen Raubzügen bisher über die Agentin gefunden hatte. Von den Schulzeugnissen über den Führerschein bis hin zu einem Profil in einem Dating-Portal unter falschem Namen hatte Dawn bereits alles über sie herausgefunden. Was sie suchte, war eine Information, mit der man sie kompromittieren konnte. Irgendetwas, das sie erpressbar machte. Die schlüpfrigen Chatnachrichten über abgründige SM-Fantasien reichten da bei weitem noch nicht aus. Nein, was Dawn suchte, war etwas, das Müller politisch erledigen konnte. Sie war zu tausend Prozent überzeugt, dass es etwas zu finden gab, denn absolut niemand in einer solchen Position schaffte es dorthin, ohne auf dem Weg einige Leichen zu produzieren, die es dann im tiefsten Keller zu verstecken galt.

Ich kriege dich, du Miststück. Leg dich nie, nie, niemals mit Dawn Widow an.

***

Zwei Stunden waren ziemlich kurz, wenn einem die Zeit im Nacken saß und man nicht genau wusste, wonach man suchen sollte. Dawn hatte damit angefangen, Müllers Profil bei dem Dating Portal zu hacken, um an ihre Kontodaten zu gelangen. Dann hatte sie selbst ein Scheinprofil angelegt, nachdem sie Müllers bisherige Kontakte daraufhin analysiert hatte, worauf sie besonders stand. Eine Antwort auf ihre Chatanfrage würde heute nicht mehr eingehen. Dawn ging jedenfalls davon aus, dass Müller sich frühestens abends nach Dienstschluss von zu Hause aus wieder dort einloggen und Dawns Nachricht lesen würde.

Zum Glück war morgen wieder Yoga-Tag, sodass sie mit etwas Dusel schon dann den nächsten Schritt würde machen können. Dawn wollte die Agentin in einen Chat verwickeln, in dessen Verlauf sie ihr einen Trojaner unterschieben wollte. Wenn Müller die beim Verfassungsschutz gängige Antivirensoftware auch privat verwendete, sollte es kein Problem sein, das Schadprogramm auf ihrem privaten Rechner einzuschleusen. Dawns Virus nutzte eine Sicherheitslücke, die bisher noch unbekannt geblieben war und vermutlich auch noch einige Zeit bleiben würde.

Ziel der Übung war es, an Passwörter zu gelangen, die Müller nutzte. Mit etwas Glück würde Dawn dann spätestens nächste Woche Zugriff auf ihre E-Mails, alle vorhandenen Bankkonten und sonstige von ihr genutzte Webdienste haben.

Mehr konnte sie heute nicht tun. Nachdem sie sich ausgeloggt und den Laptop heruntergefahren hatte, kontrollierte sie noch kurz ihr Handy, obwohl sie keine Nachricht von Simon erwartete.

Doch da war eine. Die Anrufliste zeigte, dass Simon mehrfach versucht hatte, sie zu erreichen. Sofort tippte sie mit zittrigen Fingern die Nummer ein und wartete, dass eine Verbindung aufgebaut wurde. Doch Simon ging nicht ran.

Dawn konnte nur hoffen, dass es nichts Lebenswichtiges war, denn vor morgen würden sie keine Chance haben, noch einmal miteinander in Kontakt zu treten.

***

Nachdem er Müllers Büro verlassen hatte, war Simons Stimmung im Keller. Heute Nacht würde sie ihn in irgendeine unübersichtliche Situation laufen lassen, und er hatte keine Ahnung, wie er sich vorbereiten konnte.

Dawn hatte er nicht erreicht. Vermutlich hatten die Schweine ihr Handy sowieso längst einkassiert oder wenigstens verwanzt. Simon wusste, dass seine gute Freundin heimlichen Zugriff auf ihre gespiegelte Infrastruktur hatte. Sie hätte ihm auf jeden Fall Infos über den geplanten Einsatz am Abend verschaffen können, denn den Verfassungsschutz hatte sie bereits vor Jahren infiltriert. Dass die Schlapphüte mit Dawns beschlagnahmter Hardware und den darauf enthaltenen Daten etwas anfangen konnten, bezweifelte Simon. Niemand außer Dawn persönlich konnte an diesen Geräten arbeiten, und so war es auch ausgeschlossen, dass man ihre Hintertür entdeckt hatte.

Wieder in der Pension angekommen, schnallte Simon seine Prothesen ab und wechselte die Hydrazin-Brennstoffzellen, mit denen sie angetrieben wurden. Ragnar hatte sich bei der Entwicklung dieser Babys wirklich selbst übertroffen. Nicht nur, dass er ein mechanisches Wunderwerk geschaffen hatte – es war ihm sogar gelungen, die vom Pentagon begonnenen Versuche zum Hydrazin-Antrieb weiterzuführen und das Konzept zum Funktionieren zu bringen. Müller und der Verfassungsschutz wussten zwar selbstverständlich, dass Simon Hightech-Prothesen trug, aber sie hatten keine Ahnung, wie innovativ und leistungsstark diese Dinger wirklich waren. Sie hatten seine Vergangenheit hauptsächlich in Hinsicht auf seine Militärkarriere und die damit verbundene Ausbildung durchleuchtet. Auf eventuelle Verbindungen zu Terroristen hatte man ihn natürlich auch überprüft. Auf die Idee, seine künstlichen Beine näher zu untersuchen, waren sie allerdings nie gekommen. Glück für ihn, denn so hatte er eventuell noch einen Trumpf in der Hinterhand. Wer konnte schon wissen, wann ihm dieses Geheimnis einmal von Nutzen sein würde? Bis zu seinem unbekannten Einsatz war noch viel Zeit. Simon schloss die Augen und schlief ein. Er musste Energie tanken.

Simon wurde wach, als sein Handy klingelte. Draußen war es bereits dunkel. Er hatte stundenlang geschlafen wie ein Baby. Beim Blick aufs Display hellte sich Simons Miene erfreut auf. »Ragnar, mein Freund«, sagte er laut und nahm dann den Anruf entgegen.

»Ich habe vorhin an dich gedacht, du Genie«, begrüßte Simon den Freund gut gelaunt.

»Auch schön, deine Stimme zu hören, Simon. Aber deshalb rufe ich nicht an. Ich stecke in der Scheiße und brauche deine Hilfe.«

Ragnar schilderte ihm in den nächsten Minuten, was passiert war, und Simon hörte angespannt zu. Das schien eine wirklich ernste Sache zu sein. Als der Bericht abgeschlossen war, ratterte es bereits in Simons Kopf. Diese Angelegenheit duldete keinen Aufschub. Es gab dabei nur ein ziemlich großes Problem.

»Verdammte Scheiße, das hört sich übel an. Ich komme natürlich, so schnell ich kann, aber ich weiß noch nicht, wie ich mich hier loseisen soll. Der Verfassungsschutz hat mich und Dawn immer noch an den Eiern, und ich bin gerade mitten in einer Mission für die. Meine Führungsoffizierin wird mich hier nicht weglassen.«

Ragnar stöhnte gequält auf. »Bitte Mann, du musst mir unbedingt helfen. Die bringen mich um, sobald sie mich haben.«

»Ruhig Blut. Wie ich schon sagte: Ich kriege das irgendwie hin. Aber vor morgen kann ich hier nicht weg. Meine Nummer hast du ja. Wechsle jetzt zunächst mal sofort das Hotel. Am besten mietest du gleich zwei Zimmer an. Du kannst an der Rezeption sagen, dass du sehr lärmempfindlich bist und deshalb ein leeres Zimmer neben deinem willst. Solange du bezahlst, werden die da schon mitmachen.«

»Was soll ich denn mit zwei Zimmern?«, fragte Ragnar verwirrt.

»Du weißt nicht, wie gut deine Verfolger sind. Im schlimmsten Fall bekommen sie deinen Namen über die Gästeliste von diesem Kongress, bei dem du warst. Dich dann in London aufzuspüren, ist für echte Profis kein unlösbares Problem. Sollten sie dich sogar bis zu deinem Hotel verfolgen können, hast du zumindest eine fifty-fifty Chance, zu überleben – wenn sie das falsche Zimmer stürmen und du Zeit hast, zu verschwinden, bevor sie ins richtige kommen.«

Simon hörte, wie Ragnar schluckte. »Du machst mir nicht gerade Mut, weißt du?«

Simon ging nicht darauf ein. Es hatte jetzt keinen Sinn, mit Ragnar zum Trost übers Telefon Händchen zu halten. Er musste schnell einen Plan entwickeln, wie er Müller dazu bringen konnte, ihn von Dresden nach London reisen zu lassen.

»Du musst nur bis morgen durchhalten. Das schaffst du! Ich melde mich dann bei dir. Ich rufe dich von einer öffentlichen Telefonzelle an, sobald ich da bin. OK?«

»Ja, OK«, stimmte Ragnar resigniert zu. Dann beendete Simon das Gespräch und legte sich zum Nachdenken aufs Bett.

***

Gleich, nachdem er aufgelegt hatte, begann Ragnar, seine Sachen zusammenzuraffen. Fünf Minuten später hatte er an der Rezeption ausgecheckt. Jetzt stand er unentschlossen vor dem Hoteleingang und überlegte fieberhaft, wo er hingehen sollte. Um diese Zeit noch in einem Hotel in der Umgebung ein Zimmer zu bekommen, schien ihm relativ aussichtslos. Außerdem waren die Straßen nachts so leer, dass er nicht in der Menge untertauchen konnte. Er musste also weg von der Straße. Da kam ihm die rettende Idee. Die Kensington Gardens waren keine drei Gehminuten entfernt. Wenn er an der Bayswater Road ungesehen über den Zaun klettern könnte, wäre er für die Nacht in Sicherheit.

Ragnar rannte los. Als er am Zaun ankam, warf er seine Reisetasche darüber hinweg, sah sich um, ob die Luft rein war, und machte sich dann daran, hinaufzuklettern. Es war schwieriger als gedacht, aber schließlich schaffte er es. Ragnar ließ sich auf die andere Seite fallen, griff sich seine Tasche und schlug sich durch dichtes Gestrüpp, das den Zaun entlang wuchs, bis er auf der freien Rasenfläche am Rande des Parks stand.

Auf den Hauptwegen musste er vorsichtig sein. Er hatte gehört, dass nachts Polizeistreifen im Park patrouillierten. Tatsächlich musste er sich noch zweimal in die Büsche schlagen, bis er von den Kensington-Gardens in den angrenzenden Hydepark gelangte. Dort gab es Ragnars Erinnerung nach auf der Südseite des langgezogenen Sees, der Serpentine, ein Gelände, auf dem das Gras um diese Jahreszeit mindestens hüfthoch wuchs. Dort konnte er sich ein gutes Stück abseits der Spazierwege zum Schlafen hinlegen und den nächsten Morgen abwarten.

Als er endlich angekommen war und sich in das hohe Gras gelegt hatte, starrte er fasziniert in den klaren Nachthimmel.

Wenn ich könnte, würde ich einfach für immer hierbleiben, dachte er wehmütig. Ragnar sehnte sich nach Sicherheit und danach, sich endlich Greenes Arbeit widmen zu können, statt um sein Leben fürchten zu müssen.