Kapitel 8
Dresden, Müllers Büro, 06. Mai 13:30 Uhr MEZ
Petersen stürmte wutentbrannt an der Sekretärin vorbei und verpasste dem Posten vor der Bürotür eine Kopfnuss, die ihn sofort zu Boden schickte. Er riss die Tür auf und ging zielstrebig auf Müllers Schreibtisch zu. Die schoss aus ihrem Stuhl hoch und starrte in vollkommen entgeistert an.
»Petersen, was …«, stieß sie hervor, doch er fuhr ihr über den Mund.
»Wo ist er?«, brüllte er sie an.
»Wer? Ich weiß nicht, wovon …«
»Das habe ich auf dem Sitz von seiner Maschine gefunden. Es war da festgeklebt. Was bedeutet das?«
Er warf ihr einen zerknüllten Zettel zu. Müller strich das Papier glatt und las mit gerunzelter Stirn die Nachricht.
»Wir haben Ihren Mann. Was von ihm übrig ist, schicken wir Ihnen gerne zu«, las sie vor und verstummte. »Petersen, ich weiß wirklich nicht, was das soll. Kläre mich bitte auf.«
Er trat den Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch einmal quer durch den Raum. »Jemand hat einen meiner Leute entführt und droht mir, das ist los!«, brüllte er. »Steckt ihr dahinter? Der Verfassungsschutz?«
Müller schüttelte verwirrt den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Wie kommst du darauf?«
»Ich hatte den Mann zur Beobachtung von Stark eingeteilt. Seitdem habe ich ihn nicht wiedergesehen. Und jetzt finde ich das. Wer soll denn außer deinem Verein noch an Stark dran gewesen sein? Wer würde sich für meinen Mann interessieren, wenn nicht ihr? Wenn du deine Marionetten nicht mehr kontrollieren kannst, muss ich vielleicht jemand anderen bumsen – jemanden, der hier die Fäden wirklich in der Hand hält.«
Müller eilte zu ihm und legte ihm beschwörend beide Hände auf die Brust. »Hör zu, du irrst dich. Von meiner Behörde war niemand an Stark dran. Ich habe ihn dir überlassen. Wenn jemand deinen Mann hat, dann musst du nachdenken, wer dir schaden will. Mit wem hast du solche Probleme, dass du ihm so was zutrauen würdest?«
Petersen zwang sich, ruhig zu werden. Er musste nachdenken. Im Grunde konnte er sich tatsächlich nicht vorstellen, warum seine Gespielin ihn hintergehen sollte. Und er wusste auch, dass es niemand ihrer Leute wagen würde, ihr in den Rücken zu fallen. Aber er kam einfach zu keinem Ergebnis, wenn er darüber nachdachte, wer erstens dazu fähig wäre und zweitens von Simon Stark wissen konnte. Dann besann er sich und ließ sich den Zettel noch einmal reichen. Er starrte angestrengt auf die Nachricht und sagte schließlich nachdenklich: »Ich habe diese Handschrift schon mal gesehen«
Müller drängte sich neben ihn, sodass auch sie noch einmal einen Blick auf die Nachricht werfen konnte.
»Du hast Recht. Mir kommt die Schrift auch bekannt vor.«
Beide zermarterten sich das Gehirn, bis Müller sich plötzlich vor die Stirn schlug, als hätte sie einen Geistesblitz. Sie griff hektisch nach dem Telefon und drückte eine Kurzwahltaste. »Müller hier. Bringen Sie mir umgehend die Akte Trachau in mein Büro. Die Bände mit der abgefangenen Korrespondenz genügen mir zunächst. Was? Nein, den Sicherheitsdienst müssen Sie nicht rufen. Verbinden Sie ihm seinen Kopf und machen Sie ihm klar, dass er die Füße stillhalten soll.«
Sie legte auf und ging unruhig im Büro auf und ab. Petersen beobachtete sie angespannt.
»Was geht in deinem hübschen Köpfchen vor? Was ist die Akte Trachau?«
Doch Müller winkte ungeduldig ab. »Ist nur so eine Idee. Ich muss die Akte sehen, um sicher zu sein. Gleich sind wir schlauer.«
Petersen gab sich zunächst damit zufrieden, weil er sah, dass aus seiner Gespielin momentan nichts herauszubekommen war. Wenn sie Recht hatte, würde sich ja alles gleich klären. Zwei Minuten später kam die Sekretärin mit der Akte herein. Sie hielt sie krampfhaft an die Brust gedrückt und beäugte Petersen ängstlich. Der Anblick des niedergeschlagenen Mannes vor der Tür hatte sie anscheinend ziemlich verstört. Petersen war die Befindlichkeit der Tippse allerdings scheißegal. Er nahm ihr barsch den Ordner ab und reichte ihn Müller.
»Also gut, was haben wir hier?«
Müller platzierte die schwere Akte auf ihrem Schreibtisch und schlug sie auf. Nach einem kurzen Blick ins Register blätterte sie rasch bis zur Mitte weiter und verlangte von Petersen den Zettel zurück. Den hielt sie neben die Akte und blickte konzentriert zwischen beiden Dokumenten hin und her. Dann winkte sie ihn heran.
»Die Akte Trachau enthält Material über Braakes mutmaßliche Dresdner Terrorzelle. In Dresden Trachau unterhält die Gruppe einen Laden, von dem wir wissen, dass er als Tarnung und zur Geldwäsche dient. Das hier sind Fotokopien von Schriftstücken, Notizen und Korrespondenzen der Mitglieder.«
Müller hielt inne und schenkte Petersen einen sehnsüchtigen Blick. »Du weißt, dass ich diese Operation nur für dich angeschoben habe. Ich tue alles für dich. Stoß mich nicht weg.«
Petersen schnaubte unwillig. »Schon gut, ich weiß es zu schätzen. Und jetzt weiter.«
Damit musste sie sich zunächst zufriedengeben und so richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Dokument.
»Und jetzt sieh dir das hier an.« Sie deutete auf ein Blatt, das säuberlich in einer Klarsichtfolie abgeheftet war. Es war ein handschriftlich verfasstes Memorandum mit dem Titel Strategien zur Infiltrierung lokaler Bürgerinitiativen.
Petersen sah sofort, was Müller meinte. Die Schrift, in der dieses Memo verfasst war, glich der von dem Zettel, den er gefunden hatte, bis aufs Haar. Unterzeichnet war das Schriftstück auch. Petersen las die Signatur und ballte die Faust.
»Braake, der verdammte Hurensohn!«
***
Kowacz hatte alles ganz ohne Folter ausgeplaudert. Allein die unmenschlichen Schreie aus dem Video, das Braake sich angesehen hatte, waren mehr als genug für die angegriffenen Nerven des Gefangenen gewesen. »Du arbeitest also für Petersen«, stellte Braake noch einmal klar und Kowacz nickte heftig. »Ja, und der hat einen Kontakt zum Verfassungsschutz. Eine Frau Müller. Petersen hat was mit der. Die frisst ihm echt aus der Hand.«
»Und Simon Stark, der sich uns als Kalle vorgestellt hat, arbeitet auch für Müller, ist das richtig?«
»Ja, genau. Müller hat ihn in Ihre Gruppe einschleusen lassen. Er sollte Ihr Vertrauen gewinnen. Danach hat sie ihn nach London geschickt.«
»Warum London?«, bohrte Braake nach.
»Weil Stark ihr erzählt hat, Sie hätten Kontakte dorthin. Stark hat was von einer internationalen Terrorgruppe erzählt, die Sie gemeinsam mit Leuten aus London aufbauen würden.«
Braake war verdutzt. »Was zur Hölle redet der denn? Das ist absoluter Bullshit. Ich soll ihm das gesagt haben?«
Wieder nickte Kowacz. »Petersen hat auch gesagt, dass das Blödsinn ist. Deshalb sollte ich Stark überwachen. Wir wollten herausfinden, was er wirklich in London wollte. Petersen vermutet, dass Stark in Wirklichkeit hinter der Akte her ist, die Müller und er selbst in die Hände bekommen wollen.«
Jetzt wurde Braake hellhörig. »Was ist das für eine Akte?« Doch Kowacz zuckte nur bedauernd mit den Schultern. »Das weiß ich auch nicht. Muss aber wichtig sein.«
Braake wiegte nachdenklich den Kopf. »Ich bin sogar geneigt, Ihnen das zu glauben, mein Junge. Aber seien wir realistisch. Sicher sein kann ich erst, wenn unser Freund hier Sie befragt hat.« Braake deutete auf den Inquisitor und sofort wurde Kowacz wieder panisch.
»Oh, bitte. Das müssen Sie nicht. Ich würde Ihnen doch alles erzählen, wirklich. Tun Sie das bitte, bitte nicht.«
»Bedaure, aber ich bin Profi.« Dann gab er dem dürren Mann ein Zeichen, der daraufhin einen kleinen Servierwagen mit Skalpellen, Zangen, Bohrern und anderem Equipment zu Kowacz hinüber rollte und vor ihm Platz nahm.
Der Gefangene war sekundenlang völlig paralysiert. Er hyperventilierte und zitterte am ganzen Körper. Sekunden später färbte sich sein Schritt dunkel und Urin rann durch den Stoff seiner Hose über die Sitzfläche des Stuhls bis auf den Betonboden. Der Inquisitor drehte sich mit unbewegter Miene zu Braake um und sagte: »Ich empfehle Ihnen, frische Luft schnappen zu gehen. So abgebrüht, dass Sie mein ganzes Talent sehen wollen, sind Sie auch nicht. Das Video war nur eine Befragung der Stufe zwei.«
Dann drehte er sich wieder zu Kowacz um und brachte sein Gesicht ganz dicht an dessen Ohr. »Aber wir beide machen heute eine Stufe drei Session.« Dann senkte er seine Stimme zu einem kaum noch hörbaren Flüstern und hauchte: »Wusstest du, dass man vor Schmerzen sterben kann?«
Kowacz riss den Mund zu einem Schrei des Entsetzens auf, doch ehe mehr als nur ein klägliches Röcheln herauskommen konnte, stopfte der Inquisitor ihm einen Knebel in den Mund und fixierte ihn mit einem Lederriemen am Hinterkopf von Kowacz. Der Todeskandidat bäumte sich auf und warf sich in dem schweren Stuhl hin und her. Er hatte keine Chance. Die Fesseln waren zu kunstvoll angelegt worden.
Braake zögerte noch kurz, ging dann aber tatsächlich aus dem Raum. Bei seinem letzten Blick zurück sah er noch, wie der Inquisitor eine Rohrzange zur Hand nahm und dem zappelnden Kowacz langsam das T-Shirt hochschob. Dann schloss Braake die Tür hinter sich und eilte die Treppe zum Weinkeller hoch. Sekunden später erschütterte ein nervenzerfetzendes, wahnsinniges Quieken das Gewölbe. Der Inquisitor hatte seine Befragung begonnen. Braake spürte eine leichte Übelkeit in sich aufsteigen und flüsterte beeindruckt: »Der Typ ist ein Künstler. Gott, ich beneide ihn.«
***
Dresden, Müllers Büro, 06. Mai 13:45 Uhr MEZ
»Du hast doch deinen Mann mit Stark in London«, rief Petersen plötzlich aus, nachdem er sich wieder und wieder den Kopf zermartert hatte, wie die Puzzleteile zusammenpassen könnten.
»Ja, Martinus ist mein bester Mann. Wieso?«
»Informiere ihn, dass Stark nicht wegen dieser angeblichen Dresden-London Connection dort ist. Er soll aus ihm herausholen, worum es wirklich geht.«
»Aber Martinus ist nicht eingeweiht«, widersprach sie. »Wenn er herausbekommt, worum es geht, kann ich nicht mehr kontrollieren, wer noch alles Wind von der Sache bekommt.«
Petersen, der Widerspruch nicht gewohnt war, würde wütend.
»Er ist dein Mann. Willst du mir erzählen, du kannst ihn nicht kontrollieren? Ruf ihn verdammt noch mal an! Wir müssen wissen, ob Stark uns in die Quere kommt.«
Unter normalen Umständen hätte Müller sich von niemandem so behandeln lassen. Sie galt als eiskalt und herrisch. Dieser Biker aber hatte ihre devote Seite geweckt, als sie sich das erste Mal begegnet waren, und sie genoss es, die Kontrolle wenigstens bei ihm aufgeben zu können. Was anfangs nur ein Spiel aus Dominanz und Unterwerfung gewesen war, hatte sich seither zu einer echten Abhängigkeit, ja Hörigkeit entwickelt. Petersen zu widersprechen, war ihr einfach nicht möglich.
»Gut, ich rufe ihn an«, flüsterte sie unterwürfig und griff nach dem Telefon.
Petersen beobachtete sie misstrauisch. Er war sich zwar ziemlich sicher, die kleine Schlampe im Griff zu haben, doch wer wusste schon genau, was in einem Frauenkopf vor sich ging? Sie wählte auswendig eine Nummer und wartete auf Antwort. Schließlich meldete sich Martinus und Müller begann, ihn auszufragen. Als sie gerade ansetzte, ihm von der Akte zu erzählen, verstummte sie plötzlich, weil Martinus sie offenbar unterbrach und selbst noch etwas mitteilen wollte.
Nach wenigen Sekunden englitten Müller die Gesichtszüge. Was immer ihr Mitarbeiter ihr da gerade erzählte, schien ihr den Boden unter den Füßen wegzuziehen. »Sie hatten sie? Und jetzt ist sie weg? Martinus, das ist eine Katastrophe. Beschaffen Sie sie wieder.«
Damit legte Müller auf und sah Petersen fassungslos an.
»Was?«, blaffte er ungeduldig. Er hasste es, Leuten etwas aus der Nase ziehen zu müssen.
»Das glaube ich einfach nicht«, flüsterte sie, ohne auf ihren Freund einzugehen. »Der hat mich nach Strich und Faden verarscht.«
»Wer, verdammte Scheiße? Ich bin auch in diesem Zimmer. Rede mit mir!«
Wie aus einem Traum gerissen zuckte sie zusammen und starrte Petersen an, als sei er gerade aus dem Nichts aufgetaucht. Dann fand sie offenbar wieder ins Hier und Jetzt zurück und redete.
»Martinus wusste von der Akte.«
»Was? Wie ist das möglich?«
»Stark und ein Freund, den er dort getroffen hat, haben es ihm erzählt. Dieser Freund hatte die Akte an sich genommen, nachdem es auf einem Kongress einen Anschlag auf Greene gegeben hatte. Jemand hatte sie gestohlen und auf der Flucht verloren. Dieser Freund, der die Akte dann hatte, hat sich an Stark gewandt, weil er verfolgt wurde. Stark hat mir dann diese Geschichte mit der London-Connection aufgetischt, und ich blöde Kuh bin voll darauf reingefallen. Stark hatte nie vor, in London gegen Braakes Gruppe zu ermitteln. Ihm ging es von Anfang an um die Akte.«
Für einen Moment wurde Petersens Kopf ganz leer. Das musste er erst mal verdauen. Dann packte er Müller und schüttelte sie. »Wie kann es sein, dass noch jemand hinter der Akte her ist? Wer kann davon gewusst haben?«
Doch Müller war genauso ratlos wie ihr Liebhaber. Sie rollte hilflos mit den Augen. »Ich weiß es wirklich nicht.«
»Und wo ist sie jetzt? Hat Martinus sie an sich genommen?«
Müller schlug ängstlich die Augen nieder und flüsterte: »Man hat ihn überfallen und sie ihm abgenommen. Wir wissen nicht, wer die Formel jetzt hat.«
***
London, Speakers Corner, 06. Mai, 13:25 Uhr GMT
Auf einer mitgebrachten Trittleiter stand ein alter, klug aussehender Mann und sprach zu einer Gruppe von vielleicht zwanzig Menschen, die sich neugierig um ihn versammelt hatten. Außer ihm war heute kaum jemand am Speakers Corner aufgetaucht, um seine Thesen unters Volk zu bringen. Jonathan Jones war einer der Zuhörer. Normalerweise hetzte er an diesem Ort vorüber, wie die meisten Londoner es taten. Doch heute hatte er im Vorbeigehen ein paar Sätze aufgeschnappt und war stehengeblieben. Sicher, der Redner war belesen und redegewandt, doch Jones schüttelte nur ärgerlich den Kopf, als er den Mann reden hörte.
»Unser Planet platzt aus allen Nähten, meine Freunde. Kaum, dass wir alle Menschen auch nur annähernd ernähren können. Und in dieser Situation beobachten wir eine stetige Zunahme der mittleren Lebenserwartung in den Ländern der Dritten Welt. Das ist erfreulich und begrüßenswert, denn alle Menschen sind Kinder Gottes. Aber reicht uns das? Geben wir uns damit zufrieden? Nein, natürlich nicht! Ein großer Internetkonzern – Sie alle wissen, wen ich meine – schickt sich an, Unsummen in die Erforschung der Unsterblichkeit zu investieren. Ja, Sie haben richtig gehört! Es ist diesen Leuten ernst. Doch ich frage Sie, liebe Zuhörer: Wollen wir hinnehmen, dass ein Unternehmen Gott spielt? Wollen wir die Folgen tragen, wenn plötzlich Millionen Zweihundertjährige und noch ältere Menschen ernährt und von der Gemeinschaft mit getragen werden müssen? Ich sage nein! Es ist gottlos, größenwahnsinnig und pervers.«
Einzelne Zuhörer applaudierten. Jones hatte genug gehört und setzte seinen Weg fort. Er steuerte eine Parkbank an und setzte sich. Nachdenklich betrachtete er seine Hände, auf denen sich die ersten Altersflecken breitmachten. Beginnende Arthrose im rechten Knie machte ihm seit einigen Monaten zu schaffen, und sein Gehör war früher auch besser gewesen – von seinen Augen ganz zu schweigen. Nein, das war nicht das Schicksal, das er verdiente. Nicht er, der er seit Jahrzehnten mit seinem Reichtum dazu beitrug, dass die Welt neue Impulse bekam, junge Talente und Visionäre sich entwickeln konnten und die brillantesten Köpfe an einer für alle besseren Welt arbeiteten.
Jones war schon immer davon überzeugt gewesen, dass es nicht fair wäre, wenn er irgendwann sterben müsste. Sein Geist war ein Füllhorn, das unerschöpflich revolutionäre Ideen zutage förderte, und er war sicher, dass er tausend Jahre so weitermachen könnte, wenn man ihn nur ließe.
Er stand auf und schlenderte weiter durch den Park. Heute Abend würde sich entscheiden, ob er sich tatsächlich mit seiner Sterblichkeit würde abfinden müssen oder ob er mit seinem Instinkt wieder einmal richtig gelegen hatte.
Jones drehte sich noch einmal in Richtung Speakers Corner um. Der Redner war mittlerweile von seiner Leiter gestiegen und packte zusammen.
Beim Anblick dieses Mannes stieg Verachtung in Jones auf. Er wollte es gut sein lassen, doch er konnte nicht anders. Jones drehte um und ging mit energischen Schritten zu dem Redner hinüber. Er baute sich vor ihm auf und sagte: »Gott hat uns nicht sterblich und gleichzeitig intelligent gemacht, damit wir in diesem Zustand verharren. Er will, dass wir uns befreien. Verstehen Sie das nicht, Sie Kretin?«
Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ließ den verdutzten Mann einfach stehen. Jones erwartete ohnehin keine intelligente Antwort von ihm.
***
Dresden, Braakes Keller, 06. Mai 14:00 Uhr MEZ
Der Inquisitor hatte nach ihm schicken lassen. Auf dem Weg in den Keller wappnete Braake sich für das, was er gleich zu sehen bekommen würde. Er war nicht zimperlich und Empathie war ein Fremdwort für ihn, aber vom ästhetischen Standpunkt aus würde der Anblick sicher schockierend sein.
Er atmete tief durch und öffnete die Tür zu dem Verlies, in dem er Kowacz zuvor mit seinem Peiniger zurückgelassen hatte.
Zu seiner Überraschung fand er den Raum vollkommen sauber vor. Der Inquisitor stand mit verschränkten Armen mitten im Zimmer und starrte ihn aus unergründlichen Augen an. Er hatte sich offenbar umgezogen. Neben ihm auf dem Boden stand ein verschnürter Plastiksack und seine Kleidung zeigte keinen einzigen Blutspritzer. An der hinteren Wand stand, verhüllt mit blickdichten Plastikplanen, etwas, von dem Braake annahm, dass es sich um den verschiedenen Kowacz samt Stuhl handelte.
»Sie haben schon durchgewischt«, stellte Braake verwundert fest. Der Inquisitor zuckte mit den Schultern und nahm den Sack vom Boden auf.
»Gehört zum Service. Die Leiche müssen Sie aber selbst loswerden. Ist nicht mein Spezialgebiet. Aber Sie verfügen ja über die nötigen Ressourcen, schätze ich.«
Braake hatte keine Einwände. Er deutete auf das Paket an der Wand. »Zu schade, dass er nicht mehr wusste. Ihnen hätte er alles verraten.«
Auf einmal strahlte der Folterknecht über das ganze Gesicht. So eine Mimik hätte Braake ihm überhaupt nicht zugetraut. Das machte ihn neugierig.
»Sie scheinen ja bester Laune zu sein. Darf ich den Grund erfahren?«
Das Grinsen wurde noch einmal breiter, bevor der Spezialist antwortete: »Wer sagt denn, dass er nichts mehr gewusst hat?«
Braake war verblüfft. »Sie haben noch was aus ihm herausgeholt? Ich hätte geschworen, dass er nie gewagt hätte, Ihnen etwas zu verschweigen, nachdem er Ihr Filmchen ansehen durfte. Der Kerl ist schon halb wahnsinnig vor Angst gewesen, als Sie ihm nur die Instrumente gezeigt haben.«
»Ach, wissen Sie«, entgegnete der Inquisitor und ging langsam im Raum auf und ab. »Der Mensch ist nicht so leicht durchschaubar, wie wir gemeinhin annehmen. Auch nicht so ausrechenbar, wie wir gerne glauben möchten. Meine Profession wäre doch überflüssig, wenn sich alle immer logisch verhalten würden. Zeig ihnen die Folterinstrumente, und schon werden sie alles sagen, denkt man gemeinhin. Und dann, oh Wunder, stellt sich bei der Befragung heraus, dass die Leute doch noch viel mehr wissen, als sie zugegeben haben. Wie kann das sein, fragen Sie? Nun, einerseits gibt der Mensch sich gern Illusionen hin. Er spekuliert vielleicht darauf, dass wir genau so denken und von ihm ablassen, bevor es richtig schlimm für ihn wird. Warum sollte der Typ mich weiter foltern, wenn ich die ersten Minuten durchhalte und nichts preisgebe, mag er denken? Mein Peiniger muss doch denken, ich würde alles zugeben, nur um keine Schmerzen mehr zu leiden.«
Der Inquisitor sah Braake listig an. »Würden Sie nicht ebenso denken, wenn es darauf ankäme? Würden Sie sich nicht auch in die Tasche lügen?«
Braake zog es vor, auf diese Frage nicht zu antworten.
Der Folterer zuckte gleichgültig mit den Schultern und fuhr fort: »Vielleicht würden Sie das, vielleicht auch nicht. Aus Erfahrung muss ich auch zugeben, dass diese Variante sehr selten ist. Die allermeisten Menschen würden tatsächlich im Angesicht der Marter alles zugeben und ausplaudern, so schnell sie nur können. Aber da gibt es einen anderen, sehr viel weiter verbreiteten Faktor. Vielen fällt erst unter der Folter ein, was sie wirklich wissen. Ja, ernsthaft.«
»Das verstehe ich nicht«, wandte Braake skeptisch ein. »Er wusste nicht, dass er noch mehr wusste? Das ergibt überhaupt keinen Sinn.«
»Zweifeln Sie ruhig. Aber aus Erfahrung weiß ich, dass die Folter, wenn sie gut gemacht ist, einen vergleichbaren Effekt wie die Hypnose haben kann. Da spuckt das Unterbewusstsein plötzlich Informationen aus, von denen der Betreffende vorher gar nicht wusste, dass er sie jemals aufgenommen hat. Oder sein Verstand interpretiert plötzlich vorhandene Informationsbruchstücke in einem ganz neuen Licht, und das führt dann zu neuen Erkenntnissen, die vorher nicht da waren. Ich kann Ihnen versichern: In meinem Job muss man in erster Linie Psychologe sein und dann erst Handwerker.«
Braake war beeindruckt. Das klang schlüssig und bestärkte ihn in der Ansicht, genau den richtigen Mann für diesen Job angeheuert zu haben. Er war weit mehr als der wahnsinnige Psychopath, für den ihn alle hielten.
»Sie übertreffen meine Erwartungen. Also spannen Sie mich nicht auf die Folter.«
Jetzt lachte der Inquisitor laut auf. »Ein nettes Wortspiel, Braake. Das hat so auch noch niemand zu mir gesagt.«
Es gefiel ihm nicht, dass der Kerl sich über ihn lustig machte. Wertvoller Spezialist hin oder her – er musste wissen, wer hier die Regeln bestimmte.
»Witze auf meine Kosten sind keine gute Idee. Sie sind immer noch in meinem Haus, und ich entscheide, ob Sie es aufrecht oder mit den Füßen voran verlassen. Und jetzt erwarte ich Ihren Bericht.«
Der Inquisitor nahm die unverhohlene Drohung gleichmütig hin. »Ganz wie Sie wünschen. Ich gebe also wieder, was er gesagt hat.«
Braake verschränkte die Arme und neigte seinen Kopf skeptisch zur Seite. Jetzt würde sich zeigen, ob sein Handlanger übertrieben, oder wirklich etwas erfahren hatte, das seiner Aufmerksamkeit würdig war.
»Kowacz fiel ein, dass Petersen einmal den Namen Ryan Greene erwähnt hatte, als er mit jemandem telefonierte. Kowacz nahm an, dass es sich um diese Müller vom Verfassungsschutz gehandelt haben müsse, da Petersens Tonfall ungewohnt sanft war. Im Verlauf des Gesprächs fielen die Worte Formel und Akte mehrmals.«
Jetzt hatte der Inquisitor erst recht Braakes volle Aufmerksamkeit. Die Skepsis in seinem Gesicht wich einem Ausdruck ungeduldiger Erwartung.
»Das war eine Spur, die ich weiter verfolgen musste. Ich hatte einen Namen und zwei Stichworte. Das Schlagwort Akte hatten wir ja vorher schon. Als dann die Information hinzukam, dass auch eine Formel eine Rolle spielt, habe ich kombiniert. Sie wären sicher auf denselben Gedanken gekommen.« Er sah Braake auffordernd an, der den Ball mühelos aufnahm. Die Schlussfolgerung drängte sich geradezu auf.
»Ich meine, die Akte enthält eine Formel. Petersen und Müller sind hinter einer Formel her.«
Der Inquisitor hob den Daumen und nickte zufrieden. »Sie haben es erfasst.«
»Was für eine Formel ist das?«, fragte Braake ungeduldig.
»Mehr wusste der Mann nicht. Aber jetzt haben Sie einen Namen. Finden Sie alles über diesen Ryan Greene heraus, und Sie bekommen vielleicht Ihre Antwort.«
Das war enttäuschend. Der Name Ryan Greene war verdammt wenig, aber Braake sah ein, dass es besser war als nichts. Er würde seine Leute darauf ansetzen, mehr konnte er nicht tun.
»Immerhin eine Spur. Ich danke Ihnen für Ihre Arbeit. Sie können jetzt gehen, aber halten Sie sich zu meiner Verfügung. Vielleicht gibt es bald wieder Arbeit für Sie.«
***
Krankenzimmer Martinus, 13:05 Uhr GMT
Sophie wartete vor dem Zimmer und sollte die Augen offenhalten. Sie konnten nicht sicher sein, dass der Mann im Anzug allein auf Martinus angesetzt worden war. Gut möglich, dass er immer noch auf der Abschussliste stand, weil er zu viel wusste. Simon saß auf einem Stuhl neben dem Kopfende des Krankenbettes und reichte Martinus eine Schnabeltasse mit Wasser.
»Und Müller hat die Geschichte so geschluckt? Keine misstrauischen Nachfragen?«, fragte Simon und Martinus schüttelte langsam den Kopf.
»Nein, alles ist glattgegangen. Sie vertraut mir. Aber Sie sagten, Sie hätten herausgefunden, in wessen Auftrag ich so zugerichtet wurde.«
»Haben wir«, bestätigte Simon. »Derselbe Mann, der Ihnen die Akte abgenommen hat, war es auch, der Greene umgebracht hat. Und heute hat er Sophie und mich im Hotel angegriffen. Wir konnten ihn überwältigen und zur Kooperation bewegen.«
Martinus sah ihn abschätzend an. »Nicht ganz freiwillig, nehme ich an. Ich will es gar nicht so genau wissen. Erzählen Sie einfach, was er gesagt hat.«
»Jonathan Jones«, flüsterte Simon.
Martinus richtete sich auf und riss sich fast die Kanüle in seinem Handrücken heraus. »Der Milliardär, auf dessen Party die Akte zum ersten Mal gestohlen wurde?«
Simon drückte den Agenten sanft zurück auf sein Kissen. »Seien Sie vorsichtig, Martinus. Sie bringen sich noch um, wenn Sie sich so aufregen. Und ja – es war Jones, der versucht hat, an die Formel zu kommen. Er wusste, was Greene da hatte, weil der vor dem Kongress Unterlagen einreichen musste, um Redezeit zu bekommen.«
»Aber warum musste er die Arbeit stehlen? Er hätte sie doch einfach kaufen können. Ich meine, das ist doch der Zweck dieses jährlichen Kongresses. Jones lädt sich ein paar Dutzend genialer Erfinder ein, prüft deren Projekte und entscheidet dann, an welchen er sich finanziell beteiligt. Greene hätte diese Chance doch mit Kusshand ergriffen.«
»Ich habe keine Ahnung, aber das ist auch nicht unsere größte Sorge. Fakt ist, dass Jones jetzt über alle Daten verfügt, die er braucht, um Greenes Entdeckung in die Praxis umzusetzen. Wir müssen sie ihm wieder abnehmen.«
Martinus schüttelte unwillig den Kopf. »Warum sollte uns das eigentlich noch kümmern? Wir haben die ganze Sache bis hierher lebend überstanden. Warum lassen wir es nicht gut sein? Soll dieser durchgeknallte Geldsack doch an sich herumexperimentieren.«
Martinus hatte offenbar genug. Simon konnte verstehen, dass der Agent wenig Lust verspürte, sich noch einmal in Gefahr zu begeben, aber er sah nicht das ganze Bild.
»Martinus, machen Sie sich doch nichts vor. Denken Sie wirklich, dass Jones uns als Mitwisser ungeschoren davonkommen lässt? Er könnte mit dieser Formel Milliarden machen, selbst unsterblich werden und nahezu unbegrenzte Macht erlangen. Versetzen Sie sich in seine Lage. Würde er riskieren, dass wir irgendwann an die Öffentlichkeit treten und ihn mit dem Mord an Greene in Verbindung bringen?«
Martinus sah ihn bestürzt an. »Scheiße«, flüsterte er frustriert.
»Ja, Scheiße hoch zehn«, pflichtete Simon ihm bei. »Wir haben leider nicht die Wahl, uns rauszuhalten. Solange Jones frei herumläuft und im Besitz der Formel ist, sind wir wandelnde Tote.«
Plötzlich richtete sich Martinus wieder in seinem Krankenbett auf und packte Simon am Ärmel. Er sah ihn eindringlich an und fragte: »Was ist mit dem Killer aus Ihrem Hotelzimmer? Was haben Sie mit ihm gemacht?«
Langsam, aber bestimmt löste Simon die Hände des Agenten von seinem Arm. »Den haben wir gut verschnürt im Bad an die Heizung gekettet. Ich fahre mit Sophie gleich wieder ins Hotel, und dann soll er uns zu seinem Boss führen.«
Erleichtert lehnte Martinus sich wieder zurück. »OK, das klingt gut. Aber was machen wir jetzt in Bezug auf Müller und Petersen? Die werden von jetzt an auch nicht ruhen, bis sie die Formel in ihren Händen halten.«
Das war ein Aspekt, den Simon noch gar nicht berücksichtigt hatte. Wenn jetzt noch eine Partei mitmischte, wurde die Situation extrem unübersichtlich.
»Wir müssen sie irgendwie beschäftigen. Viellicht kann Dawn eine falsche Spur legen.«
Martinus hob erstaunt die Augenbrauen. »Die durchgeknallte Computertussi? Die haben wir komplett unter Kontrolle. Dawn Widow macht keinen Schritt, ohne dass Müller davon erfährt.«
Der Blick, den Simon dem Agenten jetzt schenkte, schwankte zwischen Belustigung und Mitleid. »Wenn Sie glauben, Sie könnten eine Frau wie Dawn Widow kontrollieren, haben Sie keine Ahnung. Glauben Sie mir – Müller weiß nur, was Dawn sie wissen lassen will.«
»Aber sie hat keinen Zugriff auf einen Computer. Wir lassen sie nur unter Aufsicht arbeiten.«
Simon lachte herzlich. »Träumen Sie weiter, Mann.«
Dann stand er auf und warf seine Jacke über. »Wir fahren jetzt wieder zurück und holen aus dem Kerl raus, was wir können. Passen Sie in der Zwischenzeit auf sich auf. Ich würde lieber bleiben und Sie bewachen, aber das geht leider nicht.«
»Hauen Sie schon ab. Ich komme klar«, brummte Martinus schlecht gelaunt. »Und Stark.«
»Was?«
»Fassen Sie den Hurensohn nicht zu sanft an. Und lassen Sie mir was übrig.«