Kapitel 1
London Bridge, Tube Station – 03. Mai 2015, 19:30 Uhr GMT
Ragnar verließ die U-Bahn Station London Bridge und legte den Kopf in den Nacken, um den imposanten Anblick zu würdigen, der sich ihm bot. Das höchste und modernste Bürohaus Londons, das den bezeichnenden Namen The Shard trug, ragte unmittelbar neben dem Ausgang in den Himmel. Dreihundertzehn Meter – für eine europäische Großstadt wirklich bemerkenswert.
Irgendwo da oben würde er die nächsten Stunden verbringen und vermutlich weniger Nutzen daraus ziehen, als er sich erhoffte.
»Hey Cyborg13, is it you?«
Ragnar sah sich in die Richtung um, aus der die Stimme gekommen war. Wie erwartet, sah er seinen alten Bekannten Peter Melroy, den alle nur bei seinem Nachnamen nannten, winkend angelaufen kommen. Einen Mann im dunklen Anzug, mit dem er anscheinend gerade noch geredet hatte, ließ er einfach stehen. Ragnar glaubte, echte Verärgerung im Gesicht des Stehengelassenen zu erkennen.
Doch das war nicht sein Problem. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem heraneilenden Freund zu.
Der verrückte Melroy. Wer sonst hätte ihn auch mitten in London bei seinem Hacker-Namen rufen sollen?
»Hey Melroy«, rief er erfreut und winkte ebenfalls. Der Brite kam zu ihm und sie begrüßten sich mit einer herzlichen Umarmung.
»Wie ist dein Deutsch mittlerweile, Kumpel?«, fragte Ragnar und knuffte ihn freundschaftlich in die Seite. »Du weißt, dass mein Englisch beschissen ist, also tu mir den Gefallen«, bat er Melroy augenzwinkernd. Natürlich sprach Ragnar fließend Englisch, aber Melroy wollte unbedingt Deutsch als dritte Fremdsprache neben Spanisch und Arabisch meistern, sodass er Ragnar dankbar sein würde, wenn der ihn ein wenig an die Kandare nahm.
»Ganz OK, finde ich«, antwortete Melroy und sah Ragnar gespannt an.
Das war nahezu perfekt. Ragnar staunte nicht schlecht. Aber Melroy war eben ein Genie. Deshalb waren sie Freunde und deshalb waren sie heute auch hier verabredet. Ragnar und Melroy – zwei geniale Köpfe, die sich in den Tiefen des Internets gefunden hatten.
»Ich hoffe, dein Kumpel ist nicht allzu enttäuscht, dass du ihn abserviert hast«, sagte Ragnar. Melroy sah ihn fragend an.
»Na, der Typ da vorne«, erklärte Ragnar und deutete in die Richtung, aus der sein Kumpel gekommen war. Doch da stand niemand mehr. Der Anzugträger war verschwunden.
Melroy drehte sich desinteressiert um, sah ihn ebenfalls nicht mehr und zuckte mit den Schultern. »Den kannte ich gar nicht. War ein komischer Vogel. Der hat mich über die Konferenz ausgefragt, und ob ich mit der Greene-Gruppe bekannt sei.«
»Mit wem?«, fragte Ragnar verwirrt.
»Eine verschworene Clique von jungen Biologen, Genetikern und Computerfreaks. Ihr Sprecher ist ein gewisser Ryan Greene. Übrigens sind das genau die Leute, mit denen ich dich bekannt machen möchte. Aber frag mir jetzt noch keine Löcher in den Bauch. Lass uns erst mal ankommen.«
Ragnar war einverstanden und ließ dem Freund seinen Willen. »Warst du schon oben?«, erkundigte er sich stattdessen und deutete auf den Wolkenkratzer.
Melroy schüttelte den Kopf. »Bis jetzt waren die Dilettanten dran. Lohnt nicht, denen zuzuhören. Die brilliant guys kommen erst noch.«
»Zum Beispiel die Greene-Gruppe, nehme ich an?«, hakte Ragnar nach und biss sich dann auf die Zunge. »Entschuldige, ich sollte ja nicht ungeduldig sein. Lass uns einfach reingehen.«
***
Sie hatten die Rolltreppe zum Eingangsbereich für Angestellte und Bewohner von The Shard genommen. Dieser Bereich befand sich auf gleicher Höhe mit der zweiten Ebene der Station London Bridge. Sekunden, nachdem Ragnar und Peter Melroy durch eine der Drehtüren in die Lobby des Wolkenkratzers eingetreten waren, löste sich eine Gestalt aus dem Schatten einer der schmalen Säulen nahe dem Eingang. Es war der Mann, mit dem Melroy gesprochen hatte. Eiligen Schrittes huschte er über das Pflaster und erreichte die Drehtür, als Ragnar und Melroy drinnen gerade in einen der Aufzüge stiegen.
Als die Tür sich hinter den beiden schloss, eilte der Fremde zu dem nächstgelegenen Lift und behielt die Stockwerkanzeige des ersten im Blick.
Oberhalb des dreiundfünfzigsten Stockwerks befanden sich zehn sündhaft teure Luxuswohnungen. In einer der Wohnetagen hielt der Aufzug mit den beiden Freunden, und nun wusste auch ihr Verfolger, wo er hin musste. Die Einladung von Peter Melroy hatte er diesem im Verlauf des Gesprächs, das sie geführt hatten, aus dessen Jackentasche gezogen. Durch einen unauffälligen Schlitz in seiner Aktentasche hatte er das Billett einem darin verborgenen Scanner mit angeschlossenem Miniaturdrucker zugeführt, ehe er die Karte ebenso unauffällig wieder in die Tasche seines rechtmäßigen Besitzers zurückgeschmuggelt hatte. Er war damit gerade noch rechtzeitig fertiggeworden, bevor dieser Idiot ihn einfach hatte stehenlassen, weil er einen Bekannten erspäht hatte.
Der Mann wartete ab, statt in den Aufzug zu steigen, der sich Augenblicke später vor ihm öffnete. Er würde den nächsten oder übernächsten nehmen. So viel Zeit musste sein.
Nur zwei Minuten später verriet ihm ein leichtes Vibrieren in seiner präparierten Tasche, dass seine Leute, denen der Scanner das Dokument automatisch gesendet hatte, fertig waren. Er griff in den verborgenen Schlitz und zog vorsichtig ein Stück Papier heraus. Zufrieden betrachtete er sich das Ergebnis.
Das war seine Eintrittskarte zum Kongress der genialen Spinner. Sein Team hatte dafür gesorgt, dass sie jetzt inklusive Tarnnamen und Passbild auf seine Tarnidentität ausgestellt war.
»Idiotisches Theater« brummte er leise in sich hinein. Immerhin hätte ihm sein Auftraggeber auch ganz leicht ein offizielles Ticket für die Veranstaltung besorgen können. Doch das hatte der abgelehnt, weil er ihn dazu auf die Gästeliste hätte setzen müssen. Das wiederum hätte der Polizei später einen Ansatz liefern können, selbst wenn es sich um einen falschen Namen handelte.
In diesem Augenblick kam der Fahrstuhl wieder an und der Mann im Anzug stieg ein. Alles lief nach Plan.
***
Dresden, Elbwiesen – 03. Mai, 18:15 Uhr MEZ
Das Elbufer gegenüber der Dresdener Altstadt war an diesem Abend wegen des kühlen Wetters nicht so überlaufen wie die Tage zuvor. Das Hochdruckgebiet war abgezogen und der Himmel war bleigrau, ohne dass es regnete. Es war ein deprimierender, trostloser Tag. Nahe der Brücke trainierte ein glatzköpfiger Jongleur mit Metallkugeln, die er kunstfertig über seine Arme und Schultern rollen ließ.
Simon Stark blickte vom oberhalb des Ufers verlaufenden Gehweg hinunter an den Strand und beobachtete eine Gruppe junger Männer, die um ein Lagerfeuer herum stand und Bier trank. Aus einem mitgebrachten MP3 Player, der offenbar über eine Bluetooth-Box verstärkt wurde, schepperte Lärm, der nur entfernt an Musik erinnerte.
Trotzdem gab es so etwas wie einen Refrain, der jetzt einsetzte und den die alkoholisierten Halbstarken sofort begeistert mitgrölten.
Mann für Mann! Mann für Mann! Deutsche Eichen, die niemand mehr brechen kann, schrien sie sich den Text mit einer Mischung aus Hass und Begeisterung gegenseitig in die Gesichter. Simon musste lächeln. Nicht, weil ihm gefiel, was er hörte, sondern weil es leichter werden würde, als er gehofft hatte. Mit Alkohol im Hirn war vieles einfacher – wenn es nicht das eigene Gehirn war, sondern das des Gegners. Sie würden redselig sein, keine Frage. Simon würde ihnen ausreichend Gelegenheit geben, sich vor ihm zu produzieren.
Er versenkte die Hände in den Hosentaschen und schlenderte lässig den Hang hinab. Die Handhabung seiner hochtechnisierten Beinprothesen gelang ihm mittlerweile vollkommen unbewusst. Niemand, der ihn sah, würde auf die Idee kommen, dass er einen Krüppel vor sich hatte. Als er sich der immer noch laut grölenden Gruppe langsam näherte, fragte er sich plötzlich, wie es wohl Ragnar ergangen sein mochte. Der geniale Tüftler, der ihm seine High-Tech-Prothesen gebaut hatte, war von der Bildfläche verschwunden wie ein Geist, nachdem die blutige Konfrontation mit Schergen eines Immobilienhaies in Hamburg vorbei gewesen war. Ihm selbst und seiner Freundin Dawn Widow war das nicht gelungen. Der einzige Grund, warum sie jetzt nicht beide im Knast saßen, bestand in dem Deal, den sie notgedrungen mit dem Verfassungsschutz eingegangen waren. Dieser Kuhhandel hatte Simon an diesem grauen Tag an diesen Ort geführt.
Plötzlich hörte das Grölen auf und die kahlgeschorenen Proleten wandten sich Simon zu. Sie hatte ihn also endlich bemerkt.
Spatzenhirne, dachte Simon spöttisch und verkniff sich ein geringschätziges Grinsen. Ich bin bis auf zehn Meter an euch rangekommen, ohne dass ihr mich gesehen habt. Wenn das eine andere Art von Mission wäre, hätte ich euch alle schon ausgeschaltet.
Einer der Typen schaltete die Musik ab und ging auf Simon zu, als hätte er Rasierklingen unter den Achseln. »Was willst du, du Spasti?«, pöbelte er.
Simon hätte ihm am liebsten den Schädel eingeschlagen, aber das wäre das genaue Gegenteil von dem, was seine Führungsoffizierin Müller von ihm verlangte. Also riss er sich zusammen, versuchte, debil zu grinsen und hob den Daumen.
»Alter, endlich normale Leute«, rief er mit gespielter Begeisterung. »Geile Mucke, Alter. Ich bin Kalle.«
Dabei deutete er auf sich und lenkte damit beiläufig den Blick des Nazis auf seine Bomberjacke, wo auf der rechten Seite eine Reichskriegsflagge aufgenäht war. Für eine Tarnidentität war das fast schon zu dick aufgetragen, hatte Simon eigentlich gedacht, aber diese Typen waren dumpfer, als er erwartet hatte. Wenn man denen nicht mit dem Zaunpfahl winkte, kapierten sie vermutlich gar nichts.
Wie auch immer – es wirkte. Das Möchtegern-Alpha-Männchen entspannte sich und nickte Simon zu.
»Ein Kamerad ist immer willkommen. Komm ran hier«, sagte er und streckte seine Hand zur Begrüßung aus. Simon ergriff sie und drückte fest zu. Wieder musste er sich beherrschen. Er zwang sich, den Druck so zu dosieren, dass er zwar leicht unangenehm für den anderen war, ihm aber nicht die Hand brach. Er musste Stärke signalisieren, ohne bedrohlich zu wirken.
Sein Gegenüber verzog keine Miene, aber Simon erkannte an den sich weitenden Pupillen, dass er dennoch beeindruckt war.
»Mich nennen meine Jungs Stürmer. Und das sind Atze, Lars, Teddy und Bronko«, stellte der offensichtliche Boss dieses Haufens Simon seine neuen Freunde vor. »Woher kommst du? Ich hab dich in Dresden noch nie gesehen.«
Das erste Eis war gebrochen. Von jetzt an galt es, nach und nach das Vertrauen dieser Brüder zu gewinnen, damit sie ihn mit in der Hierarchie höher stehenden Leuten zusammenbrachten. Zu diesem Zweck hatte Frau Müller ihm eine wasserdichte Legende auf den Leib schreiben lassen, deren ersten Teil er jetzt preisgab.
»Ich bin aus Hamburg. Aber Dresden ist die deutschere Stadt an der Elbe. Deshalb habe ich hier rübergemacht.«
Er ließ seine Worte wirken. Nicht zu viel auf einmal preisgeben. Er durfte nicht wie eine Plaudertasche erscheinen.
»Ein Wessi, der in den Osten rübermacht. Ist ja der Hammer, Alter«, wieherte der, der sich als Stürmer vorgestellt hatte. »Was war denn los? Keine guten Fotzen in Hamburg? Willst wohl mal Dresdner Mädels an die Wäsche?«
Die anderen, Atze, Lars, Teddy und Bronko, stimmten in Stürmers dreckiges Lachen ein. Simon dagegen grinste nur schief und winkte ab. »Scheiß auf die Weiber«, entgegnete er. »In Hamburg gibt es eh nur Nutten und Kopftücher. Die ganze Kack-Stadt ist mir einfach zu links-grün versifft geworden. Hab dann im Fernsehen gesehen, dass ihr hier wenigstens was macht gegen die Asylbetrüger und Kameltreiber. Da will ich mitmischen.«
Stürmer kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und runzelte die Stirn. Er schien zu überlegen, was er antworten sollte. Damit hatte Simon nicht gerechnet. Diese Typen mochten dumm aussehen, aber anscheinend waren sie auch extrem misstrauisch. Was, wenn er den Bogen jetzt schon überspannt hatte? Hegte Stürmer den Verdacht, Simon könnte ein Spitzel sein? Wenn das hier schiefging, hätte er den Auftrag gleich am ersten Tag verbockt und Müller würde den Deal mit ihm und Dawn kalt lächelnd platzen lassen – und das hieß dann Gefängnis für lange Zeit.
»Wieso glaubst du, dass wir mit Pegida abhängen?«
Simon war verwirrt. »Ich denke, ihr seid Kameraden. Seid ihr nicht?«
Atze und Teddy sahen sich hinter Stürmers Rücken vielsagend an und rollten mit den Augen, als habe Simon den größten Schwachsinn von sich gegeben. Dann drehte sich Stürmer betont langsam zu seinen Leuten um, zuckte mit den Schultern und sagte: »Das muss echt ein Wessi sein. Keine Ahnung von nichts.«
»Dann klär ihn doch auf, Stürmer«, schlug Bronko, ein bestimmt an die zwei Meter großer Hüne, vor. Stürmer blickte die anderen drei fragend an, und als die alle zustimmend nickten, drehte er sich wieder zu Simon um.
»Komm mal mit zum Feuer und schnapp dir ein Bier. Jetzt gibt es erst mal ein paar Infos.«
***
The Shard - London – 03. Mai, 22 Uhr GMT
Ragnar hatte in den vergangenen vier oder fünf Jahren hinter vorgehaltener Hand schon viel über den jährlichen Kongress der unabhängigen Wissenschaftler unter der Ägide von Jonathan Jones gehört. Die Kongresse, die der Milliardär Jones bis zu seinem Umzug in den Wolkenkratzer auf seinem Landsitz nahe London abgehalten hatte, waren in der Wissenschaftsgemeinde ein Mythos. Da Ragnar sich normalerweise mit Leuten von Universitäten und offiziellen Forschungseinrichtungen austauschte, hatte er es bisher eher selten mit Typen zu tun gehabt, die etwas aus erster Hand über diese Treffen hätten berichten können. Hier versammelte sich die Elite derer, die unabhängig und im Untergrund forschten und experimentierten. Durchgeknallte Genies, esoterisch angehauchte Spinner und Verschwörungstheoretiker trafen hier auf Elitestudenten, Professoren mit privaten Zusatzinteressen und Weltklasse-Nerds. Jones machte da keine Unterschiede. Es war ihm anscheinend egal, wenn sich achtzig Prozent der Anwesenden lediglich an seinem Büffet satt aßen, statt revolutionäre oder auch nur fundierte Forschungsergebnisse zu präsentieren, solange er nur hin und wieder ein Juwel unter diesen Leuten fand, in das es sich zu investieren lohnte.
»Junger Mann, ich begrüße Sie herzlich in meinem bescheidenen Heim. Ich habe viel von Ihrer fortschrittlichen Arbeit in der Prothetik gehört. Extrem beeindruckend und interessant. Wir müssen später am Abend unbedingt bei einem guten Whisky ein wenig plaudern«, hatte Jones ihn begrüßt, und Ragnar war so perplex gewesen, dass er nichts zu antworten gewusst hatte. Er hatte den sagenumwobenen Mäzen einfach nur blöde nickend angestarrt, und dann war der auch schon im Gedränge verschwunden. Doch gleich darauf hatte ihm eine Frau, die entfernt an Vivian Westwood erinnerte, einen Zettel in die Hand gedrückt und ihm zugeflüstert »Mr. Jones erwartet Sie um Viertel nach zehn an seinem Tisch.«
Das musste die persönliche Assistentin von Jones gewesen sein, vermutete Ragnar. Aber wer auch immer sie war – ohne sie wäre seine Chance auf ein Gespräch mit Jones zum Teufel gewesen.
Jetzt wühlte er sich durch das Gedränge der in Grüppchen herumstehenden Kongressgäste und hielt Ausschau nach dem richtigen Tisch. Gerade, als er Jones erspähte, legte sich eine Hand auf seine Schulter und Melroy raunte ihm ins Ohr. »Da ist jemand, den du kennenlernen solltest«.
»Ich weiß«, zischte Ragnar seinen Freund nervös an. »Der sitzt da drüben, und er erwartet mich in einer Viertelstunde.«
Melroy pfiff anerkennend durch die Zähne. »Eine Privataudienz beim Gastgeber – Respekt, mein Lieber. Aber du hast ja noch eine Viertelstunde, wie du selbst sagst.«
Ragnar seufzte ergeben. »Also gut, du Nervensäge. Wen soll ich denn unbedingt kennenlernen? Eine Frau, mit der du mich verkuppeln willst? Ich habe zu Hause ein Mädchen.«
Ragnar sprach von Dawn Widow. Er nannte sie sein Mädchen, obwohl er nicht wusste, ob sie ihm sein plötzliches Untertauchen einfach so verzeihen würde. Hoffentlich geht es ihr gut, dachte er.
Aber Melroy schüttelte den Kopf und zog Ragnar mit sich. »Nein, du Dummkopf. Es geht um die Leute von der Greene-Gruppe. Die forschen genau zu deinem Schwerpunkt und haben anscheinend einen großen Durchbruch erzielt, den sie heute um Mitternacht bekanntgeben wollen. Aber du darfst zuerst davon hören.«
Jetzt wurde Ragnar doch noch hellhörig. Ihm war die Greene-Gruppe zwar noch nie begegnet, aber wenn sie einerseits zu seinem Spezialgebiet, der Langlebigkeit, forschten, und Jones ihnen andererseits den prominenten Mitternachts-Vortrag überlassen hatte, dann musste er einfach mit den Leuten reden.
»Was haben die entdeckt?«, fragte Ragnar seinen Freund, während sie sich durch die Besuchermassen quetschten. »Eine neue Vitaminmischung gegen freie Radikale? Einen Jungbrunnen? Jetzt mal ehrlich – so revolutionär kann das nicht sein. Nicht, wenn es sich um eine private Forschungsgruppe ohne universitäre Unterstützung handelt.«
Melroy ignorierte Ragnars Unken und er selbst wusste auch nicht, warum er das eigentlich tat. Einerseits war er Feuer und Flamme, wenn es um sein Thema ging, aber andererseits wusste er um die enormen Probleme, die sich ergaben, wenn man versuchte, den Alterungsprozess zu verlangsamen. Deshalb verbot er sich, allzu große Hoffnung in dieses Gespräch zu setzen. Vermutlich würde er schon den Forschungsansatz dieser Grünschnäbel argumentativ in der Luft zerreißen können, noch bevor sie überhaupt zu den Ergebnissen kommen konnten.
Der Brite blieb unvermittelt stehen und Ragnar, der noch ganz in Gedanken versunken war, lief mit gesenktem Kopf auf ihn auf und stieß sich die Stirn unsanft an Melroys Rücken. Verdattert rieb er sich das Nasenbein und blickte an Melroy vorbei auf eine Gruppe junger Männer. Es waren, bis auf einen, allesamt echte Eierköpfe wie aus dem Bilderbuch. Keiner von denen dürfte eine feste Freundin haben – oder je gehabt haben – tippte Ragnar. Außerdem waren Mate-Tee und Kartoffelchips in Verbindung mit einer Folge Big Bang Theory vermutlich das Verrückteste, was sie in ihrer Freizeit machten.
Nur einer stach aus diesem bemitleidenswerten Haufen hervor – und zwar deutlich.
»Ryan, das ist mein Kumpel Ragnar, besser bekannt als Cyborg13. Ragnar, darf ich vorstellen: Ryan Greene. Ich lasse euch dann mal alleine und besorge mir ein Bier. See you guys.«
Wenn der Rest der Gruppe aussah wie eine Looser-Kombo, die sich aus dem Mathe-Club und dem Debattierclub einer amerikanischen Highschool zusammensetzte, erinnerte Ryan Greene eher an das Klischee eines Quarterbacks aus dem Football-Team. Er war hochgewachsen, muskulös und hatte ein strahlend weißes Gebiss, mit dem er Ragnar angrinste, als begrüße er einen alten Freund.
»Der legendäre Cyborg13«, rief er. Jovial wie ein gelernter Politiker ergriff er Ragnars Hand mit der Rechten und legte seine Linke wie ein Dach über beide. Ragnar dachte, wenn jetzt ein Baby in der Nähe gewesen wäre, hätte der Typ es sich gegriffen und auf die Stirn geküsst. Es war offensichtlich, dass er es mit einem Blender zu tun hatte.
»Ja, das bin ich wohl«, entgegnete Ragnar herablassend und fügte dann spitz hinzu: »Von Ihnen habe ich bis dato allerdings noch nichts gehört, Mr. Greene.«
Diese Herabsetzung perlte an dem aalglatten Greene allerdings ab wie Regen an einem Lotus-Blatt. Das Grinsen wurde sogar noch breiter, als wäre Ragnars Bemerkung das Erfreulichste, was er an diesem Tag gehört hatte.
»Selbstverständlich haben Sie das nicht, mein lieber Freund. Ich verwende einiges an Energie darauf, meinen Namen aus der Öffentlichkeit herauszuhalten. Ich lasse lieber meine Arbeit als meinen Namen für mich sprechen.«
»Und die besteht genau worin?«, erkundigte sich Ragnar in immer noch demselben herablassenden Ton.
Jetzt schwoll dem Lackaffen deutlich sichtbar die Brust. Er schien es kaum durchzustehen, mit seiner bahnbrechenden Arbeit hinter dem Berg zu halten, aber Ragnar wusste, dass er in diesem Gespräch höchstens Andeutungen zu hören bekommen würde. Der Mitternachts-Vortrag war die Bühne, auf der dieser Fatzke seinen vermeintlichen Durchbruch zelebrieren würde. Ragnar war ganz offensichtlich nur als Fan auserkoren, der die Nachricht über das ganz große Ding auf der Party verbreiten sollte, um dem Auftritt die größtmögliche Aufmerksamkeit zu bescheren.
»Nun, werter Cyborg«, antwortete Greene. »Wie Sie sicher wissen, gibt es das Problem, dass wir zwar ein Enzym kennen, das den Alterungsprozess der Zellen stoppen kann, dieses Enzym aber gleichzeitig potenziell stark krebsfördernd wirkt.«
»Sie sprechen von der Telomerase, dem Enzym, das die stetige Verkürzung der Telomere bei der Zellteilung verhindert und damit die Zelle potenziell unsterblich macht. Ich kenne die Forschungen dazu. Und auch die Tatsache, dass sich mit der Gabe von Telomerase das Krebsrisiko signifikant erhöht, ist mir geläufig. Das unauflösbare Dilemma – wir machen die gesunden Zellen unsterblich, aber gleichzeitig die ohnehin schon sehr robusten Krebszellen auch. Das ist alles, mit Verlaub gesagt, nichts wirklich Neues.«
Ragnar hatte es ja geahnt. Ein Schaumschläger, der sich ein extrem schwieriges Phänomen vornahm und eine vermutlich hanebüchene neue Lösung dieses Problems vorschlagen würde.
Ich hätte mit meinem Arsch in Hamburg bei Dawn bleiben sollen. Die Bullen hätten mir sowieso nichts nachweisen können.
Auch dieser Einwand erschütterte Ryan Greene nicht im Geringsten. Stattdessen wendete er sich zu seinen breit grinsenden Mitstreitern um und feixte hinter vorgehaltener Hand mit ihnen. Dann drehte er sich wieder Ragnar zu und kam ganz nahe an ihn heran. Ragnar ließ ihn gewähren, als er seine Lippen dicht an sein Ohr führte und ihm zuflüsterte: »Wir haben die Unsterblichkeit gefunden, Cyborg. Eine Telomerase-Therapie ohne Nebenwirkungen.«
***
Dresden, Elbwiesen – 03. Mai, 23:00 Uhr MEZ
»Ich geh mal pissen«, lallte Stürmer und stakste sternhagelvoll in die Dunkelheit hin zum Elbufer. Simon hatte es tatsächlich geschafft, die anderen davon zu überzeugen, dass er derzeit keinen Alkohol trinken dürfe, weil er unter Antibiotika stehe. Er hätte zwar einiges riskiert, um den Job zu erledigen, aber ein Rückfall in seine Alkoholsucht gehörte nicht zu dem, was er für seine Freiheit in Kauf zu nehmen bereit war. Er erinnerte sich nur zu gut an den würdelosen Zustand, in dem er sich damals befunden hatte, als er in Hamburg als Obdachloser auf der Straße gelebt hatte. Der Alkohol in Kombination mit seinen wiederkehrenden Alpträumen von seiner Zeit als Soldat in Afghanistan war weit schlimmer und zerstörerischer gewesen, als es das Gefängnis jemals sein könnte.
Er blieb mit seinen neuen Freunden Teddy, Lars und Bronko am Feuer zurück. Atze war schon vor über einer Stunde nach hinten umgekippt und lag jetzt schnarchend und sabbernd etwas abseits im Gras. Sie hatte ihn tatsächlich in ihren Kreis aufgenommen. Als Erstes hatten sie ihm erklärt, dass sie nur am Rande etwas mit der Pegida zu tun hätten. Das seien alles bloß Spießer, die keine Eier in der Hose hätten. Klar, bei der einen oder anderen Demo war man natürlich am Anfang mitgelaufen, aber da kam man an die Ausländer und die Linken meist gar nicht ran, weil immer tausend Bullen da waren. Außerdem würde man da gefilmt, hatte Bronko erklärt. Wenn man später mal in den Untergrund gehen müsse, solle man aber lieber nicht zu oft gefilmt werden.
Bei dem Wort Untergrund hatte Simon aufgehorcht, jedoch nicht weiter nachgehakt. Er hatte niemanden durch neugierige Fragen misstrauisch machen wollen. Jetzt aber, da Bronko und die anderen beiden schon glasig guckten und der Anführer gerade nicht anwesend war, sah Simon die Gelegenheit gekommen, das Thema noch einmal aufzugreifen.
»Würdest du das denn machen? In den Untergrund gehen, meine ich.« Er hatte zwar Bronko gefragt, aber es war Lars, der schließlich antwortete.
»Es ist nicht die Frage, ob wir das machen würden. Das wäre selbstverständlich, wenn es im Sinne der nationalen Sache ist. Die eigentliche Frage ist doch, wie man das hinkriegt. In den Untergrund gehen – weißt du, was das bedeutet?«
Simon wusste das ziemlich genau, aber er schüttelte den Kopf und machte ein ahnungsloses Gesicht. Lars nickte, als habe er genau das erwartet.
»Du brauchst eine neue, unauffällige Identität. Dazu gehören Pass, Ausweis, Führerschein und der ganze Scheiß. Eine Bude brauchst du natürlich auch. Und Waffen – Waffen sind ganz wichtig. Und wenn du das alles hast, musst du auch noch aus deiner alten Umgebung verschwinden. Familie, alte Freunde – wenn es keine Kameraden sind -, Freundin und alle anderen, die du kennst, darfst du nicht mehr sehen. Das ist in den Untergrund gehen. Und wir würden das machen.«
»Aber selbst wenn ihr wollt – könnt ihr es denn auch?«, hakte Simon mit gedämpfter Stimme nach und rückte etwas näher an Lars und Bronko heran.
»Könnten wir«, antwortete Lars. »Alles schon abgecheckt, Alter. Wenn es morgen losgehen müsste, könnten wir starten. Wir haben Verbindungen …«
In diesem Augenblick tauchte Stürmer wieder aus der Dunkelheit auf und schob sich zwischen seine Kameraden und Simon. »Du quatscht zu viel, wenn du breit bist«, raunzte er Lars an und gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf.
»Nix für ungut, Kalle«, entschuldigte er sich bei Simon und machte eine versöhnliche Geste. »Du bist ein guter Kamerad, da bin ich sicher. Aber keiner muss gleich alles wissen. Da könnten wir ja gleich Plakate drucken.«
»Schon gut, das verstehe ich doch«, beeilte Simon sich, zu versichern. »Geht mich ja auch im Grunde nix an. Ich bin bloß so scheiße wütend auf das System, dass ich selbst schon lange darüber nachdenke, das Untergrundding durchzuziehen. Ich meine, so richtig mit allem Drum und Dran.«
»Ist spät geworden, Leute. Lasst uns mal verpissen jetzt.« Damit erhoben sie sich und stupsten den schlafenden Atze unsanft mit ihren Springerstiefeln wach.
»Abflug, du Leiche«, kommandierte Stürmer, woraufhin Atze tatsächlich wie von der Tarantel gestochen aufsprang und sich bemühte, Haltung anzunehmen. Das verriet Simon, dass dieser Haufen versoffener Schläger zumindest auf Stürmer hin hierarchisch ausgerichtet war und sie so etwas wie eine Kommandostruktur hatten. Vermutlich machten sie auch Wehrsportübungen und anderen pseudoprofessionellen Quatsch.
»Kann ich euch morgen wieder treffen?«, fragte Simon, als die fünf Nazis sich entfernten.
»Vielleicht sieht man sich mal wieder. Bis dann«, antwortete Stürmer und beendete damit das Beisammensein endgültig. Simon blieb allein am kleiner werdenden Feuer zurück. Das war bis zu diesem Punkt besser gelaufen, als er erwartet hatte. Morgen früh würde er der alten Schlange Müller Bericht erstatten. Sollte sie sich doch überlegen, wie sie ihn der Gruppe noch näher bringen konnte.
Für heute war er hier fertig. Simon wartete noch ein paar Minuten ab und machte sich dann auf den Weg in sein Hotel.
***
The Shard - London – 03. Mai, 22:10 Uhr GMT
»Eine Telomerase-Therapie ohne Nebenwirkungen?«, fragte Ragnar skeptisch nach. »Wie wollen Sie das wissen? Haben Sie Menschenversuche gemacht? Ich glaube kaum, dass Sie so weit gegangen sind.«
Greene grinste unbeirrt weiter und antwortete: »Aber natürlich nicht. Das wäre ja illegal. Nein, wir haben Computersimulationen und Tierversuche durchgeführt. Alles Weitere erfahren Sie nachher aus unserer Präsentation. Die Sensation steht kurz bevor. Ist alles hier drin«, dabei tippte Greene sich an die Schläfe, »und hier.« Er deutete vielsagend auf die Aktenmappe, die er unter den Arm geklemmt hatte.
Ragnar machte sich immer noch keine Hoffnung auf wirklich neue, bahnbrechende Erkenntnisse seitens der Greene-Gruppe. Ein Blick auf sein Handy erinnerte ihn aber an das unmittelbar bevorstehende Gespräch mit Mr. Jones. Davon versprach er sich schon wesentlich mehr. Er verabschiedete sich höflich von dem Dauergrinser und seinem Anhang und vergaß dabei nicht, ihnen viel Erfolg für die Mitternachtspräsentation zu wüschen. Danach beeilte er sich, zu seinem Termin mit Jones zu kommen. Leider würde er ihm das Patent an seinen Hightech-Prothesen nicht verkaufen können – das zugrundeliegende Knowhow hatte er ja von den Servern des Pentagons entwendet. Was aber durchaus drin sein konnte, war eine Art persönliches Stipendium für ihn. Ragnar hatte noch ein paar mehr Pfeile im Köcher, und einer davon würde vielleicht einen Nerv bei diesem exzentrischen Milliardär treffen.
***
Der Mann im Anzug hatte mit seiner gut gefälschten Eintrittskarte keinerlei Probleme gehabt, auf die Party zu gelangen. Nach wenigen Minuten hatte er Ryan Greene ausgemacht. Dessen Tross von handverlesenen Spezialisten verschiedener Fachbereiche war ihm die ganze Zeit überall hin gefolgt. Ein Zugriff würde also nicht ohne Aufsehen vonstattengehen.
Einige Zeit später beobachtete er, wie sich der Freund des Mannes, von dem er das Ticket kopiert hatte, mit Ryan Greene unterhielt. Der Mann im Anzug hatte schon vorher geahnt, dass es die Aktentasche war, in der sich das Material befand, auf das er aus war, doch als der eitle Greene am Ende seines Gespräches stolz lächelnd darauf deutete, wusste er es ganz sicher. Greene hatte sonst nichts bei sich. Ihm wurde weder ein Laptop noch eine Tasche hinterhergetragen. Um Mitternacht würde er seine Präsentation halten, und dann wäre die Katze aus dem Sack und die Begehrlichkeiten würden von allen Seiten an Greene herangetragen werden. Wenn er noch weiter auf die günstigste Gelegenheit warten würde, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass er die Chance ein für alle Mal verpasste. Es musste also jetzt über die Bühne gehen.
Der Mann im Anzug legte seine Hand an das Messer im Gürtel unter seiner Jacke und näherte sich Greene von hinten.
***
Ragnar wurde von Jones freundlich herangewinkt, als der ihn kommen sah. Die Aura des Mannes war beeindruckend und geradezu körperlich spürbar, stellte Ragnar fasziniert fest. Ebenso wie dieser Kongress war der Mann, der ihn veranstaltete, selbst ein Mythos. Er hatte in den letzten Jahrzehnten ein wahnwitziges Vermögen aufgebaut, indem er einfach immer genau zur richtigen Zeit in genau die richtige Idee investiert hatte. Clevere Aktienkäufe bis dato noch unbekannter Unternehmen wie Google oder Amazon, deren Wert später dann geradezu explodierte, machten dabei nur den kleinsten Teil aus. Wirklich umwerfend war sein Talent, Patente zu erwerben und für ein Vielfaches wieder zu veräußern und sich außerdem an genau den richtigen Firmen finanziell als stiller Teilhaber zu beteiligen.
»Der Bionik-Experte«, rief Jones erfreut, als Ragnar sich zu ihm setzte, und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. Der verzichtete darauf, Jones zu korrigieren. Im weitesten Sinne war er wohl auch ein Experte für Bionik. Das konnte man so stehen lassen. Den Versuch, etwas aus seinem tatsächlichen Spezialgebiet an Jones zu verkaufen, würden heute Andere machen. Allerdings würden die aller Voraussicht nach kläglich scheitern. Er hingegen war wild entschlossen, Jones und dessen Geld für sich einzunehmen.
In diesem Augenblick brach weiter hinten in dem riesigen Raum ein Tumult aus.
»Was ist da los?«, rief Jones seinen weiter vorn stehenden Wachleuten zu. »Seht gefälligst nach.«
Eine Frau kreischte voller Entsetzen, ein paar Männer brüllten irgendetwas Unverständliches und die Menge brandete auseinander wie eine Schafherde, in die der Wolf eingedrungen war. Ragnar sprang auf und versuchte, etwas zu erkennen. Er sah sofort, dass das Zentrum von dem Chaos dort war, wo er vor wenigen Augenblicken noch mit Ryan Greene gesprochen hatte. Den reglos am Boden liegenden Mann erkannte Ragnar deshalb sofort. Es war der einzigartige Mr. Greene, kein Zweifel – und seine Aktentasche war fort.
Aus dem Augenwinkel nahm Ragnar etwas Ungewöhnliches wahr. Sein mathematischer Verstand war auf Mustererkennung trainiert, und so fiel ihm ganz von selbst auch jede unnatürliche Unterbrechung eines Musters auf.
Was er bemerkte, war eine Gestalt, die sich entgegen der allgemeinen Fluchtrichtung in großer Eile vom Ort des Geschehens entfernte. Ohne zu wissen, was er eigentlich zu tun gedachte, setzte Ragnar sich in Bewegung und folgte dem Mann. Schon nach wenigen Schritten war er auf etwa zehn Meter an ihn heran und erkannte ihn plötzlich wieder. Das war der Typ, der vorhin vor dem Gebäude mit Melroy gesprochen hatte. Ragnar kam nicht dazu, sich zu fragen, was das zu bedeuten hatte, denn er registrierte, dass der Flüchtende etwas von sich warf. Nach wenigen Schritten erreichte Ragnar die Stelle und sah ein blutiges Messer auf dem Boden hinter einem großen Pflanzgefäß liegen. Auf den ersten Blick würde man es leicht übersehen, aber Ragnar wusste, wohin er schauen musste.
»Das darf doch nicht wahr sein«, stöhnte er und sein Magen schlug einen langsamen Salto. An den Anblick von Blut würde er sich nie gewöhnen. Er riss seinen Blick von dem Messer los und hetzte weiter hinter dem Anzugträger her. Der strebte eilig dem Notausgang zu, der ins Treppenhaus führte. Wenn Ragnar jetzt nichts unternahm, würde der Mörder entkommen.
»Da vorne, der Mann mit dem Anzug beim Notausgang. Das ist der Mörder. Ich hab´s gesehen«, schrie er in Richtung eines Wachmannes und gestikulierte wild in die Richtung, die er meinte. Der Flüchtende erstarrte mitten in der Bewegung und drehte sich irritiert um. Ragnar sah, wie der Anzugträger große Augen bekam, als er den Wachmann in seine Richtung rennen sah. Nach einer Schrecksekunde bekam er sich wieder in den Griff und setzte seine Flucht fort. Ragnar war dichter an dem Mann dran als der Wachmann, also setzte auch er sich wieder in Bewegung, um die Verfolgung aufzunehmen. Er fragte sich zwar, was zur Hölle ihn eigentlich ritt, einen gewalttätigen Killer zu verfolgen, aber er beruhigte sich mit dem Gedanken an das Messer, das der Kerl weggeworfen hatte. Er war jetzt mutmaßlich unbewaffnet, was Ragnar das Risiko kalkulierbar erscheinen ließ. Außerdem hatte der Typ Greenes Aktentasche geraubt und trug sie immer noch bei sich. Das konnte nur bedeuten, dass es jemanden gab, der in Greenes Arbeit mehr sah als Ragnar.
Wenn er sich tatsächlich in diesem Angeber Greene getäuscht haben sollte und dieser Durchbruch in der Unsterblichkeitsforschung wirklich existierte, dann musste er einfach an der Sache dranbleiben. Vielleicht konnte er dem Mörder sogar die Tasche abnehmen.
Der Killer erreichte den Notausgang, riss die Tür auf und schlüpfte hindurch. Die mit der Tür gekoppelte Alarmanlage sprang an und erfüllte den Raum mit einem durchdringenden Warnton.
»Einen Arzt, schnell! Der Mann lebt noch«, hörte Ragnar eine junge Frau rufen, bevor er selbst die Tür erreichte und sie aufriss.
Wenigstens ist er nicht tot, dachte er erleichtert und schwor sich, den fabelhaften Mr. Greene im Krankenhaus zu besuchen, wenn er es schaffen sollte. Er fühlte sich schuldig, so schlecht über jemanden gedacht zu haben, den gleich darauf ein solch furchtbares Unglück getroffen hatte.
»Halten Sie die Tür auf«, schrie der Wachmann, der mit hochrotem Kopf angesprintet kam. Ragnar blieb nichts anderes übrig, als dem nachzukommen. Hätte er die Tür einfach hinter sich zufallen lassen, um die Verfolgung ungebremst fortzusetzen, wäre der Sicherheitsmann im vollen Lauf dagegen geprallt. Noch mehr schlechtes Karma wollte sich Ragnar heute sicher nicht mehr aufladen.
Statt sich zu bedanken, rannte der andere einfach an Ragnar vorbei ins Treppenhaus und ließ ihn stehen.
»Stehen bleiben! Bleiben Sie verdammt noch mal stehen«, hörte er den Security-Mann brüllen, als er aus seinem Blickfeld verschwunden war und bereits die erste Treppe hinabpolterte.
»Mich hängst du nicht ab«, schnaubte Ragnar und rannte hinterher. Er konnte jetzt nur noch an diese Aktentasche denken und daran, welches Geheimnis sie bergen mochte.
Zwei Stockwerke tiefer hatte er so weit aufgeholt, dass er den Wachmann sehen konnte, der wiederum bereits ein gutes Stück zu dem Anzugträger aufgeschlossen hatte. Der Verfolgte blickte im Rennen immer wieder gehetzt nach hinten, um den Abstand zu seinem Verfolger abschätzen zu können. Dadurch wurde er aber auch immer wieder etwas langsamer, sodass sein Vorsprung von Sekunde zu Sekunde schmolz.
Als der Wachmann nur noch vier oder fünf Stufen hinter dem Killer war, schleuderte der nach einem letzten Blick über seine Schulter die erbeutete Aktentasche nach hinten und traf die Beine seines Verfolgers in vollem Lauf.
Alles ging so schnell, dass der Mann im Sturz nicht mal schreien konnte, eher er auf den harten Stufen aufschlug. Der Wachmann überschlug sich mehrfach, ehe er am Absatz der Treppe zu liegen kam. Dort blieb er reglos und unnatürlich verdreht liegen. Ragnar trudelte benommen die letzten paar Meter die Treppe hinunter, bis er geschockt bei dem leblosen Körper ankam. Ihm war klar, dass der Mann sich zahlreiche Brüche zugezogen haben musste und vermutlich tot war. Er sah jedenfalls tot aus, soweit er das beurteilen konnte.
»Hilfe!«, schrie er mit brüchiger Stimme. »Zu Hilfe, wir brauchen einen Arzt.«
Dann fiel sein Blick auf den im unnatürlichen Winkel überstreckten Nacken des Wachmanns und sein Magen kapitulierte. Ragnar erbrach sich keuchend neben den Leichnam und ging zitternd in die Knie. Von oben hörte er bereits andere Menschen die Treppe runter rennen. Hilfe war also gottlob unterwegs. Vielleicht lebte ja auch dieser tapfere Kerl noch, dachte Ragnar. Viel Hoffnung hatte er aber nicht.
»Oh, mein Gott«, rief ein Mann, der jetzt am oberen Treppenabsatz erschien und die Szene überblickte. Mit wenigen Schritten war er bei Ragnar und legte ihm besorgt seine Hand auf den Rücken. »Alles in Ordnung bei Ihnen? Sind Sie verletzt?«, erkundigte sich der Fremde.
Ragnar nickte schwach und röchelte. »Mir geht es gut. Aber der Wachmann – ich glaube, er ist …«
»Schon gut«, beruhigte ihn der Helfer und beugte sich prüfend zu dem verdrehten Körper hinab. Nachdem er Puls und Atmung überprüft hatte, richtete er sich seufzend auf. »Der Mann lebt nicht mehr.«
Ragnar schloss wieder die Augen. Hatte er nicht damals in Hamburg mit Simon und Dawn schon genug Schreckliches durchgemacht? Hörte das in seinem Leben denn gar nicht mehr auf?
»Hier, nehmen Sie Ihre Aktentasche und gehen Sie nach oben. Wir müssen das Treppenhaus für den Notarzt freimachen. Der wird sicher bald hier sein«, sagte der herbeigeeilte Helfer. Er zog Ragnar hoch und drückte ihm die Tasche in die Hand.
Verwundert und benommen glotzte Ragnar auf das, was er plötzlich in seinen Händen hielt. Der Anzugträger war bereit gewesen, dafür zwei Menschen zu töten. Ragnar hatte das Risiko auf sich genommen, einen Killer zu verfolgen. Jetzt war einer tot, einer schwer verletzt und der Täter, der diese Tasche wollte, war irgendwo da draußen.
»Das ist doch Ihre Tasche?«, vergewisserte sich der Mann, der sie ihm übergeben hatte, noch einmal.
»Ja, meine Tasche, vielen Dank«, hörte Ragnar sich lügen und drückte das Leder unwillkürlich fester an seine Brust.
Ich komme mir vor wie Gollum, der seinen Schatz nicht hergeben will, dachte er beschämt. Doch er konnte nicht dagegen an. Diese Tasche enthielt Antworten, und davon brauchte er im Moment jede Menge. Ragnar drehte sich um und verschwand. Statt zurück in das Stockwerk zu gehen, wo der Kongress so brutal unterbrochen worden war, ging er eine Treppe höher und kauerte sich auf die Stufen. Dort wartete er so lange, bis die Leiche aus dem Treppenhaus geborgen war und sich niemand mehr dort aufhielt. Dann erhob er sich und lief die ganzen vierundfünfzig Stockwerke nach unten.
Als er endlich aus dem Gebäude raus war und die Rolltreppe ihn auf den Vorplatz des Gebäudes gebracht hatte, war es beinahe Mitternacht. Nur wenige Minuten hätten Greene und seine Gruppe jetzt noch von ihrem Triumph und die Welt von einer Sensation getrennt – wenn tatsächlich stimmte, was Greene behauptet hatte. Statt sich in die U-Bahn zu setzen, beschloss Ragnar, dass frische Luft und ein langer Spaziergang ihm guttun würden. Er würde zur Themse laufen und von dort den ganzen Weg nach Bayswater, wo sein Hotel war. Er hatte es nicht eilig, anzukommen, denn sobald er das Zimmer betrat, würde er die Tasche öffnen und der Wahrheit ins Auge blicken müssen. Auf diesen Nervenkitzel konnte er gut noch zwei weitere Stunden verzichten.
Die Ampel gegenüber dem Bahnhof stand auf Rot, aber in London gewöhnte man sich schnell an, statt auf die Lichtsignale zu achten, nur den Hinweisen look right oder look left zu folgen, die an jedem Überweg auf den Asphalt gepinselt waren. Alles andere verriet einen sofort als Tourist.
Ragnar hatte die um diese Uhrzeit fast ausgestorbene Straße gerade zur Hälfte überquert, als ein Motor aufheulte und ein schwarzes Taxi mit quietschenden Reifen vom Straßenrand in ungefähr dreißig Metern Entfernung von rechts kommend losbrauste. Was für ein Spinner, schoss es Ragnar durch den Kopf, doch dann realisierte er, dass der Wagen geradewegs auf ihn zuhielt.
Er erfasste intuitiv, dass der bessere Fluchtweg wieder zurück, statt weiter auf die andere Straßenseite führte, denn der Fahrer des Taxis schien genau darauf zu spekulieren und lenkte bereits zur Straßenmitte hin. So schnell er konnte, drehte er sich um und rannte in Richtung Bahnhofseingang. Dabei zwang er sich, nicht zurückzuschauen, sondern alle Energie aufs Vorwärtskommen zu verwenden. Hinter sich hörte er erneut Bremsen quietschen, dann wieder das zornige Aufheulen des Motors und schließlich ein Krachen und Scheppern, das vermutlich daher kam, dass der Wagen mit hoher Geschwindigkeit zuerst über den Kantstein und dann durch die Schranke auf dem Vorplatz gerast war. In der Eingangshalle war er also nicht sicher. Der Typ würde ihn so lange jagen, bis er ihn überrollen konnte. Vor den allgegenwärtigen Verkehrskameras schien der Verfolger jedenfalls keine Angst zu haben. Ragnar erreichte in höchster Not die Rolltreppe, die zur Eingangsebene von The Shard hinaufführte, und nahm die ersten paar Stufen mit großen Sprüngen. Sekundenbruchteile später krachte das Fahrzeug gegen die Rolltreppe und Ragnar wurde durch die Erschütterung zu Boden geworfen. Er rappelte sich wieder auf, doch hörte er bereits, wie unten die Autotüren aufgerissen wurden.
Ein Blick zurück offenbarte ihm, dass in dem Wagen zwei Männer gesessen hatten. Sie sprangen heraus und Ragnar konnte sehen, dass sie bewaffnet waren. Der Gedanke an sein bevorstehendes Ende verlieh ihm einen zusätzlichen Energieschub und schon war er wieder auf den Beinen. Jetzt rannte er um sein Leben. Er rechnete jede Sekunde damit, dass sie ihn von hinten niederschießen würden, doch das taten sie nicht. Dazu war einer der größten Londoner Bahnhöfe anscheinend selbst diesen Wahnsinnigen ein zu öffentlicher Ort. Wo blieb nur die Polizei? Rund um die Station musste es doch irgendwo eine Streife geben, die das Krachen gehört hatte, als das Taxi in die Rolltreppe gerauscht war.
Oben angekommen rannte er in den Bahnhof. Er musste dorthin, wo Menschen waren. In die Tube konnten sie ihm einfach nicht folgen, denn an den Durchgängen stand normalerweise Bahnpersonal. Sie würden nicht riskieren, ihn sich dort zu greifen. Trotzdem wollte er von sich aus auch kein Aufsehen erregen. Er hatte kein Interesse daran, erklären zu müssen, warum er verfolgt wurde. Deshalb zog er im Rennen bereits seine Oyster Card, die elektronische Chipkarte, die den Zugang zu allen Tube-Stationen gewährte, aus der Tasche. An den Durchgängen angekommen, hielt er die Karte gegen den Scanner und die Sperre öffnete sich. Hinter ihm dröhnten die Schritte seiner Verfolger durch die Halle. Sie hatten immer noch nicht aufgegeben. Ragnar hetzte weiter, nahm eine der Treppen, ohne nachzudenken, welche Linie von dem Bahnsteig fuhr, zu dem sie führte, und erreichte eine knappe Minute später einen der Bahnsteige. Die Anzeige verriet ihm, dass der nächste Zug erst in zwei Minuten einfahren würde. Das war viel zu lange.
Ragnar rannte bis zum hinteren Ende des Bahnsteiges und drückte sich platt gegen die Wand. Sekunden später hörte er seine beiden Verfolger kommen. Augenblicke später hatten sie ihn entdeckt und kamen langsam auf ihn zu. Er konnte ihre Waffen zwar nicht sehen, aber wusste, dass sie diese noch bei sich haben mussten. Was würden die jetzt mit ihm machen? War es denn möglich, dass sie ihn hier, an Ort und Stelle und vor all den Überwachungskameras umbrachten? Das war zwar schwer vorstellbar, aber Ragnar hatte nicht vor, das wirklich herauszufinden. Kurzentschlossen sprang er auf die Gleise und rannte in den Tunnel hinein. Sekunden später ertönten Lautsprecherdurchsagen auf dem Bahnsteig hinter ihm. Offenbar waren auch seine Verfolger in den Tunnel gelaufen, und das war bemerkt worden.
Ragnar hoffte inständig, dass endlich Sicherheitspersonal auftauchen und ihn festnehmen würde, denn er konnte allmählich kaum noch rennen. Seine Ausdauer war nicht besonders gut, sodass ihn die fortgesetzte Flucht nun an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit brachte. Da hörte er aus dem Dunkeln vor ihm das Geräusch der nahenden U-Bahn.
Gleichzeitig peitschten jetzt Schüsse durch den Tunnel. Die Killer gingen aufs Ganze. Der Lärm war ohrenbetäubend und Ragnars Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Vor ihm der Zug, hinter ihm die Jäger mit den Pistolen. Wo sollte er jetzt noch hin?
Dann hörte er plötzlich lautes Gebrüll vom Bahnhof her. Ragnar drehte sich in diese Richtung um. Polizei war dabei, in den Tunnel zu steigen – endlich die Polizei. Sie schrien die bewaffneten Männer an, dass sie die Waffen wegwerfen und sich ergeben sollten. Gleichzeitig ertönte hinter Ragnars Rücken ein nervtötendes, metallisches Kreischen.
Das Notbremssystem hat ausgelöst, schoss es ihm durch den Kopf. Er stand mitten auf den Gleisen, den Rücken zum herannahenden Zug gewandt, und war unfähig, seinen Blick von seinen Verfolgern abzuwenden. Dass der Zug rechtzeitig zum Stehen kam, machte ihm weniger Sorgen als die Frage, ob einer von denen nicht doch noch schießen und ihn töten würde, ehe die Polizei ihn daran hindern konnte.
Doch plötzlich waren die beiden einfach verschwunden. Ragnar dachte, er würde halluzinieren, aber sie waren tatsächlich nicht mehr da. Dann erreichten die Polizisten die Stelle, an der gerade noch die bewaffneten Männer gestanden hatten, und auch sie verschwanden einer nach dem anderen. Sie schienen einfach durch die Wand zu gehen. Jetzt fiel Ragnar ein, dass er an einer Metalltür vorbeigekommen war, die etwa auf der Höhe liegen musste, wo jetzt dieses merkwürdige Schauspiel vor sich ging. Die beiden Männer waren also durch diese Tür geflohen und die Polizisten folgten ihnen jetzt.
Sekunden später war Ragnar allein im Tunnel. Das Kreischen der Zugbremsen hörte so abrupt auf, wie die Männer aus dem Tunnel verschwunden waren. Das war alles vollkommen verrückt. Vor Sekunden wurde er noch von Männern mit Pistolen durch die Londoner U-Bahn gehetzt, er hatte den Tod vor Augen und Adrenalin in den Adern, und plötzlich herrschte vollkommene Stille und sein Kopf war leer.
Wie in Trance setzte Ragnar sich in Bewegung und ging langsam durch den Tunnel zurück zum Bahnsteig.
Er verließ den Bahnhof und trat den Heimweg zu Fuß an, wie er es vorhin schon vorgehabt hatte. Auf diesem Weg hatte er viel Zeit zum Nachdenken. Eigentlich hätte er zur Polizei gehen und alles erzählen sollen. Das war ja nicht sein Problem, und die Polizei würde sich der Sache annehmen. Aber da gab es einen Haken: die Aktentasche. Die würden sie ihm wegnehmen. Andererseits würde er ohne fremde Hilfe vermutlich nicht lange überleben. Der Inhalt der Tasche war mit Sicherheit nicht nur der Grund für den Mord an Greene, sondern auch dafür, dass ihn zwei wildgewordene Killer erst überfahren und dann erschießen wollten. Die würden es wieder versuchen, soviel war klar.
Ragnar überlegte hin und her, doch die einzige Lösung für sein Problem, auf die er kam, gefiel ihm ganz und gar nicht: Er würde Simon Stark um Hilfe bitten und ihn damit in diesen Schlamassel mit hineinziehen müssen.
***
Hotelzimmer in Bayswater, 04.Mai gegen 02:00 Uhr morgens
Es war verwirrend. In diesem Koffer lag tatsächlich der Schlüssel zum ewigen Leben, soweit Ragnar das in der Kürze der Zeit überblicken konnte. Nur dass dieser Schlüssel lediglich eines von zwei Schlössern zum Versteck öffnete.
»Da fehlt was, verdammte Scheiße. Das ist nur die eine Hälfte von allem.« Ragnar fluchte. Das war nicht einfach nur irritierend, es war frustrierend. Erstens hatte er nicht die Antworten, die er so dringend wollte, und zweitens jagte man ihn offenbar für etwas, das für jeden anderen ebenso nutzlos sein würde wie für ihn.
Die interessanteste Information dieses Fragments war die Schilderung eines Tierversuches. Greene hatte offenbar seinen eigenen Beagle für dieses Experiment missbraucht. Allerdings fehlte ein Verlaufsprotokoll des Versuches, sodass nur klar war, dass er stattgefunden hatte, nicht, ob er erfolgreich gewesen war.
Wer immer Greenes Arbeit vollständig verstehen und seine Ergebnisse reproduzieren wollte, brauchte zwingend den fehlenden Teil der Aufzeichnungen. Doch Ragnar brauchte jetzt weit mehr als das – er benötigte Schutz. Jemanden, der es mit bewaffneten Killern aufnehmen konnte, hätte er jetzt gern hier gehabt. Es half nichts – er musste Simon anrufen. Er musste nur noch ein paar Stunden schlafen.