Kapitel 4
Hamburg, 05. Mai, 17:00 Uhr, Lokstedt.
Frieder fand allmählich Gefallen an der Sache. Anfangs war er sich noch leicht schäbig dabei vorgekommen, dieser Frau nachzugehen, sie heimlich zu beobachten und zu fotografieren, aber diese falsche Scham hatte er mittlerweile vollständig abgelegt.
Er musste sich einfach nur in Erinnerung rufen, dass er mit ihr nur das tat, was für sie Alltag war. Er spionierte eine Spionin aus. Das konnte er mit seinem Gewissen vereinbaren. Und für Dawn und Simon würde er ohnehin fast alles tun – egal, wie schwer es ihm fiele.
Dawn hatte ihm eingeimpft, nie in ihrem Sichtfeld aufzutauchen. Er sollte sie aus der Ferne im Auge behalten, feststellen, wo sie hinging und mit wem sie sich wann und wo traf. Mehr war nicht gefordert. Es war davon auszugehen, dass sie eine engmaschige Beschattung schnell bemerken würde. Immerhin war es ihr Job, selbst Observationen zu organisieren.
Am Anfang war es gar nicht einfach gewesen, ihr zu folgen. Am ersten Tag hatte Dawn ihm nur sagen können, wo diese Frau Müller um eine bestimmte Uhrzeit sein würde. Sie hatte das selbst nur durch das heimliche Belauschen eines Telefonates mitbekommen. Als Frieder die Agentin dann tatsächlich zur angegebenen Zeit an diesem Ort entdeckt hatte, war er sicher, nun binnen kurzer Zeit alles über sie zu erfahren - natürlich hauptsächlich ihre Privatadresse, auf die Dawn es besonders abgesehen hatte.
Da hatte er sich allerdings gründlich getäuscht. Müller verhielt sich den ganzen Tag über so, als würde sie jederzeit davon ausgehen, überwacht zu werden. Sie stieg in letzter Sekunde aus einem Bus wieder aus, in den sie gerade erst eingestiegen war, wechselte häufig die Straßenseite, wobei sie sich ausgiebig umsah, und sie wechselte gerne zwischen Taxi, U-Bahn und Bus, wobei sie zwischendurch immer wieder einige Minuten Fußweg einstreute. Diese Art der Fortbewegung musste extrem entnervend und zeitraubend sein, vermutete Frieder und konnte nicht umhin, Müller für diese Disziplin zu bewundern.
Nach ein paar Tagen und nachdem er sie oft verloren hatte, begann Frieder dann, ein Gespür für diese Frau zu entwickeln. Er hatte von Dawn zwischenzeitlich zumindest Müllers Büroadresse bekommen, sodass er sich dort auf die Lauer legen konnte, bis sie Feierabend machte oder zu einem Termin ausrückte.
Durch die tägliche Verfolgung und anfangs noch häufigen Frustrationen, wenn ihm wieder mal ein Bus vor der Nase wegfuhr, in den sie völlig unvermittelt gesprungen war, lernte er viel über Müller. Zum Beispiel hatte sie einen Rechtsdrall. Wenn sie also auf der linken Straßenseite lief, war es um ein Vielfaches wahrscheinlicher, dass sie in einen ihr entgegenkommenden Bus stieg, als wenn sie rechts ging und der Bus von hinten an ihrer linken Seite vorbei fuhr.
Solche Zeichen vermochte Frieder zu erkennen. Ähnlich wie Ragnar, war auch er extrem gut darin, intuitiv Muster und Regelmäßigkeiten zu sehen.
Heute jedenfalls hatte er es zum ersten Mal geschafft, Müller bis zu ihrer Privatadresse zu folgen. Ein Blick durch das Küchenfenster, von der anderen Straßenseite aus, bestärkte Frieder in dieser Vermutung. Müller öffnete den Kühlschrank und holte eine Milch heraus. Dann machte sie sich ein Müsli und verschwand wieder aus der Küche. So verhielt man sich nur in der eigenen Wohnung. Endlich konnte er Dawn diese wichtige Information liefern. Und noch viel wichtiger: Er wusste nun, wo er Müller abends antreffen konnte. Keine entnervenden Verfolgungsjagden mehr.
Frieder lächelte erschöpft und zog sich zwei Straßenzüge weit zurück. Er tippte die frohe Botschaft in sein Handy und sendete die Nachricht an Dawns geheime Nummer. Schon morgen würde sie davon erfahren.
***
Das Müsli war gut, aber nicht das, was sie jetzt brauchte. Müller war erregt. Jede Minute konnte Petersen auftauchen. Bei dem Gedanken daran wurde sie feucht. Sie ging wieder in die Küche, stellte die halb leere Schüssel zurück auf die Spüle und holte sich die Flasche Champagner aus dem Türfach. Um locker zu werden, trank sie schnell hintereinander zwei Gläser und wartete auf das angenehm euphorisierende Gefühl, das sich kurz darauf auch zuverlässig einstellte.
Als zehn Minuten später das Wummern der aufgemotzten Harley Davidson durch das gekippte Fenster von draußen erklang, lag sie schon, nackt bis auf die knielangen Latexstiefel, auf ihrem Bett und zitterte vor Lust. Die Haustür hatte sie angelehnt gelassen.
Der Motor verstummte. Kurz darauf knarrte die Haustür und wurde dann ins Schloss geworfen. Langsame, schwere Schritte dröhnten aus dem Korridor. Müller drehte sich um und hockte sich auf die Knie, sodass ihr Hintern der Schlafzimmertür zugewandt war. Sekunden später hörte sie, dass jemand den Raum betrat. Sie hielt es kaum noch aus. Als plötzlich zwei Hände in Lederhandschuhen auf ihre Pobacken klatschten, schrie sie ekstatisch auf. Reißverschlüsse wurden geöffnet, etwas Schweres fiel zu Boden, und dann kniete sich jemand hinter sie und drang ohne ein Wort sofort in sie ein.
Das Augenpaar, das zwischen den Zweigen des Rhododendrons vor dem Fenster hineinspähte, sah sie nicht.
***
London, Oxford Street, 05. Mai 16 Uhr GMT
Martinus war zwar zunächst stinkwütend geworden, als Simon ihm eröffnete, dass ihm bereits in Dresden Zeit und Ort für ein Treffen mit dem Kontaktmann mitgeteilt worden seien, aber ändern konnte er daran nichts.
Simon hatte vor, Martinus seinen Freund Ragnar als den Kontaktmann vor Ort zu verkaufen. Jetzt stand er seit zehn Minuten vor dem imposanten Eingangsbereich des riesigen Kaufhauses Selfridges an der Oxford Street und beobachtete die vorüberziehenden Menschentrauben. Martinus wartete in sicherer Entfernung auf der anderen Straßenseite an einem Eisstand und konnte Simon von dort aus vermutlich gerade noch erkennen. Details würde er auf diese Distanz allerdings nicht ausmachen können. Das konnte Simon nur recht sein.
Da sah er auf einmal, wie sich Ragnar von links näherte und den Kopf nach allen Seiten reckte. Er hatte eine Tasche dabei, die er fest an den Körper gedrückt hielt. Darin musste sich etwas Wertvolles befinden. Simon vermutete, dass es sich um die Aufzeichnungen des Ermordeten handelte, wegen der jetzt irgendjemand hinter seinem Freund her war.
Obwohl Simon direkt mittig vor dem Eingang stand und alle, die ins Kaufhaus rein oder raus wollten, um ihn herumgehen musste, brachte Ragnar es fertig, ihn zu übersehen. Hätte Simon ihn nicht am Arm festgehalten, wäre er einfach an ihm vorbeigelaufen.
»Simon, meine Güte«, rief Ragnar und fasste sich an die Brust. »Ich wäre fast draufgegangen vor Schreck.«
Ragnar war nie ein Held gewesen und würde auch keiner mehr werden, das stand fest. Er war schreckhaft und ängstlich. Doch Simon wusste, dass er zur Not auch weit über sich hinauswachsen konnte. Er hatte es einst in Hamburg gesehen.
»Ruhig Blut, wir werden beobachtet«, raunte Simon ihm zu.
Ragnar zuckte zusammen, vermied es aber, sich umzusehen.
»Was? Von wem?«
»Ich habe einen Aufpasser vom Verfassungsschutz mit. Dass ich dich als Neonazi-Kontakt ausgeben muss, hatte ich dir ja gesagt. Du erinnerst dich?«
»Sicher, weiß ich noch. Aber jetzt zu meinem Problem.« Ragnar deutete auf die Tasche, die er immer noch fest umklammert hielt.
Simon war der Ort zu unübersichtlich. Wenn sie außer von Martinus noch von jemand anderem beobachtet wurden, war es hier fast ausgeschlossen, das zu bemerken.
»Wir müssen weg von der Straße. In dem Kaufhaus gibt es ein Dachrestaurant. Gehen wir.«
Zu gerne hätte er sich nach Martinus umgedreht, als sie ins Kaufhaus verschwanden. Dem klappte wahrscheinlich gerade die Kinnlade runter, weil sie sich ihm entzogen. Sollte er doch was tun für sein Gehalt und sich in Bewegung setzen. Allerdings würde er dann auch fürchten müssen, aufzufliegen. Dem Observierten zu nahe zu kommen, war nicht ratsam, wenn man kein ganzes Team hatte. Mehrere Verfolger, die sich abwechseln, sind nicht so leicht zu entdecken wie das eine Gesicht, das einem immer und überall wieder begegnet. Simon wusste, wie Agenten denken, und rechnete sich deshalb gute Chancen auf ein wirklich unbeobachtetes Zusammensein mit Ragnar aus.
Im Restaurant angekommen, wählte Simon einen Tisch, der möglichst weit weg vom Eingang stand. Er drehte einen der schwarzen Holzstühle so, dass er selbst mit Blick zur Tür saß. Ragnar wies er an, sich ihm direkt gegenüber hinzusetzen. Er wollte, dass sein Freund sich auf ihn konzentrierte und nicht seinerseits dauernd zur Tür schielte.
»Also gut. Bist du seit unserem Anruf zurechtgekommen? Hast du noch mal jemanden von denen gesehen?«
»Nein, ich bin in der Menge untergetaucht. Die Nacht habe ich im Park verbracht und den Tag über bin ich herumgelaufen. Ein Hotelzimmer zu nehmen, habe ich mich nicht getraut. Da würde ich mir wie in einer Rattenfalle vorkommen.«
Simon überlegte, ob er Ragnar besser verschweigen sollte, dass er selbst bereits seit dem Flughafen verfolgt wurde, entschied sich aber dagegen. Wenn sie das gemeinsam durchstehen wollten, mussten beide mit offenen Karten spielen.
»Das war gut, Ragnar. Diese Leute sind offenbar weit besser organisiert, als ich dachte. Als ich dich angewiesen habe, dein Handy auszuschalten, hatte das einen konkreten Anlass.«
Ragnar erschrak. »Heißt das …?«
»Ja, das heißt es«, unterbrach ihn Simon. »Sie sind schon an mir dran, seit ich das Flughafengebäude verlassen habe. Die haben also dein Handy abgehört. Ich gehe davon aus, dass mein Schatten gerade jetzt ganz in der Nähe ist. Mit meinem Aufpasser im Schlepptau konnte ich leider keine Gegenmaßnahmen ergreifen, um jemanden abzuschütteln. Das hätte ihn nur misstrauisch gemacht.«
»Aber hat euch denn tatsächlich jemand verfolgt?«, hakte Ragnar ängstlich nach.
Simon zuckte mit den Schultern. »Kann ich dir nicht sagen. Wenn ja, war derjenige sehr geschickt. Andernfalls hätte es Martinus auch bemerkt und wir hätten etwas dagegen unternommen. Wir müssen aber davon ausgehen, dass der Feind in der Nähe ist. Ist einfach gesünder, davon auszugehen. Aber jetzt erzähl mal. Was hast du in dieser Tasche?«
»Eine Formel für das ewige Leben«, gab Ragnar trocken zurück und sah Simon ausdruckslos an.
Der wiederum guckte ihn an wie einen Irren.
Ragnar seufzte. »Schon gut, ich weiß selbst, wie das klingt. Aber im Ernst: Diese Formel funktioniert höchstwahrscheinlich wirklich. Da gibt es nur ein kleines Problem.«
»Du meinst, außer, dass die Sache komplett verrückt ist?«
Jetzt schaute Ragnar regelrecht beleidigt an Simon vorbei und flüsterte verärgert: »Wenn du mich nicht ernst nehmen kannst, dann sag das. Ich kann aufstehen und gehen. Soll ich?«
Simon vergaß nur allzu leicht, wie empfindlich sein Freund war. »Es tut mir leid«, versicherte er Ragnar eilig. »Dass du in Gefahr bist, ist für mich keine Frage. Und ob ich den Kram mit der Unsterblichkeit glaube oder nicht, ist dabei vollkommen egal. Wenn deine Verfolger glauben, die Formel ist es wert, dafür zu töten, dann hast du ein sehr reales Problem, und dafür bin ich hier.« Ragnar tat so, als müsse er überlegen, ob er Simon verzeihen konnte.
»Komm schon, ich kann sehen, wenn du mir was vorspielst», neckte Simon ihn augenzwinkernd. »Mir kannst du doch gar nicht wirklich böse sein, habe ich nicht Recht?«
»Ja, schon gut«, brummte Ragnar mürrisch. »Aber weißt du, was das wirklich Tragische ist? Die Formel funktioniert zwar mit ziemlicher Sicherheit, aber die Aufzeichnungen in der Tasche sind trotzdem völlig nutzlos. Wenn die mich dafür töten, machen sie das für nichts.«
Jetzt war Simon komplett verwirrt.
»Was redest du? Die Formel funktioniert, aber sie ist wertlos? Das ergibt doch keinen Sinn?«
»Ich habe nicht gesagt, dass die Formel wertlos ist. Wertlos ist das, was ich in der Tasche habe.«
»Ist das denn nicht die Formel? Entschuldige, aber da komme ich nicht mit.«
»Doch, ist sie – allerdings nur die Hälfte davon. Und solange die zweite Hälfte fehlt, kann ich nur spekulieren, ob sie funktioniert oder nicht. Wenn man allerdings den Hund in die Finger bekommen könnte …«
»Welchen Hund?«, fiel Simon ihm ins Wort.
»Greenes Beagle. Er hat die Therapie an ihm ausprobiert. Sein jetziger Zustand könnte Auskunft über die Wirksamkeit geben. Nur leider wissen wir nicht, wo er ist.«
Das musste Simon erst mal verarbeiten. Wenn Ragnar die Hälfte von etwas hatte, das die Welt verändern konnte, dann hieß das ja auf der anderen Seite, dass es noch jemanden geben musste, dem es ging wie ihm.
»Okay, lass uns das mal sortieren«, schlug Simon vor. »Du hast also nicht die ganze Formel, glaubst aber, dass sie funktionieren wird. Wie kannst du das aus der Hälfte einer Formel ableiten?«
Ragnar machte ein konzentriertes Gesicht und hob den Zeigerfinger. Anscheinend dachte er nach und suchte nach Worten. Dann antwortete er: »Vielleicht ist Formel hier etwas missverständlich ausgedrückt. Das Geheimnis des ewigen Lebens lässt sich nicht auf eine einzelne Formel reduzieren. So funktioniert das in diesem Bereich der Wissenschaft nicht. Was ich als Formel bezeichnet habe, damit du dir überhaupt was darunter vorstellen kannst, ist in Wirklichkeit eine sehr komplexe Methode, die auf Versuchsreihen und extrem umfangreichen Daten aufbaut. Also wäre Theorie hier das bessere Wort als Formel. Eine halbe Formel könnte ich natürlich auch nicht beurteilen. Eine halbe Theorie dagegen schon eher – jedenfalls, wenn man davon ausgeht, dass die fehlenden Versuchs- und Datenreihen das stützen, was im mir vorliegenden Teil ausgeführt wird.«
»Also fehlen bloß noch Daten?«, fragte Simon nach. »Aber wie der Trick im Grundsatz funktioniert, steht da drin?«
Ragnar zögerte mit seiner Antwort.
»Nun sag schon«, drängte Simon. Er hatte registriert, dass zwei Männer das Restaurant betreten hatten, die nicht dorthin passten. Sie hatten keine Einkaufstüten dabei wie die meisten anderen Gäste, waren unter ihrer legeren Kleidung besser gebaut als der durchschnittliche Mann von der Straße und vor allem hatten sie sich ausgiebig umgesehen, bevor sie Platz genommen hatten. Es musste nichts bedeuten, aber Simon war von dieser Sekunde an auf Hut. Vielleicht würden sie sehr schnell von hier verschwinden müssen.
»Es ist kompliziert«, sagte Ragnar schließlich, sprach dann aber nicht weiter. Simon wurde ungeduldig.
»Ist das dein Beziehungsstatus bei Facebook, oder wolltest du auf meine Frage antworten?«
»Jetzt halt doch mal die Klappe«, blaffte Ragnar ihn gereizt an. »Es ist nämlich tatsächlich kompliziert. Also sagen wir mal so: Der mir vorliegende Teil der Arbeit ist sowas wie ein perfektes Rezept für die Zubereitung eines leckeren Kugelfisches.«
»Kugelfisch. Weißt du, was du redest?« Langsam zweifelte Simon am Verstand seines genialen Freundes.
»Ich war noch nicht fertig. Du weißt doch sicher, dass Kugelfisch in Japan eine Delikatesse ist.«
Simon nickte ungeduldig.
»Und du hast sicher auch davon gehört, dass der Verzehr absolut tödlich ist, wenn man bei der Zubereitung etwas falsch macht.«
Wieder nickte Simon. Allmählich ahnte er, worauf Ragnar hinaus wollte, deshalb ergriff er wieder das Wort.
»Das heißt, die Methode funktioniert, birgt aber Risiken. Und die zweite Hälfte der Dokumente könnte davon handeln, wie diese Risiken beseitigt werden können. So in etwa?«
Ragnar pfiff anerkennend durch die Zähne. »Bist gar nicht so schwer von Begriff, mein Alter. Ja, das trifft es. Der Forschungsansatz, von dem Greene ausging, ist nicht neu. Wir wissen schon lange, dass es ein Enzym gibt – Telomerase genannt – das eine faszinierende Eigenschaft hat. Es verhindert die sogenannte Telomerverkürzung. Telomere sind die Enden der Chromosomen, die unsere Erbinformationen enthalten. Bei jeder Zellteilung wird die in der ursprünglich vorhandenen Zelle enthaltene DNA kopiert und an die neue Zelle weitergegeben. Soweit klar?«
»Sicher«, murmelte Simon, während er wieder besorgt zu den beiden Männern hinüber blickte. Sie schienen bemerkt zu haben, dass Simon sie musterte, denn sie steckten die Köpfe zusammen und schienen sich abzusprechen.
»Gut«, fuhr Ragnar fort. »Die Aufgabe der Telomere besteht grob gesagt darin, die Chromosomen zu stabilisieren. Allerdings nutzen sich die Enden der Telomere bei jeder Zellteilung ein Stück weit ab. Irgendwann ist das Telomer so weit abgenutzt, dass es die für eine weitere Teilung nötige Mindestlänge unterschreitet. Das ist der Moment, in dem der sogenannte programmierte Zelltod eintritt. Wir sind also sterblich, weil sich unsere Zellen nicht unbegrenzt teilen können.«
»Und dieses Enzym ändert das?«
»Ganz genau. Stell dir einen Schnürsenkel vor, von dem du vorne dieses zusammengeschweißte Plastikröhrchen entfernst. Der Senkel würde beginnen, auszufransen. Die Telomerase wirkt jetzt so, wie beim Schnürsenkel das Plastik vorne dran – es hält die Enden zusammen und hindert sie quasi am Ausfransen.«
Die beiden Männer hatten mittlerweile den Tisch gewechselt. Sie saßen jetzt dichter an Simon und Ragnar. Während er Ragnar weiter zuhörte, arbeitete er bereits einen Fluchtplan aus.
»Das große Problem ist übrigens nicht in erster Linie, wie man Telomerase in die menschliche Zelle bekommt. Klar, kompliziert genug ist das, aber die eigentlichen Schwierigkeiten beginnen erst, wenn man das irgendwie geschafft hat. Man hätte dann also unsterbliche Zellen und wäre dann schon theoretisch unsterblich. Wenn es da nicht einen Haken gäbe.«
»Der da wäre?«, fragte Simon mit geteilter Aufmerksamkeit.
»Krebszellen enthalten Telomerase. Das ist der Grund, warum Krebszellen unkontrolliert wuchern – weil sie unsterblich sind. Verstehst du?«
Jetzt machte etwas in Simons Kopf klick. Er vergaß für einen Moment die beiden Männer und war wieder ganz bei Ragnar. »Mein Gott, ich glaube, jetzt verstehe ich. Wenn man versucht, durch dieses Telomerase-Zeug unsterblich zu werden, kriegt man stattdessen Krebs.«
Ragnar lächelte. »Na ja, das ist nicht hundertprozentig klar. Aber allgemein wird angenommen, dass man dadurch das Krebsrisiko im Organismus vervielfachen würde. Deswegen gehen die meisten Forschungen heutzutage auch nicht in die Richtung, Telomerase zu nutzen, um das Leben zu verlängern, sondern dahin, wie man die Wirkung der Telomerase stoppen kann, um damit den Krebs zu besiegen. Der Tierversuch sollte zeigen, ob die Theorie funktioniert. Wenn wir heute den Hund untersuchen könnten, wüssten wir es genau.«
»Finde ich auch ethisch weniger fragwürdig, als den Tod abschaffen zu wollen«, erwiderte Simon. »Und Tierversuche finde ich schrecklich.«
Plötzlich bemerkte er, dass die beiden Beschatter verschwunden waren. Simon verfluchte seine Unaufmerksamkeit und sah sich vorsichtig in alle Richtungen um. Er fand sie nicht.
»Du findest es unethisch, den Tod besiegen zu wollen?«, hörte er Ragnar fragen, aber er konzentrierte sich weiterhin darauf, das Restaurant nach den Männern abzusuchen.
»Ich finde nicht, dass der Tod etwas ist, mit dem wir uns abfinden müssen. Wir sind doch denkende und fühlende Wesen. Der Tod ist grausam, das sage ich aus meiner eigenen Erfahrung.«
Im Hinterkopf tauchte bei Simon die Frage auf, ob Ragnar das wirklich ernst meinte, doch da sah er einen der beiden Verfolger wieder auftauchen. Urplötzlich war er direkt am Nebentisch erschienen, und Simon konnte sich nicht erklären, wie ihm das entgangen sein konnte. Der Fremde sah Simon unverwandt an. Der bildete sich ein, den Anflug eines spöttischen Lächelns zu entdecken und schaltete innerlich auf Kampfmodus, während Ragnar immer weiter dozierte.
»Warum sollten wir Menschen nicht unsterblich oder wenigstens extrem langlebig sein? Im Tier- und Pflanzenreich kommt das sogar sehr häufig vor. Eine Süßwasserpolype namens Hydra – praktisch unsterblich. Und das durch ein Gen, das auch bei uns vorkommt. Müsste man bloß aktivieren. Oder Grönlandwale – die werden über zweihundert Jahre alt. Die Islandmuschel – bis über fünfhundert Jahre, Scolymastra joubini, ein Schwamm, wird mehrere tausend Jahre alt, und so geht das immer weiter. Es ist pervers, so jung zu sterben wie wir.«
Simon trat ihm unter dem bodenlangen Tischtuch gegen das Schienbein und zischte ihm zu: »Wenn du jetzt nicht direkt hinter mir bleibst, ist es mit deiner Langlebigkeit gleich vorbei.« Er nickte in Richtung des Mannes am Nebentisch, der ihnen mittlerweile wieder scheinbar desinteressiert den Rücken zugedreht hatte.
»Was ist los?«, flüsterte Ragnar erschrocken zurück. »Ist das einer von denen?«
Simon nickte.
»Oh Scheiße«, stöhnte Ragnar leise und verkrampfte sich. »Was machen wir denn jetzt?«
»Wir stehen auf und gehen. Wenn das kein Selbstmordkommando ist, folgen sie uns erst einmal auf die Straße. Hier drin können die das nicht durchziehen«, versuchte Simon seinen Freund zu beruhigen. »Aber sobald wir draußen sind, werden sie versuchen, an die Tasche zu kommen. Das geht am schnellsten, wenn sie Gewalt anwenden. Deshalb werde ich die Tasche nehmen.«
Ragnar war mehr als einverstanden. Er drückte Simon die Tasche in die Hand und stand auf.
Im selben Augenblick schoss der Mann am Nebentisch von seinem Stuhl hoch, drehte sich auf dem Absatz in ihre Richtung und zog dabei eine Pistole. Er benötigte für den ganzen Ablauf nur Sekundenbruchteile. Der Lauf der Waffe war genau auf Ragnars Kopf gerichtet. Dann registrierte der Kerl, dass Ragnar die Tasche nicht mehr hatte.
Simon erfasste die Situation und wollte gerade vorspringen, um Ragnar aus der Schussbahn zu schubsen, als sich von hinten ein Arm um seinen Hals legte und ihn von den Füßen riss. Noch im Fallen leitete Simon den Gegenangriff ein. Statt sich einfach nur nach hinten kippen zu lassen, gab er sich noch mehr Schwung, krümmte sich zusammen und ging in eine schwungvolle Rolle rückwärts über, sodass sich der Angreifer plötzlich mit Simons auskeilenden Beinen konfrontiert sah.
Er nahm den Kopf des Typen in die Beinschere und drückte zu. Dabei musste er den Druck sehr vorsichtig dosieren, denn die Kraft seiner hochgezüchteten Prothesen hätte leicht ausgereicht, ihm den Schädel zu zerquetschen.
Der Kerl, der Ragnar die Waffe entgegenstreckte, sah, dass sein Komplize in Schwierigkeiten steckte. Er stieß Ragnar brutal zu Seite und stürzte sich auf das Knäuel, das Simon und sein Gegner am Boden bildeten. Um sich dem neuen Angreifer widmen zu können, musste Simon sein Anhängsel schleunigst loswerden. Er löste die Schere, stemmte seine Füße in den Rücken des mittlerweile schlaffen Körpers und katapultierte ihn mit explosiver Kraft von sich weg.
Der Heranstürmende konnte dem entgegenkommenden Körper gerade noch ausweichen, sonst hätte sich die Konfrontation schon jetzt erledigt gehabt. So aber taumelte er nur ein paar Schritte zur Seite, fing sich wieder und ging erneut auf Simon los.
Dem hatte die Zeit gereicht, wieder auf die Beine zu kommen und sich in Kampfposition hinzustellen.
»Zum Ausgang«, schrie er Ragnar zu. »Und da wartest du auf mich.«
Das im Restaurant mittlerweile ausgebrochene Chaos blendete Simon vollständig aus. Schreiende und in Panik flüchtende Menschen hatten den Sicherheitsdienst auf den Plan gerufen, der in dieser Sekunde in Person zweier Uniformierter ins Restaurant stürmte.
Die mussten gerade auf dem Weg gewesen sein, um sich ein paar Donuts zu holen, sonst wären sie niemals so schnell da gewesen. Zwei Probleme mehr für Simon.
Der noch kampffähige Angreifer stürzte sich wieder auf Simon und deckte ihn mit einem Stakkato von Schlägen und Tritten ein, die Simon nur mit Mühe parieren konnte. Dieser Typ war gut – zu gut, um sich weiter im Nahkampf gegen ihn aufzureiben. Simon wägte blitzschnell alle verbleibenden Optionen ab, die er hatte. Das Ergebnis gefiel ihm überhaupt nicht. Schon dieser Kampf war eine Katastrophe für ihn. Sicher waren er und Ragnar in voller Pracht auf diversen Überwachungsvideos des Kaufhauses zu sehen, was angesichts der Situation schon schlimm genug war. Um das hier zu überleben, musste er sich allerdings noch viel weiter exponieren. Selbst Müller würde es schwerfallen, ihn anschließend noch zu schützen.
In diesem Moment kam sein Gegner das erste Mal mit einem harten Schlag durch seine Deckung. Die Faust explodierte förmlich auf Simons Gesicht und er wusste, dass er keinen zweiten Treffer dieses Kalibers überstehen würde. Es musste also sein.
Simon brachte mit ein paar schnellen Schritten rückwärts etwas Abstand zwischen sich und den Angreifer, nahm Maß und sprang dann mit einem gewaltigen, von seinen Hightech-Prothesen unterstützten Satz, den rechten Fuß hochgerissen, nach vorn.
Der Tritt traf den anderen wie ein Presslufthammer mitten auf den Brustkorb. Simon spürte, wie die Rippen sofort nachgaben. Schon der Treffer hätte ihn vermutlich getötet, aber durch die Gewalt des Anpralls flog der Getroffene rückwärts gegen die Fensterscheibe, von der er nur zwei Meter entfernt gestanden hatte. Zu Simons Entsetzen durchbrach der Körper die Scheibe mühelos. Der Lärm des berstenden Glases mischte sich mit den entsetzten Schreien der verschreckten Menschen und für einen Augenblick war Simons Kopf vollkommen leer. Die Zeit schien stillzustehen. Simon sah den Körper des Mannes noch sekundenlang wie festgetackert über dem Abgrund hängen, ehe sein Bewusstsein wieder ansprang. Jetzt war da nur noch eine zerstörte Scheibe, und kein Mann mehr. Der lag nun unten vor dem Kaufhaus, und Simon betete, dass er beim Aufprall wenigstens keinen Passanten erschlagen hatte.
»Simon! Lauf weg!«
Ragnars Stimme riss ihn wieder vollends in die Gegenwart zurück. Alarmiert drehte er seinen Kopf in Richtung Eingang und sah die beiden Sicherheitsleute auf sich zu rennen. Diese beiden wollte er auf keinen Fall verletzen. Sie machten ja nur ihren Job. Simon ließ sie so nahe herankommen, wie er es vertreten konnte, und sprang in letzter Sekunde aus dem Stand mit einer Luftrolle über ihre Köpfe hinweg, landete hinter ihnen auf beiden Füßen und rannte sofort weiter in Richtung Tür. Ragnar wartete schon hektisch winkend auf ihn und hielt die Glastür für ihn auf.
»Spring auf«, rief Simon und deutete auf seinen Rücken. Ragnar zögerte keine Sekunde, denn er wusste, was Simon mit diesen Prothesen konnte – er hatte sie ja selbst konstruiert und gebaut.
»Nimm die Treppen, nicht den Fahrstuhl«, schrie Ragnar seinem Träger ins Ohr. »Im Fahrstuhl sitzen wir in der Falle.«
Also rannten sie im Doppelpack durch das Treppenhaus nach unten. Je schneller Simon war, desto größer die Chance, im entstandenen Chaos zu entkommen. Im Erdgeschoss herrschte bereits Ausnahmezustand. Verstörte Menschen standen zwischen den Verkaufstischen herum – einige von ihnen weinten -, am Ausgang hatte sich eine Menschentraube zusammengeballt, die auf den Gehweg hinaus gaffte, wo der Tote liegen musste, und weitere Security Männer rannten hektisch umher.
»Notausgang«, raunte Ragnar in Simons Ohr. Das war eine gute Idee. Sie würden beim Öffnen zwar Alarm auslösen, aber das war jetzt das geringste Problem.
Sie erreichten den Nebenausgang unbehelligt. Allein die beiden Wachleute aus dem Dachrestaurant hätten sie momentan identifizieren können. Diesen Vorsprung musste sie nutzen.
Simon stieß die Tür auf und erstarrte. Draußen stand Martinus mit den Händen in den Hüften und starrte die beiden genervt mit dem Kopf schüttelnd an.
»Müller sagte schon, dass Sie dazu neigen, Chaos zu produzieren, Stark. Kommen Sie mit.«
Gehorsam folgten Simon und der mittlerweile wieder selbst laufende Ragnar dem Agenten zu einem wenige Meter weiter abgestellten Taxi.
»Haben Sie das geklaut?«, spottete Simon.
»Einsteigen«, kommandierte Martinus.
»Sie nicht«, blaffte er Ragnar an, als der sich anschickte, ins Innere des Taxis zu steigen.
»Kommen Sie, Martinus. Nehmen Sie ihn mit. Er ist ein Freund von mir.« Simon hatte keine andere Wahl, als die Karten auf den Tisch zu legen. Ragnar hier im Stich zu lassen, kam nicht in Frage. Martinus blickte kritisch zwischen Simon und Ragnar hin und her und signalisierte dann widerwillig, dass auch Ragnar einsteigen dürfe. Schließlich setzte er sich selbst ans Steuer und fuhr unauffällig an. Sie bogen auf die Hauptstraße ab und entfernten sich vom Kaufhaus. Martinus beobachtete aufmerksam die Umgebung und hatte ständig auch die Rückspiegel im Blick. Als er nach ein paar hundert Metern sicher sein konnte, dass sie nicht verfolgt wurden, hieb er plötzlich unvermittelt auf das Lenkrad ein und schrie: »Wann wollten Sie mir sagen, dass Sie bereits freundschaftlichen Umgang mit den britischen Nazis pflegen? Und woher kennen Sie diesen Abschaum überhaupt? Verfluchte Scheiße, das ist alles ein Alptraum!«
»Martinus, kommen Sie schon. Das ist kein Nazi, das ist mein Freund Ragnar aus Hamburg.«
Martinus trat auf die Bremse und riss das Lenkrad herum, sodass sie abrupt am Straßenrand zum Stehen kamen. Hinter ihnen brandete ein wildes Hupkonzert auf, aber der Agent ignorierte das völlig. Er drehte seinen Oberkörper Simon auf dem Beifahrersitz zu und packte ihn am Kragen.
»Ihr Freund aus Hamburg? Sind Sie wahnsinnig? Ist das alles nur gequirlte Scheiße gewesen, was Sie uns über die England-Dresden-Connection erzählt haben? Sie gehen in den Knast, Stark! Für Jahre! Und ihre verrückte Freundin gleich mit.«
Martinus schnaubte vor Wut, aber Simon war klar, dass er ihn immer noch auf seine Seite ziehen konnte. Wie würde Martinus schließlich vor seiner Chefin dastehen, wenn er diese Nachricht an sie übermittelte? Er wäre erledigt, so sah es für ihn aus. Also blieb Simon so ruhig wie möglich und wartete, bis Martinus sich wieder einigermaßen im Griff hatte.
»Hören Sie, ich kann Ihnen das erklären, wenn Sie mich lassen. Aber vor allem kann ich Ihnen helfen, bei Müller mit dieser Geschichte am Ende doch noch zu punkten, statt Ihren Job zu verlieren. Interessiert?«
Martinus bebte. »Gnade Ihnen Gott, wenn Sie mich von jetzt an auch nur noch ein einziges Mal anlügen. Ich lege Sie um, Stark. Kapieren Sie das? Ich mache keine Witze.«
Simon griff gelassen nach Martinus Händen und löste sie sanft von seinem Kragen. »Es wird alles perfekt für Sie laufen, wenn Sie mich machen lassen und mir helfen. Aber zuerst, schlage ich vor, fahren wir ins Hotel und wir erzählen Ihnen erst einmal alles. Danach können Sie dann entscheiden, ob Sie Müller informieren oder mit uns zusammenarbeiten wollen.«