Kapitel 3
Dresden, Nähe S-Bahn Trachau, 05.Mai 00:43 Uhr MEZ
Dass Müllers Nachricht so spät kommen würde, hatte Simon nicht erwartet. Erst kurz nach dem Telefonat mit Ragnar war eine SMS mit der Adresse eingegangen, zu der er sich begeben sollte.
Jetzt stand er ungefähr vierzig oder fünfzig Meter von dem Laden entfernt, der sich hinter dieser Anschrift verbarg. Trotz der nächtlichen Uhrzeit brannte Licht in dem Geschäft. Es war eine Art Klamottenladen mit angeschlossener Tätowierstube. Simon war unauffällig am Schaufenster vorbeigeschlendert, ehe er seinen Beobachtungsposten bezogen hatte. Dabei konnte er sehen, dass es sich offenbar um einen Treffpunkt der ultrarechten Szene von Dresden handelte. Im Schaufenster gab es Kapuzenpullover und T-Shirts einschlägiger Nazi-Marken und CDs von Rechtsrock-Bands. Dass die Ladeninhaber dadurch offenbar noch keine Probleme bekommen hatten, wunderte Simon. Möglicherweise hielt Müllers Behörde die Hand darüber. Wenn das Geschäft observiert wurde, konnten die dadurch gesammelten Erkenntnisse über die Vernetzung der Rechtsextremen nützlicher sein, als den Laden zu schließen.
Aus dem Innern klang Musik durch die gekippten Fenster nach draußen. Zu sehen war im Verkaufsraum aber niemand. Vermutlich waren die Leute weiter hinten im Gebäude.
Plötzlich hörte Simon noch etwas anderes – von irgendwoher näherte sich lautes Stimmengewirr. Es schien von hinter der nächsten Straßenecke zu kommen und es klang aggressiv.
Dann bog eine Gruppe junger Männer um die Ecke, schätzungsweise zwanzig bis dreißig an der Zahl, und plötzlich wusste Simon, was gespielt wurde.
Die Gruppe war vermummt und mit Baseballkeulen, Totschlägern und anderen Gerätschaften bewaffnet. Einige hatten Tücher mit der türkischen Flagge vor dem Gesicht. Junge Türken auf dem Kriegspfad also. Es war offensichtlich, dass sie gekommen waren, um den Naziladen zu überfallen.
»Dieses verdammte Miststück«, fluchte Simon. Das war also Müllers Plan. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass seine Vorgesetzte gezielt Informationen unter den jungen Migranten hatte streuen lassen, dass es hier ein lohnendes Ziel für ihre Wut gab. Auch die Rolle, die man ihm dabei zugedacht hatte, war jetzt sonnenklar. Er sollte als rettender Engel wie aus dem Nichts auftauchen, den Angriff zusammen mit den Nazis zurückschlagen und dadurch in der Achtung der Schläger steigen. Aber das würde er nicht tun. Auf keinen Fall würde er Leute verletzen, die gegen diese braune Brut vorgingen.
Jetzt erreichte die Gruppe auch schon den Laden. Sofort begannen sie, die Schaufenster mit ihren Schlagwerkzeugen zu bearbeiten. Offenbar waren die Inhaber klug genug gewesen, Sicherheitsglas einzusetzen, denn die Scheiben zerbarsten nicht, sondern zeigten zunächst nur eng begrenzte, spinnennetzartige Schäden. Die Risse breiteten sich nicht weit aus, sodass es wohl eine Weile dauern würde, bis die Gang tatsächlich in das Gebäude eindringen konnte.
Simon rang mit sich. Wenn er Ragnar helfen wollte, musste er heute unter allen Umständen mit seinen neuen Freunden von den Elbwiesen in Kontakt treten, und nach Möglichkeit sollten die sich dann in einem körperlichen Zustand befinden, der ein Gespräch zuließ. Er konnte also gar nicht anders, als Müllers Spiel mitzuspielen.
Die Musik hatte abrupt aufgehört. Auch im beleuchteten Geschäft war jetzt Leben. Die Skinheads waren aus dem Hinterzimmer nach vorn gestürzt und standen jetzt ratlos drinnen, von wo aus sie den Ansturm des wütenden Mobs beobachteten. Die Jungs von gestern waren alle da drin. Darüber hinaus waren noch sechs weitere Nazis anwesend – alle zusammen also elf Mann. Zahlenmäßig waren sie hoffnungslos unterlegen.
Simon hatte sich mittlerweile zögernd auf den Weg zum Ort des Geschehens gemacht. Er erkannte jetzt Angst auf den Gesichtern der Eingeschlossenen – außer bei Stürmer. Im Gesicht des Anführers spiegelte sich blinde, geifernde Wut. Simon zweifelte nicht daran, dass er den ersten Angreifer, der sich auf ihn stürzte, in Stücke reißen würde. Natürlich würde er selbst Sekunden später unter einem Hagel von Tritten und Schlägen zu Boden gehen, aber das würde diesen Typen nicht stören. Simon musste zugeben, dass ihn diese Furchtlosigkeit zu einem geborenen Anführer machte.
Während der größte Teil der Meute noch auf die Fenster eindrosch, hatten drei von ihnen mit der Eingangstür mehr Glück. Sie hatte es geschafft, sie aus den Angeln zu treten.
Jetzt musste Simon sich beeilen. Lange würden sich die elf Leute nicht gegen den Ansturm wehren können.
Er rannte los. Schon waren die ersten Türken im Geschäft und begannen, um sich zu schlagen. Sie wurden mit einem Hagel aus Aschenbechern, Bierflaschen und anderen Wurfgeschossen begrüßt. Das Kampfgebrüll beider Parteien war selbst auf die Entfernung noch ohrenbetäubend, und die Situation wurde innerhalb von Sekunden vollkommen unübersichtlich. Die Gewalt eskalierte und schon gingen die Ersten zu Boden. Simons Prothesen beschleunigten ihn rabiat, sodass er eine Vierergruppe, in die er hineinlief, auseinander sprengte wie Bowling-Pins. Da er den Angreifern in den Rücken fiel, konnte er noch zwei weitere ausschalten, ehe die anderen auch nur bemerkten, dass ein neuer Akteur im Raum war. Dann wendeten sich drei der jungen Türken ihm zu und sahen ihn hasserfüllt an. Simon nahm sich vor, seine Schläge und Tritte so zu setzen, dass er bei ihnen keine bleibenden Schäden verursachen würde. Er hoffte zumindest, dass das möglich war.
Seine Nahkampfausbildung war zwar schon eine ganze Weile her, aber er trainierte, seit er die Alkoholsucht in den Griff bekommen hatte, wieder regelmäßig. Das zahlte sich jetzt einmal mehr für ihn aus. Die Sprungkraft seiner Prothesen tat ein Übriges, sodass der erste der Drei mit seinem Schläger ins Leere traf und die anderen beiden sich daraufhin kopflos auf Simon stürzten, der ihren Schwung aber ausnutzte, um sie mit blitzschnellen Bewegungen zu Boden zu werfen.
Doch Stürmer war nicht darauf bedacht, die Verletzungen der Gegner minimal zu halten. Er hatte Simon gesehen, registriert, dass er drei Leute zu Boden geschickt hatte, und kam jetzt mit einem infernalischen Schrei hinzugesprungen. Ehe Simon wusste, was geschah, trat er einem der jungen Männer mit voller Härte mitten ins Gesicht. Die Wucht dieses Trittes konnte verheerenden Schaden anrichten, das war Simon vollkommen klar. Entsetzt musste er mit ansehen, wie Stürmer sich sofort den nächsten vornahm und ihm mit beiden Füßen direkt auf den Kopf sprang.
Simon war kurz davor, sich auf Stürmer zu stürzen, um ihn davon abzuhalten, weiterzumachen, doch zum Glück wurde der in diesem Augenblick von hinten mit einem Totschläger am Kopf getroffen. Der Obernazi schrie wütend auf und sackte in die Knie. Seine Kopfschwarte war aufgeplatzt und er blutete wie ein Schwein. Das befriedigte Simon zwar, aber gleichzeitig musste er verhindern, dass nun wiederum Stürmer totgeschlagen würde. Also sprang er den beiden Angreifern entgegen, entwaffnete sie und attackierte mit einer schnellen Folge von Schlägen und Tritten ihren Solarplexus, ihre Achselhöhlen und den Spann ihrer Füße. Nichts davon führte zu gefährlichen Verletzungen, aber Treffer auf diese vitalen Punkte taten höllisch weh. Damit waren sieben Angreifer ausgeschaltet. Lars, Bronko und Stürmer waren bisher offenbar die einzigen Opfer auf Seiten der Angegriffenen. Die anderen waren in Kämpfe verwickelt, die hin und her wogten. Das Geschrei war immer noch unerträglich laut, und in Simons Adern rauschte das Adrenalin. Er schnappte sich einen weiteren Jungen und schleuderte ihn mit einem Schulterwurf auf einen Verkaufstisch, der krachend unter dem Gewicht zusammenbrach.
Einer der Nazis, die Simon noch nicht kannte, wurde von zwei Gegnern gleichzeitig bedrängt. Simon trat beiden von hinten in die Kniekehlen, woraufhin sie zusammensackten wie nasse Säcke.
»Raus mit dir«, schrie er dem zu, den er aus der misslichen Lage befreit hatte. Hinter ihm rappelte sich Stürmer wieder auf. »Diese Wichser mache ich platt«, brüllte er.
»Heb dir das für später auf«, brüllte Simon zurück. »Schnapp dir Lars und mach, dass du rauskommst. Ich kümmere mich um die anderen.«
Während er das schrie, blockte er wie beiläufig eine frontale Attacke ab und knockte den Aggressor mit einem Kinnhaken aus. Der Tumult ließ es jetzt nicht mehr zu, besondere Rücksicht auf die Unversehrtheit seiner Gegner zu legen.
»Alle raus hier«, brüllt er den anderen zu. »Geordneter Rückzug. Folgt Stürmer, nehmt die Verletzten mit! Los, los, los!«
Sein Kommandoton verfehlte seine Wirkung nicht. Tatsächlich drängten alle Nazis zum Ausgang, während Simon mit einer erbeuteten Baseballkeule herumwirbelte, um den Abzug zu sichern. »Bleibt zurück, Kids. Ich kann mit dem Ding besser umgehen als jeder hier im Raum. Lasst es nicht drauf ankommen.«
Er schaffte es, die verbliebenen Gangmitglieder vorübergehend einzuschüchtern, aber er musste ihnen noch etwas bieten, um sie davon abzuhalten, sie zu verfolgen. Da hinter ihm bereits alle treuen Kameraden durch die Tür verschwunden waren, konnte er ein offenes Wort riskieren.
»OK, Jungs. Nehmt den Laden hier ruhig auseinander. Der ist nicht versichert und ihr macht einen Nazi pleite. Dann ist das nur Sachbeschädigung, falls sie euch kriegen. Ich nehme den Sauhaufen da draußen mit und keiner wird mehr verletzt. Deal?«
Alle sahen einen kleinen, stämmigen Mann mit Schnauzbart an, der seine Maskierung im Kampf eingebüßt hatte. Seine Nase blutete, aber sein Blick war fest. Das war also anscheinend der Rädelsführer der Jungs.
»Ich hab dich kämpfen sehen«, murmelte er nachdenklich. »Mit dir stimmt was nicht. Du bist nicht von denen, oder?«
Simon zog es vor, nicht zu antworten. Er hob lediglich die Augenbrauen.
»OK, verpiss dich, Opa. Heute lassen wir euch laufen. Aber den Laden fackeln wir ab. Nazifotzen.«
Simon beeilte sich, wegzukommen. Draußen sah er sich um, wohin die anderen mittlerweile verschwunden waren. Da sah er zwei Häuser weiter jemanden um die Ecke schauen und hektisch winken. Simon rannte hin. Die Truppe sah ziemlich mitgenommen aus. Die Unversehrten stützten die, die etwas abbekommen hatten, und Stürmer blutete immer noch stark aus seiner frischen Kopfwunde. Simon aber wurde aufgenommen wie ein Held. Einer nach dem anderen klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.
»Kalle, du bist ja eine Wildsau. Hätte ich ehrlich nicht gedacht. Respekt, Alter!« Aus Stürmers Mund war das als höchste Form der Belobigung zu verstehen, das war Simon klar. Er ertappte sich dabei, sich geschmeichelt zu fühlen, und verscheuchte diese Emotion ärgerlich. Sich von diesem Verbrecher gebauchpinselt zu fühlen, kam ja gar nicht in Frage.
»In Hamburg muss sich ein Kamerad zu wehren wissen, sonst kommt man schnell unter die Räder«, entgegnete Simon trocken. Er registrierte die bewundernden Blicke und wusste, dass Müllers Plan, so perfide er auch war, dabei war, aufzugehen.
»Du hast uns heute den Arsch gerettet«, sagte Stürmer pathetisch und blickte noch einmal vorsichtig um die Ecke.
»Scheiße, die Kanaken haben den ganzen Laden in Brand gesteckt. Das werden die noch büßen.«
Dann wandte er sich wieder an Simon. »Willkommen in der nationalen Kameradschaft Dresden, mein Freund. Wenn du dich uns anschließen willst, musst du allerdings erst mal beim Gruppenführer vorsprechen.«
Simon nickte. »Es wäre mir eine Ehre, Kamerad. Wann und wo?«
»Wir müssen sowieso im Hauptquartier unterschlüpfen. Der Treffpunkt ist ja im Arsch. Also jetzt gleich – wie fahren direkt hin. Bist du dabei?«
Natürlich war Simon dabei. Innerlich jubilierte er, aber nicht so sehr, weil es ihm zu gelingen schien, die Gruppe zu infiltrieren, sondern deshalb, weil ihm dieser Umstand ein Dutzend guter Scheinargumente liefern würde, Müller von einer Reise nach London zu überzeugen.
***
Dresden, Büro von Frau Müller, 05. Mai 9:00 Uhr MEZ
Der Rapport in Müllers Büro begann um neun Uhr. Simon trat ein, nachdem man ihn eine geschlagene halbe Stunde im Vorzimmer hatte warten lassen. Geschlafen hatte er in dieser Nacht gar nicht. Er war direkt von der Audienz des örtlichen Nazi-Bosses zu Müller gefahren, nachdem er dort die ganze Nacht über mit den anderen geredet und gefeiert hatte. Zum Glück war er auch dieses Mal um Alkohol herumgekommen. Ihm war klar, dass die Warterei vor Müllers Tür nichts weiter als Schikane war, die ihn daran erinnern sollte, wer hier wem überlegen war.
Zu seinem Erstaunen begrüßte Müller ihn mit einem strahlenden Lächeln – einem aufgesetzten zwar, aber es war ein Lächeln. Für Müller war das ein absolut ungewöhnlicher Ausdruck.
»Stark, ich bin sehr zufrieden mit Ihnen. Die ganze Abteilung ist sehr angetan vom Verlauf der gestrigen Aktion. Wir haben die Situation beobachtet und Sie observiert. Ich gratuliere, dass die Mitglieder der Gruppe Sie zu ihrem Hauptquartier gebracht haben. Jetzt berichten Sie, was Sie dort erfahren haben.«
Müller lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und wartete.
In den nächsten Minuten gab Simon eine knappe Zusammenfassung der Ereignisse im Laden ab und berichtete auch über den Weg zum Hauptquartier der Nazis und wie es dort aussah. Schließlich kam er zu dem Punkt, an dem er dem örtlichen Gruppenführer vorgestellt worden war.
»Der Mann heißt Kai Braake. Ein typischer Nadelstreifen-Faschist. Er würde Ihnen auf der Straße nicht auffallen.«
»Wir kennen Braake, konnten aber bisher nicht beweisen, dass er mit den Skinheads zusammenarbeitet. Was hat er gesagt?«, wollte Müller wissen.
»Er hat mein heldenhaftes Eintreten für seine Kameraden gelobt und mir seine Dankbarkeit ausgesprochen. Danach sind wir zusammen in sein Kaminzimmer gegangen, wo er mir Whisky anbot, den ich ablehnen musste.«
Simon machte eine kurze Pause, um Müllers Reaktion abzuwarten. Sie war mit seiner Suchtproblematik vertraut, nahm sie jedoch in der Regel nicht ernst.
Da sie nichts dazu sagte, fuhr Simon fort.
»Ich habe im Verlauf des Gesprächs viel über die Dresdner Naziszene und deren Verbindungen zu Teilen von Pegida gelernt. Ich habe das alles in einem Gedächtnisprotokoll festgehalten. Sie finden das Protokoll in meinem Bericht. Es enthält so viele Namen und Fakten, dass Ihre Analysten eine Weile beschäftigt sein dürften, die Infos abzuarbeiten.«
Bis hierhin war Simon bei der Wahrheit geblieben, und bis hierhin schien Müller auch sehr zufrieden zu sein. Jetzt musste er das Kunststück fertigbringen, gegenüber diesem menschlichen Lügendetektor, der sie war, von der Wahrheit abzuweichen und damit durchzukommen. Außerdem musste er sie dazu bringen, genau das anzuordnen, was er selbst aus taktischen Gründen nicht vorschlagen konnte. Er konzentrierte sich und fuhr fort.
»Allerdings hat Braake auch eindeutig betont, dass er und seine Dresdner Gruppe nicht autonom agieren, sondern weisungsgebunden an eine Dachorganisation sind.«
Müller wurde hellhörig. Sie nahm die verschränkten Arme herunter und beugte sich interessiert vor. »Was soll das heißen? Dass die Sache größer ist als angenommen?«
Simon hatte Müller bisher noch nie erregt gesehen. Für ihre Verhältnisse stand sie gerade knapp vorm Hyperventilieren. Er hatte sie also am Haken.
»Braake hat nur Andeutungen gemacht, aber es fiel das Stichwort London.«
Müller schien irritiert. »London? In welchem Zusammenhang?«
»Bezüglich der Kommandostruktur. Braake hat mir in Aussicht gestellt, mich in die Dresdner Gruppe aufzunehmen, aber vorher müsse er noch das Go aus London einholen.«
Müllers Stirn lag in Falten. Sie dachte offenbar eingehend darüber nach, was Simon ihr erzählt hatte.
»Wenn das stimmt, warum haben unsere Leute bisher noch keine Erkenntnisse darüber?«
Simon hob die Augenbrauen und zuckte mit den Schultern. »Diese Frage müssen Ihnen Ihre Leute beantworten. Ich für meinen Teil denke, dass bisher einfach noch keiner so dicht an Braake rangekommen ist wie ich, und diese London-Connection deshalb noch nicht auf Ihrem Radarschirm aufgetaucht ist.«
Müller forschte in seinem Gesicht nach einem Zeichen für Nervosität oder Unaufrichtigkeit, das merkte Simon deutlich. Natürlich wurde sie skeptisch, wenn man ihr plötzlich erzählte, dass ihre Abteilung offenbar ganz grundlegende Informationen nicht besaß. Sie würde es sich trotzdem nicht erlauben können, diesen Hinweis zu ignorieren.
»Und was glauben Sie, was an dieser London-Sache dran ist?«, fragte sie ihn. Simon war überrascht, nach seiner persönlichen Meinung gefragt zu werden. Als Ratgeber hatte Müller ihn bisher noch nie angesehen. Aber wenn sie es so wollte.
»Internationaler Rechtsterrorismus. Wenn Sie mich fragen, entsteht da ein gefährliches Netzwerk, und wenn solche großen Strukturen geschaffen werden, dann ist auch was Großes in Planung.«
Müller nickte bedächtig und der Anflug eines Lächelns umspielte ihren Mund. »Und nicht mal die Briten wissen bisher davon. Dieses Mal hätten wir die Nase vorn«, murmelte sie. Das musste für Müller der feuchte Traum schlechthin sein, vermutete Simon. Das bot Chancen auf offizielle Belobigungen, Publicity und beruflichen Aufstieg. Er hatte sie wirklich am Haken.
»Soll ich irgendetwas in dieser Sache für Sie tun?«, erkundigte er sich harmlos. Müller sah auf und das Lächeln war verschwunden. »Ich werde Ihnen sagen, was Sie tun werden. Sie nehmen die nächste Maschine nach London. Martinus wird Sie begleiten.«
Autsch. Ausgerechnet Frank Martinus. Scheiße.
Simon war dem Agenten schon ein paarmal über den Weg gelaufen. Er schien ein umgänglicher Typ zu sein, aber er wusste auch, dass er Müller treu ergeben war wie ein Hund. Der würde Simon an der ganz kurzen Leine führen. Ragnar zu helfen oder ihn auch nur zu kontaktieren, würde damit ausgesprochen schwierig werden.
»Selbstverständlich«, antwortete er knapp und ließ sich nichts anmerken. Er würde nach London fliegen – mehr Glück konnte er nicht verlangen.
***
»Der Typ verarscht dich, Schätzchen«, sagte der Hüne in Rockermontur, als er aus dem Nebenzimmer in Müllers Büro eintrat.
»Du hast alles gehört?«, vergewisserte sich die Agentin bei ihrem geheimen Gast. Als er nickte, fuhr sie fort.
»Was meinst du damit? Die Geschichte klingt für mich plausibel.«
»Bis zu der Stelle mit Braake, dem Boss in Dresden, stimmt die Story auch. Aber die London-Sache ist Bullshit. Und einen, der noch über Braake in der Hierarchie steht, gibt es auch nicht.
Müller musste nachdenken. Anzweifeln brauchte sie die Aussagen des Rockers nicht. Wenn einer die Dresdner Szene kannte, dann er. Immerhin war die Dresdner Gruppe seine größte Konkurrenz in der Bewegung.
»Welchen Grund sollte Stark haben, diese Lügen zu erzählen?«, fragte sie ihn schließlich.
»Ich weiß es nicht, aber ausgerechnet London – das kann kein Zufall sein. Kann der was wissen?«
Doch Müller winkte ab. »Absolut ausgeschlossen. Er denkt, er jagt Nazis, das ist alles.«
»Und diese fette Hacker-Braut? Wenn die was rausgekriegt hat? Sie könnte es ihm gesteckt haben.«
Jetzt lachte Müller sogar laut auf. »Diese Frau steht unter der denkbar engmaschigsten Überwachung. Die kann nicht mal furzen, ohne dass ich das mitbekomme.«
Der Rocker sah sie skeptisch an. »Deine größte Schwäche ist deine Stärke. Du neigst dazu, deine Gegner zu unterschätzen. Überprüfe noch mal alles rund um die fehlgeschlagene Aktion in London und versuche, Stark und die Hackerin damit in Zusammenhang zu bringen.«
»Warum sollte es da einen Bezug geben?«, protestierte Müller.
»Weil es keine Zufälle gibt«, blaffte der Biker sie an. »Simon Stark denkt sich ein Lügenmärchen aus, um nach London zu kommen, und das, kurz, nachdem unser Zugriff dort gescheitert und das Paket in fremde Hände gefallen ist. Du, mein Täubchen, bist das einzige, was Starks Auftrag mit unserer Operation verbindet. Also muss es in deinem Umfeld eine undichte Stelle geben. Finde sie und stopfe das Loch.«
Als er fertig war, setzte er seinen Integralhelm auf und stapfte aus dem Büro. Er verabschiedete sich nicht und wartete keine Antwort ab.
Müller blieb zurück und war hin und her gerissen. Einerseits war sie maßlos wütend, dass es jemand wagte, sie wie ein Schulmädchen zu maßregeln, aber andererseits war sie diesem Mann dermaßen verfallen, dass sie gar nicht anders können würde, als seinen Anordnungen nachzukommen. Er erteilte ihr als einziger Mensch auf der Welt Befehle – Müller liebte das.
***
London, Hydepark, 0. Mai 08:30 Uhr GMT
Ragnar schreckte auf, weil etwas Warmes, Nasses über sein Gesicht glitt. Es stank außerdem furchtbar. Nach einer kurzen Schreckstarre stellte er fest, dass er einem jungen Schäferhundmischling in die Augen sah. Der hatte ihn offenbar beim Herumtollen auf der Wiese aufgestöbert und neugierig untersucht.
»Putz dir mal die Zähne, Junge«, brummte er halb angewidert, halb amüsiert. Der Hund machte keine Anstalten, zu verschwinden, sondern sah ihn freundlich hechelnd und mit dem Schwanz wedelnd an.
»Los, lauf zu deinem Menschen.« Keine Reaktion. Dann fiel Ragnar ein, wo er war und sagte: »Hurry up, boy. Where´s your master?«
Das verstand er offenbar, denn er bellte zweimal kurz, sah sich dann suchend um und rannte los. Ragnar musste lachen. Dann besann er sich auf seine Situation und lugte vorsichtig aus dem hohen Gras in Richtung Hauptweg. Die Luft war rein. Er schnappte sich seine Tasche und machte sich auf den Weg. Vielleicht sollte er weiterhin auf der Straße bleiben, statt ein neues Hotel zu nehmen, überlegte er. Wie sollten sie ihn finden, wenn er den ganzen Tag im überfüllten London umherstreifte? Ragnar beschloss, dass er bessere Überlebenschancen hatte, wenn er in Bewegung blieb.
Hoffentlich meldet sich Simon bald, dachte er und seufzte.
***
London, Flughafen Heathrow, Gepäckausgabe Terminal 2, 08:45 Uhr GMT
Simon war nur mit Handgepäck geflogen und wartete ein paar Schritte abseits darauf, dass Martinus endlich seinen Koffer auf dem Förderband entdeckte. Er fragte sich, was um alles in der Welt der Agent in diesem riesigen Ding für ein paar Tage Aufenthalt mit sich schleppte. Da fiel sein Blick auf einen Fernsprecher an der Wand. Unauffällig schlenderte er hinüber und ließ Martinus dabei keine Sekunde aus den Augen. Der war allerdings immer noch auf das Gepäckband fixiert. Simon nahm den Hörer ab, steckte seine Bankkarte ein und wählte Ragnars Nummer. Zum Glück meldete sich der Freund umgehend. Er hatte wahrscheinlich schon sehnsüchtig auf den Anruf gewartet.
Sie kamen überein, dass sie sich am späten Nachmittag vor dem Kaufhaus Selfridges treffen wollten. Simon warnte Ragnar vor, dass er ihn seinem Wachhund als Kontaktmann der rechten Szene verkaufen müsse und Ragnar damit auf dem Radar des Verfassungsschutzes auftauchen würde.
»Das ist kein Problem. Lässt sich alles anschließend wieder geradebiegen. Hauptsache, du kommst und hilfst mir«, stimmte Ragnar zu. Damit war das Gespräch beendet und Simon schlenderte so unauffällig zu seinem alten Standort zurück, wie er ihn verlassen hatte.
Mittlerweile hatte auch Martinus Erfolg gehabt. Er war gerade dabei, seinen überdimensionierten Koffer vom Förderband zu zerren, und Simon fragte sich schon wieder, was da alles drin sein mochte. Abhörequipment? Waffen? Beides unwahrscheinlich, denn sie waren mit einem gewöhnlichen Charterflug gekommen und mussten dieselben strengen Kontrollen passieren wie alle anderen Passagiere auch.
Mit gestresstem Gesicht und glühenden Wangen kam Martinus bei Simon an. »OK, das hätten wir. Dann mal los.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, hetzte der Agent mit seinem Rollkoffer im Schlepptau an Simon vorbei in Richtung Ausgang. Der beeilte sich, ihm zu folgen, damit man ihm nicht am Ende unterstellte, er hätte sich von seinem Aufpasser abgenabelt, nur weil der ihn abgehängt hatte.
»Hey, Martinus«, rief er ihm nach. Martinus blieb stehen und drehte sich fragend um.
»Was haben Sie da eigentlich in Ihrem Koffer? Ich habe schon Topmodels mit leichterem Gepäck reisen sehen.«
»Das geht Sie einen Scheißdreck an, Soldat«, blaffte Martinus zurück und zog beleidigt weiter.
Soldat am Arsch, dachte Simon ärgerlich. Seit der Typ wusste, dass er mal bei den Kommandospezialkräften gedient hatte, war er für ihn immer nur der Soldat. Simon hätte ihm dafür jedes Mal an die Gurgel gehen können.
Nach der Passkontrolle traten sie einige Minuten später aus dem Terminal in den angenehm warmen Londoner Maitag hinaus. Entweder, um möglichst unauffällig zu sein, oder um das Budget der Behörde zu schonen, war vorgesehen, nicht mit dem Taxi oder dem Express, sondern mit der Tube in die Innenstadt zu fahren.
Martinus besorgte ihnen Oyster Cards und checkte auf seiner App die günstigste Verbindung von Heathrow nach Camden, wo dann vermutlich ein Zimmer für sie gebucht war.
In der Bahn saßen sie die ersten zwanzig Minuten schweigend nebeneinander. Simon ließ den Blick zum wiederholten Male unauffällig durch den Waggon schweifen. Mittlerweile war er überzeugt, nicht paranoid zu sein. Dieser grauhaarige, agil wirkende Mann mit indischem Aussehen, der wenige Meter weiter saß und vorgab, auf seinem Smartphone zu surfen, beobachtete sie. Simon stieß Martinus mit dem Fuß an und flüsterte ihm zu:
»Nicht auffällig hinsehen, Martinus. Der Inder auf zwei Uhr hat uns mittlerweile mehrmals verdeckt mit seinem Handy gefilmt und die Aufnahmen auch schon weiter versandt.«
»Was reden Sie denn für einen Müll?« Martinus wirkte genervt, vermied es aber dennoch, sich auffällig umzusehen und er flüsterte ebenfalls.
»Jetzt sagen Sie nicht, Sie hätten das nicht auch schon längst bemerkt. Sie sind doch ein Spitzenagent.«
Simon wusste, welchen Knöpfe er bei Martinus zu drücken hatte. Er war zwar ein widerlicher Terrier, der für seine Chefin alles tun würde, aber er war auch manipulierbar. Eben nicht die hellste Kerze auf der Torte, wenn man ihn bei seiner Ehre packte.
»Natürlich habe ich das bemerkt. Ich wollte nur weiter beobachten, » verteidigte er sich. »Ich verstehe nur nicht, wer uns hier observieren sollte.«
Simon rückte dichter an ihn heran, senkte seine Stimme noch weiter und flüsterte verschwörerisch: »Der lange Arm des internationalen Rechtsterrorismus. Wissen Sie etwa, wie weit deren Einfluss wirklich reicht?«
Jetzt sah ihn Martinus an, als hätte Simon nicht alle Tassen im Schrank. »Nazis? Und dann schicken die einen Inder?«
Simon sah nun seinerseits auf Martinus herab und gab zurück: »Inder sind auch Arier, Martinus. Im Grunde ist der Inder der Ur-Arier. Da ist es doch klar, dass die gut mit den Nazis können, oder?«
Innerlich schüttete Simon sich vor Lachen aus. Wenn Martinus das schluckte – und Simon hatte keinen Zweifel, dass er das tun würde – wäre das der Brüller des Tages.
»Hm«, machte Martinus und wirkte verunsichert. Er widersprach tatsächlich nicht, sondern schloss sich Simons Ansicht an. »Das muss ich umgehend an Frau Müller melden. Die Sache ist ja heißer, als ich erwartet hatte.«
Das wiederum fand Simon auch. Nur, dass er wusste, dass es nicht die internationale Nazi-Bewegung war, die sie beobachtete. Es war glasklar, dass Simon es hier mit denen zu tun hatte, die hinter Ragnar mit seiner Aktentasche her waren. Das würde Simon berücksichtigen müssen, wenn er sich tatsächlich heute noch mit Ragnar treffen wollte. Diese Leute hörten offenbar sein Telefon ab, weswegen sie auch über das geplante Treffen informiert sein dürften. Das würde also wenig friedlich ablaufen. Wenn das tatsächlich der Fall war, musste er Ragnar unbedingt schnell informieren, dass er sein Handy ausschalten musste. Wer Gespräche mithören konnte, war auch mit Sicherheit in der Lage, eine Standortbestimmung vorzunehmen.
Ein Seitenblick auf das angespannte Gesicht von Martinus verbesserte seine Laune allerdings wieder. Im Grunde war alles gut: Martinus würde Müller erzählen, die Nazi-Sache wäre tatsächlich so groß, wie Simon vermutet hatte. Damit würde sein Spielraum größer werden. Die Konfrontation mit den Verfolgern von Ragnar fürchtete er nicht besonders. Sie wussten nicht, wer und was er war, und würden sich schnell ausschalten lassen. Der Anruf bei Ragnar war nur eine Kleinigkeit, die er schnell erledigen konnte. Er würde das vermutlich nicht mal heimlich tun müssen.
Als sie nach einer knappen Stunde Fahrt an der King´s Cross St. Pancreas Tube Station ankamen, wo sie umsteigen mussten, zupfte Simon Martinus am Ärmel.
»Was ist?«
»Ich möchte bitte telefonieren.«
»Mit wem?«
»Das geht Sie ausnahmsweise mal nichts an, Martinus. Es ist privat. Mehr müssen Sie nicht wissen.«
Doch das machte den Agenten erst recht misstrauisch. Er legte die Stirn in Falten und sah Simon durchdringend an.
»Hier gibt es nichts Privates für Sie, Stark. Ihr Arsch gehört dem Verfassungsschutz, und wenn sie furzen wollen, holen Sie sich dafür vorher eine Genehmigung von mir. Ist das klar?«
Da war er wieder, der Terrier. Wenn er Simon das Leben nicht wenigstens alle fünf Minuten schwer machen konnte, war er nicht glücklich.
»Gut, Martinus. Dann wollen Sie sicher, dass mich meine Freundin in Hamburg bei der Polizei als vermisst meldet. Auch gut.«
Martinus sah ihn irritiert an. »Seit wann haben Sie denn eine Freundin, Stark?«
»Geht Sie auch nichts an. Und die Tatsache, dass Sie noch nichts von meiner Beziehung mitbekommen haben, wirft kein gutes Licht auf Sie. Vielleicht interessiert Müller sich ja dafür, wie ich eine Beziehung führen kann, ohne dass Sie als mein Bewacher davon auch nur die geringste Ahnung haben.«
Simon blickte Martinus kühl ins Gesicht und registrierte mit Genugtuung, dass er ihn voll erwischt hatte. Der Teint des Agenten verfärbte sich leicht ins Rötliche und er machte ein Gesicht, als hätte er eine Ohrfeige bekommen.
»Ein einziges Gespräch. Nicht länger als zwei Minuten«, presste Martinus schließlich wütend hervor. Simon nickte knapp und ließ den Agenten stehen. Er suchte sich ein Telefon und rief Ragnar an.
Der Freund versprach ihm, sein Handy auszuschalten. Das Treffen vor dem Kaufhaus sollte dennoch wie geplant stattfinden.
Der Tag war noch jung und alles entwickelte sich vorerst günstig für Simon. Er legte auf und schlenderte mit einem entspannten Lächeln zurück zu Martinus.
Mögen die Spiele beginnen.