Kapitel 10

Hamburg Lokstedt, bei Müller zu Hause, 06. Mai 20:10 Uhr MEZ

 

»Jones ist in Dresden? Was will der hier?« Petersen rannte aufgebracht in Müllers Küche auf und ab. »Erst erzählt uns Stark dieses Ammenmärchen von der Connection Braake – London, und jetzt das.«

Müller ließ sich von Petersens Hektik nicht anstecken. Stattdessen versuchte sie, mit ihrem messerscharfen Verstand einen Sinn in diese verwirrenden Fakten zu interpretieren.

»Vielleicht hat Stark uns gar keinen Bären aufgebunden«, gab Müller zu bedenken. »Was wissen wir schon über diesen Jones? Was, wenn er der Kopf der Gruppe ist, zu der Braake angeblich Kontakt hat?«

Petersen schüttelte nur ärgerlich den Kopf. »Dieser Jones ist definitiv kein Teil der Bewegung. Das wüsste ich. Ich hätte schon längst von ihm gehört, wenn es so wäre.«

Aber Müller ließ sich nicht beirren. »Du weigerst dich, die Fakten zu sehen«, hielt sie ihm vor. »Fakt ist, dass Jones mit Braake telefoniert hat und Fakt ist auch, dass er mittlerweile in der Stadt ist, um ihn zu treffen. Die beiden kungeln miteinander – so oder so.«

»Und wie passt Starks Täuschungsmanöver da rein?«, ätzte Petersen.

»Dann war es eben kein Täuschungsmanöver«, entgegnete Müller beschwörend. »Versteh doch: Braake erzählt ihm irgendwas von Verbindungen nach London, die gut für die Sache sind. Stark musste doch annehmen, dass es sich um eine rechte Gruppe handelt, zu der Braake da Kontakt hat. Er konnte doch nicht wissen, dass es um etwas ganz anderes ging.«

»Und Braake soll von der Formel gewusst haben? Woher denn? Welchen Grund hätte er gehabt, Jones zu kontaktieren?«

»Ich weiß es doch auch nicht«, stöhnte Müller und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir können hier noch stundenlang Mutmaßungen anstellen. Inzwischen läuft vielleicht ein Deal zwischen Braake und Jones und wir sind außen vor. Ich finde, wir sollten unseren Arsch hochkriegen und das verhindern.«

Petersen blieb nichts übrig, als diese Schlussfolgerung zu akzeptieren. Manchmal musste man eben handeln, ohne alle Fakten zu kennen.

»Also gut. Ich fahre mit meinen Jungs nach Dresden und statte Braake einen Besuch ab. Das wird ziemlich hässlich werden. Ich zähle darauf, dass du mir hinterher den Rücken frei hältst.«

»Mach dir keine Sorgen, das werde ich«, beeilte Müller sich, zu versichern. Innerlich frohlockte sie. Wenn sie ihre schützende Hand über Petersen halten sollte, dann ging das nur über eine Verpflichtung als V-Mann. Das würde ihn nach dem bevorstehenden Konflikt mit Braake vor dem Gefängnis bewahren und sie hätte ihn in der Hand, wie es schon bei Stark und Dawn Widow der Fall war. Petersen würde gezwungen sein, ihr aus der Hand zu fressen und bei ihr zu bleiben. Das war perfekt für sie.

»Also trommle deine Männer zusammen und fahre mit ihnen nach Dresden. Wir brauchen diese Formel unbedingt. Sie ist unser Freifahrtschein ganz nach oben.«

Minuten später saß Müller in ihrem Ohrensessel und malte sich die Zukunft in schillernden Farben aus. Petersen war nach einem Anruf im Hauptquartier seines Motorradclubs eilig verschwunden und würde schon bald in Dresden sein. Es war abzusehen, dass es Tote geben würde, wenn Petersens Leute auf Braakes Anhänger trafen. Müller war es egal.

***

London, Hotelzimmer Ragnar, 06. Mai 22 Uhr GMT

 

Es klopfte an der Zimmertür. Ragnar sprang auf und rannte hin. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. In den letzten Stunden hatte er absolut nichts unternehmen können, was ihn vorangebracht hätte. Er riss die Tür auf und war erleichtert, dass es tatsächlich Mehmet war, der da mit einem blauen Müllsack in der Hand ernst dreinblickend vor ihm stand.

»Komm rein, Kumpel«, forderte Ragnar ihn auf. »Was hast du da?« Er deutete auf den Sack.

Mehmet trat ein und Ragnar packte ihn am Arm. Er sah ihn bewegt an. »Mehmet, wir haben uns so lange nicht gesehen. Geht es dir gut? Was ist mit Dawn?«

Der Taxifahrer entwand sich seinem Griff. »Momentan bin ich mit den Nerven zu Fuß. Dawn geht es so weit gut. Sie führt die Geheimdiensttypen an der Nase rum. Natürlich vermisst sie dich und …«

»Entschuldige, dass ich mit meinem Privatkram angefangen habe. Simon würde mich erwürgen, wenn er jetzt hier wäre. Also, was hat dein Besuch in Greenwich ergeben?«

Gemeinsam setzten sie sich und Mehmet berichtete, was sich in der Wohnung von Greenes Großmutter abgespielt hatte. Die Erinnerung war noch ganz frisch, und so wühlte die Schilderung der Ereignisse ihn wieder auf. Als er fertig war, hatte er wieder Tränen in den Augen und Ragnar sah ihn mitfühlend an. Ihm ging die Erzählung auch nahe, aber er gestattete sich jetzt keinen Gefühlsausbruch.

»Ist er da drin?«, wollte er wissen und deutete auf den Plastiksack.

Mehmet nickte. »Ich habe ihn in drei Müllsäcke eingewickelt und noch Handtücher dazugelegt. Die haben wir vorher mit dem Parfüm der alten Dame eingesprüht, aber der Geruch dringt jetzt doch langsam nach draußen.«

Ragnar hatte es natürlich schon bemerkt. Dem Gestank nach dürfte der Anblick des Kadavers in dem Sack nicht sonderlich erfreulich sein. Trotzdem musste er einen Blick auf das Tier werfen. Wenn Mehmet den Zustand richtig gedeutet hatte, dass es wirklich aggressiver Krebs war, mussten sie es wissen. Das würde die Karten in diesem Spiel komplett neu mischen.

»OK, mach auf.«

»Sicher? Ist wirklich schlimm.«

»Mach schon. Ich muss es mir ansehen.«

Mehmet zuckte mit den Schultern und knotete den Beutel auf. Als er die Öffnung auseinanderzog, drehte er sich angewidert weg und vermied es, hinzusehen.

Ragnar schaute hinein und fand seine schlimmsten Befürchtungen mehr als bestätigt. Er ignorierte den aufkeimenden Ekel und zwang sich zu einer professionellen Haltung. Vorsichtig hob er das tote Tier heraus und trug es ins Bad, wo er es in die Wanne legte. Dort konnten sie hinterher zumindest die Wundflüssigkeit und den Eiter wieder wegspülen. Ragnar betrachtete den Körper eingehend. Er war kein Mediziner, aber in den letzten Jahren hatte er sich aufgrund seiner Privatforschungen tief in die Materie des programmierten Zelltodes, den körperlichen Verfall und andere medizinische Gebiete eingearbeitet, die für die Unsterblichkeitsforschung relevant waren.

Was er hier sah, war eindeutig Krebs in seiner furchtbarsten Form. Einen dermaßen zerfressenen Körper hatte er nie zuvor gesehen. Es war ein Wunder, dass der Beagle nicht schon vor Tagen gestorben war.

»Das ist absolut grauenhaft«, flüsterte er heiser.«

Mehmet war bis zur Badezimmertür zurückgewichen und würgte. »Kannst du ihn bitte wieder einpacken? Du hast doch genug gesehen, oder?«

»Sofort. Lass mich nur erst noch ein paar Fotos machen. Dann schaffen wir ihn in Simons Zimmer. Wir müssen den Kadaver ja aufbewahren, und du willst sicher nicht damit in einem Raum schlafen.«

»Simon und Sophie aber auch nicht.«

»Dann ziehen sie zu dir. Bring mir bitte mein Handy aus dem Schlafzimmer. Ich mache die Bilder und dann bin ich hier fertig.«

Fünf Minuten später war alles erledigt. Der Sack war drüben im anderen Zimmer, die Fotos waren auf dem Handy und Ragnar hing am Telefon, um Simon zu erreichen.

»Er geht nicht ran«, fluchte er frustriert.

»Und Sophie?«, fragte Mehmet.

»Empfänger vorübergehend nicht erreichbar. Verdammt, wenn ich sie nur an den Apparat kriegen würde. Sie müssen diesen Irrsinn abblasen. Wir brauchen diese Formel nicht. Sie ist nutzlos.«

***

»Dann gehe ich hin und sehe, was ich tun kann«, sagte Sophie entschlossen. »Meinem weiblichen Charme wird der Gute sicher nicht widerstehen können.

Simon und Sophie standen vor einem Problem, das sie nicht einkalkuliert hatten. Die Lobby des Wolkenkratzers war nicht für jeden einfach so zugänglich. Es gab Türsteher, die einen fragten, wo man hin wollte. Vermutlich würde man sie ohne Anmeldung nicht in das Büro von Jones vorlassen.

Ehe er sich´s versah, schlenderte Sophie auch schon lasziv mit den Hüften wackelnd in Richtung Glastür, hinter der ein junger Sicherheitsmann stand.

In diesem Augenblick brummte das Handy in seiner Tasche.

»Eine Nachricht von Dawn«, murmelte er und las stirnrunzelnd. Als er fertig war, sah er auf und entdeckte Sophie, die dabei war, auf den Wachmann einzureden. Ihre Masche zog aber offenbar nicht bei ihm. Er sah sie nur höflich interessiert an und schüttelte sachte, aber bestimmt den Kopf. Sophie schien das persönlich zu nehmen, denn jetzt fing sie an, aufgeregt zu gestikulieren. Er musste sie dringend da wegholen.

Im Laufschritt eilte er zu ihr und stoppte entschuldigend lächelnd direkt neben ihr. Er nahm ihre Hand und sagte. »Da bist du ja Schätzchen. Komm, lass uns gehen.«

»Nein, wir müssen doch …«

»Wir müssen jetzt weiter, genau«, fiel Simon ihr ins Wort und zog sie von der Tür weg. Der Wachmann besah sich die Szene mit einem reserviert zurückhaltenden Gesicht. Ganz der diskrete Brite.

»Jones ist nicht hier«, zischte er Sophie zu, die ihn daraufhin verständnislos ansah, aber schließlich ihre Gegenwehr aufgab und ihm folgte.

Simon führte sie zur Rolltreppe, mit der sie von der erhöhten Plattform hinunter zur Staßenebene fuhren.

»Er hat ein Labor ganz in der Nähe, das er versucht, geheim zu halten.«

»Woher weißt du das?«, fragte Sophie überrascht.

Statt zu antworten, reichte er Sophie das Handy mit Dawns Nachricht.

»OK, er hat ein Geheimlabor. Aber er könnte doch jetzt genauso gut in seinem Büro sein. Warum glaubst du, dass er nicht da ist?«

Sie waren mittlerweile unten angekommen. Simon sah sich um, entdeckte eine ruhige Ecke und ging mit Sophie dorthin. Er senkte seine Stimme, während er weiter sprach. »Weil wir wissen, dass er jetzt die komplette Formel hat. Jones ist sicher niemand, der lange fackelt. Leute, die so erfolgreich sind, haben alle etwas gemeinsam – sie handeln sofort. Ohne zu zögern. Ich verwette meine Prothesen darauf, dass er jetzt mit seinen Wissenschaftlern zusammensitzt und sie antreibt, ihm zur Unsterblichkeit zu helfen, und zwar heute noch.

***

Der Weg von The Shard bis zu der Adresse, unter der das geheime Labor zu finden war, dauerte zu Fuß keine fünfzehn Minuten. Von außen deutete nichts auf eine Forschungseinrichtung hin. Weder gab es Firmennamen an dem Gebäude noch Klingelschilder. Wenn Jones tatsächlich da drin war, legte er keinen Wert auf Publicity.

»Und was jetzt?«, fragte Sophie. »Wie sollen wir da rein kommen?«

»Ich weiß es noch nicht«, entgegnete Simon, während er sich die Nase an der von innen mit Packpapier verklebten Fensterfront platt drückte. »Da ist nirgends eine Lücke. Ich sehe absolut gar nichts.«

Sophie wollte auch etwas tun, aber ihr fiel nichts Besseres ein, als an dem Türgriff zu wackeln. Natürlich bewegte sie sich keinen Millimeter. Plötzlich rüttelte Simon an Sophies Schulter und deutete nach schräg rechts oben auf einen Punkt über der Tür.

»Eine Kamera«, bemerkte Sophie ausdruckslos. »Glaubst du, die sehen uns da drinnen?«

Ehe Simon antworten konnte, wurde die Tür von innen aufgestoßen, sodass er aus dem Weg springen musste, um nicht von ihr am Kopf getroffen zu werden. In der nächsten Sekunde starrten die beiden auch schon in den Lauf einer Maschinenpistole. Simon erkannte den Typen, der sie bedrohte, sofort. Es war der Anzugträger, der ihnen aus dem Hotel entwischt war.

Simon zuckte, doch der Mann schnalzte nur missbilligend mit der Zunge und drückte der paralysierten Sophie den Gewehrlauf direkt auf die Stirn.

»Wenn du auch nur an Flucht denkst, verteile ich das Gehirn deiner Freundin auf der Straße, Freundchen. Los, jetzt – rein mit euch.«

Ihnen blieb nichts anderes übrig, als der Aufforderung nachzukommen und einzutreten. Drinnen warteten zwei weitere bewaffnete Gorillas. Der Anzugträger warf die Tür hinter Simon wieder ins Schloss und spuckte verächtlich auf den gekachelten Boden des schmucklosen Eingangsbereiches.

»So sieht man sich wieder, Herr Stark. Wenn ich freie Hand hätte, würde ich euch gleich hier umlegen. Aber mein Boss will euch sehen. Vorwärts.«

Die drei bewaffneten Männer trieben sie durch einen schmalen, langen Korridor in den straßenabgewandten Teil des Hauses. Wenige Meter weiter versperrte eine Schleuse den Weg. Simon wollte die Tür öffnen, doch Gorilla Nummer zwei stieß ihm von hinten den Lauf seiner Waffe in den Rücken.

»Nicht da rein. Rechts.«

Simon sah in die Richtung und entdeckte erst jetzt, dass dort tatsächlich eine weitere Tür war. Im Halbdunkel des Korridors war diese graue Stahltür, die sich fast unsichtbar in die gleichfarbige Wand einfügte, kaum zu sehen.

»Ist offen. Hereinspaziert«, knurrte der Anzugträger. Simon gehorchte und öffnete die Tür. Dahinter befand sich ein weiterer, bis auf einen Tisch und drei Stühle leerer Raum.

Sie wurden hineingeschubst und zu dem Tisch gedrängt.

»Hinsetzen und Maul halten«, blaffte der Dritte der Männer sie an, und wieder gehorchten sie. Während die zwei anderen weiterhin aus sicherer Distanz ihre Waffen auf Simon und Sophie gerichtet hielten, stellte der Anzugträger seine am Türrahmen ab und ging zu Simon. Er baute sich direkt vor dem Sitzenden auf und sah ihn kalt an.

»Wirklich schade, dass ich dich noch nicht umlegen darf«, murmelte der Killer bedächtig.

»Das tut mir aber ungemein leid«, spottete Simon und machte ein übertrieben bedauerndes Gesicht. Auf einmal holte sein Gegenüber aus und schmetterte ihm seine Faust mitten ins Gesicht. Simons Kopf wurde zur Seite geschleudert und Blut spritzte von seinen Lippen und aus seiner Nase quer durch den Raum.

Sofort flutete Adrenalin seinen Körper und er richtete sich wieder auf, um den Anzugträger mit zusammengekniffenen Augen ins Visier zu nehmen. Noch einmal würde der Typ das nicht mit ihm machen. Simon bereitete sich darauf vor, aufzuspringen und den Kerl zu Brei zu schlagen, wenn er es noch einmal versuchen sollte. Doch der Ausbruch war vorüber. Ein zufriedenes Lächeln machte sich auf dem Gesicht des Killers breit.

»Von nicht anfassen hat mein Boss allerdings nichts gesagt. Wir sind erst mal quitt, schätze ich.«

Damit zog er sich zurück, nahm sein Gewehr von der Türzarge und verließ den Raum. Seine beiden Kumpane folgten ihm und schlossen die Tür hinter sich. Simon hörte, wie von draußen zugesperrt wurde und dann ging das Licht aus. Vollkommene Dunkelheit umgab sie.

***

Dresden, Villa von Braake, 07. Mai 01:30 Uhr MEZ

 

Im Schutz der Dunkelheit nährten sich Petersen und zweiundzwanzig seiner Leute zu Fuß dem hell erleuchteten Haus. Ihre Motorräder hatten sie einen Kilometer weiter auf einem Parkplatz abgestellt. Petersen war noch etwas steif von der fast fünfstündigen Fahrt, doch er war grimmig entschlossen, seinem Erzfeind heute den Todesstoß zu versetzen. Er rechnete mit Widerstand, aber viele von Braakes Leuten würden um diese Zeit nicht da sein. Er kam mit einer Übermacht und mit der Absicht, zu töten. Darauf war der alte Knacker mit Sicherheit nicht eingestellt.

Die Schrotflinten, Handgranaten, Kalaschnikows und all das andere Zeug, das sein Club in den vergangenen Jahren für genau so einen Tag zusammengetragen und unter dem Fußboden in ihrem Clubheim versteckt hatte, würden jeden Widerstand schnell brechen.

Er gab seinen Männern Zeichen, dass sie sich aufteilen sollten. Einen Teil der Leute schickte er zur Rückseite des Hauses, um zu verhindern, dass Braake durch den Hintereingang fliehen konnte. Je zwei Männer postierten sich an jedem Fenster, und der Rest näherte sich in geduckter Haltung der Vordertür.

Den Angriffsplan hatte er ihnen bereits auf dem Parkplatz erklärt. Er hoffte, dass jeder verstanden hatte, worauf es ankam. Immerhin waren es keine Soldaten, sondern nur ein Haufen Schläger, die gern Motorrad fuhren und Gewalt eher impulsiv als koordiniert ausübten.

In dem Moment, als die Männer, die für die Fenster eingeteilt waren, ihren Standort erreichten, ging die Alarmanlage los. Ein ohrenbetäubendes Heulen, untermalt von hektisch aufblinkenden, roten Lichtern brach aus. Petersens Leute rannten plötzlich wie aufgescheuchte Hühner herum und suchten Sichtschutz hinter Bäumen und Büschen. Als ob das noch etwas bringen würde, dachte Petersen entnervt. Braake wusste nun, dass er Besuch hatte. Statt sich zu verstecken, mussten sie jetzt erst recht schnell zuschlagen.

Petersen stürmte los und rannte direkt auf den Eingang zu.

»Angriff! Los, los, los, ihr Hunde«, brüllte er und eröffnete das Feuer aus der Maschinenpistole, die er mitgebracht hatte.

Als die Männer ihren Anführer in Aktion sahen, wussten sie, was die Stunde geschlagen hatte, und erinnerten sich an den Plan. Sie rannten wieder auf ihre zugedachten Positionen zurück. Kurz hintereinander schlugen sie sämtliche Fenster im Erdgeschoss ein und Petersen war mittlerweile an der massiven Vordertür angekommen. Er winkte drei weitere Leute heran und gemeinsam warfen sie sich dagegen. In wenigen Augenblicken würden sie über mehrere Zugänge gleichzeitig ins Haus eindringen und Braakes Männer abschlachten wie Vieh.

»Granaten, jetzt!«, schrie er, woraufhin die Männer an den Fenstern die mitgebrachten Handgranaten vom Gürtel nahmen und die Sicherungsstifte zogen.

***

Die Recherchen zu Ryan Greene hatten hochinteressante Erkenntnisse zutage gefördert. Braake konnte dem Inquisitor gar nicht genug danken, dass er diesen Namen aus Kowacz herausgekitzelt hatte. Greene war ein aufgehender Stern in der Wissenschaftsszene, und überall gab es wilde Spekulationen über das große Ding, an dem er angeblich arbeitete. Womit Greene genau befasst war, ließ sich zwar nicht herausfinden, aber immerhin konnten seine Leute in Erfahrung bringen, dass er als Hauptredner auf einem Kongress von Jonathan Jones, einem britischen Milliardär und Starinvestor, vorgesehen gewesen war und dass es dort einen Anschlag auf sein Leben gegeben hatte.

Braake musste nur Eins und Eins zusammenzählen, um zu verstehen, dass das Ziel dieses Anschlages nur gewesen sein konnte, an die Ergebnisse von Greenes Forschung zu gelangen. Petersen war also an etwas dran, das wertvoll genug war, um dafür zu töten. Was immer das war: Braake musste es ihm abjagen – koste es, was es wolle.

Deshalb hatte Braake alle seine Leute für diese Nacht in sein Haus beordert. Er hatte einen Plan, den er ihnen mitteilen wollte. Sie saßen seit zwei Stunden im Besprechungsraum im Obergeschoss beisammen und besprachen die Instruktionen, die Braake ihnen gegeben hatte, als die Hölle losbrach. Zuerst schrillte die Alarmanlage los und durch das Fenster flackerten alarmierende, rote Lichter. Gleich darauf wurde draußen aus einer automatischen Waffe gefeuert. Jetzt zahlten sich all die Wehrsportübungen aus, die er seine Männer immer wieder hatte absolvieren lassen. In den letzten zwei Jahren hatte er eine einsatzbereite Miliz gezüchtet, die jetzt ihre Feuerprobe würde bestehen müssen.

Im ersten Moment sprangen zwar alle geschockt auf und niemand wusste, was los war, aber schon wenig Augenblicke später spulten sie ihre erlernte Routine ab, ohne Fragen zu stellen. Geordnet, aber im höchsten Tempo strömten sie aus dem Besprechungsraum zur rückwärtig gelegenen Waffenkammer, wo sofort der Waffenwart Stellung bezog und mit der Ausgabe begann.

Aus dem Untergeschoss hörte Braake das Klirren von Fensterscheiben und ein rhythmisches Poltern, als versuche jemand, die Eingangstür gewaltsam zu öffnen. Braake rannte zur Treppe und spähte nach unten, doch noch war dort nichts zu sehen. Plötzlich brüllte draußen jemand ein Kommando. Braake verstand es nicht, erkannte aber sofort die Stimme des Mannes, der da schrie.

»Petersen!«, brüllte er hasserfüllt und fassungslos. Im selben Augenblick detonierten die Handgranaten, die Petersens Männer durch die Fenster ins Haus geschleudert hatten, und Braake warf sich flach auf den Boden. Eine Staubwolke quoll durch den Treppenaufgang zu ihm hinauf und Trümmerteile surrten wie Schrapnelle über seinen Kopf hinweg. Die Männer, die bereits ihre Waffen erhalten hatten, warteten einige Sekunden, ehe sie an ihrem immer noch liegenden Boss vorbei die Treppe hinunter stürmten.

***

Sobald die Männer die Granaten ins Haus geworfen hatten, gingen sie unter den Fenstern in Deckung und hielten sich die Ohren zu. Petersen und die anderen drei Männer warfen sich unbeirrt weiter gegen die Haustür. Sekunden später zerriss eine Welle von Detonationen fast sein Trommelfell. Wer immer sich im Erdgeschoss aufgehalten hatte, war jetzt nur noch ein mit Splittern gespickter Fleischklumpen. Sekundenbruchteile später gab die Tür unter dem Ansturm der Biker nach, sodass Petersen und die anderen drei Männer übereinander ins Innere des Hauses fielen. Eine Wolke aus Trümmerstaub quoll ihnen entgegen. Petersen konnte sekundenlang weder atmen noch etwas erkennen. Statt aufzustehen, robbte er rückwärts zurück durch die Tür nach draußen und rollte sich dort seitwärts weg, um der Staubwolke zu entgehen. Sofort sah er zum nächsten Fenster hinüber, um zu sehen, ob alles nach Plan lief. Die dort postierten Männer sprangen gerade in diesem Augenblick aus ihrer Deckung hoch, um das Haus durch die zerstörte Fensteröffnung zu stürmen. Schon setzte der erste zum Sprung an, als ein Getöse begann, als hätte jemand eine Stalinorgel in Betrieb genommen. Seine Männer wurden, schon auf der Fensterbank hockend, regelrecht zerfetzt. Es war, als träfe sie ein Stahlgewitter aus der Hölle. Mit herausquellenden Augen musste Petersen mit ansehen, wie die beiden in Fetzen geschossen wurden, ehe sie den Boden berührten.

Ehe er richtig begriff, was los war, trieb eine weitere Breitseite die drei Männer, mit denen er ins Haus gestolpert war, ins Freie und zerlegte sie wie die Faust Gottes.

Die drei hatten offenbar den Fehler gemacht, orientierungslos aufzustehen und sich damit dem Sperrfeuer auszuliefern.

Was zur Hölle war das nur? Petersen konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er sah ein gutes Dutzend seiner Leute panisch vom Haus wegrennen. Er erkannte, dass er ebenfalls abhauen musste, wenn er lebend aus diesem Desaster rauskommen wollte, und so sprang er auf und rannte los.

Fast hätte er es bis zur nächsten Baumgruppe geschafft. Er sah seine Leute, die sich schon hinter den dicken Eichenstämmen in Sicherheit gebracht hatten und ihm panisch zuwinkten. Nur noch wenige Meter, dann war er in Sicherheit.

Ein brutaler Schlag riss ihm das linke Bein weg und Petersen stürzte schreiend zu Boden. Eine Kugel hatte ihn erwischt.

***

Braake rappelte sich auf und eilte zur Waffenkammer. Die letzten Männer erhielten gerade ihre automatischen Gewehre. Braake wartete ungeduldig, bis alle ausgerüstet und losgestürmt waren. Jetzt harrte sein persönlicher, extra abgeschlossener Waffenschrank, geöffnet zu werden. Er stieß den jungen Burschen, der als Waffenwart eingeteilt war, beiseite und machte sich daran, das Zahlenschloss zu öffnen.

Sekunden später hielt er sie in seinen Händen: seine Mauser Schnellfeuer-Selbstladepistole C 96/M 30 v.

»Mein Baby«, flüsterte er und streichelte verträumt über die hoffnungslos veraltete, aber immer noch tödliche Waffe. Sein Vater, der als ranghoher Waffen-SS Offizier an der Ostfront kämpfen durfte, hatte sie aus dem Krieg mitgebracht. Diese Pistole und seine Ideologie waren die einzigen Erinnerungen, die Braake von ihm geblieben waren. Es war an ihm, den Kampf seines Vaters weiterzuführen. Entschlossen lud er sie durch und folgte dann seinen Männern in den Kampf.

Als er langsam die Treppe hinunter ging, hatte er das Gefühl, mit jedem Schritt tiefer in die entfernte Vergangenheit einzutauchen. Er stellte sich vor, wie sein Vater durch das Inferno in einem kleinen weißrussischen Dorf lief, das er gemeinsam mit dem Polizeibattalion 316 im Auftrag des örtlichen SS-Führers im Morgengrauen eines Sommertages im Jahr 1941 auslöschen sollte.

Damals war etwas begonnen worden, das heute, mehr als siebzig Jahre später, immer noch seiner Vollendung harrte. Braake würde das Land eines Tages wieder groß machen. Davon würde ihn keiner abhalten, und schon gar nicht Petersen, dieser Schwächling. Einen Haufen räudiger Hunde hatte er um sich versammelt, die eine Schande für die deutsche Rasse waren. Petersens Haufen war dem Untergang geweiht, genau, wie es die primitive Truppe der SA unter Röhm damals gewesen war. Eine neue Weltordnung gründete man nicht auf den Schultern des asozialen Straßenpöbels.

Er erreichte die letzte Stufe. Seine Leute hatten an den Fenstern Position bezogen und feuerten aus allen Rohren nach draußen.

»Lagebericht«, schrie er herrisch durch den Lärm.

Einer seiner Männer kam sofort zu ihm gelaufen, salutierte und meldete: »Schätzungsweise zwei Dutzend Angreifer. Automatische Waffen und Sprengkörper. Erste Angriffswelle wurde erfolgreich zurückgeschlagen. Keine eigenen Verluste zu vermelden. Feind zieht sich zurück.«

Braake nickte zufrieden und lief zur zerstörten Haustür. Draußen registrierte er drei Leichen direkt neben dem Eingang. Weitere Tote lagen auf dem Rasen vor dem Haus. Dann ging sein Blick in Richtung der kleinen Gruppe steinalter Eichen, etwa zwanzig Meter vom Haus entfernt. Ein Mann sprintete auf die rettende Deckung zu. Augenblicklich erkannte Braake, welchen feigen Bastard er da vor sich hatte. Er legte an, visierte den Flüchtenden kaltblütig an und schoss.

***

Ob es ein glatter Durchschuss durch den Oberschenkelmuskel war oder ob es auch den Knochen erwischt hatte, wusste Petersen nicht. Ihm war nur klar, dass er es unter allen Umständen schaffen musste, hinter dem nächsten Baum in Deckung zu kommen, ehe der Schütze noch einen Treffer anbringen konnte. Er empfand keine Angst, nur grimmige Entschlossenheit und Wut.

Woher hatte dieser Hurensohn Braake wissen können, dass ein Angriff auf sein Hauptquartier geplant war? Hatte Müller, diese läufige Schlampe, etwa beschlossen, ihn loszuwerden? Ja, so musste es sein. Er hatte sie unterschätzt und war blind in die Falle getappt, die sie ihm gestellt hatte. Wenn er hier lebend rauskam, würde sie das büßen. Oh ja. Sie würde winselnd vor ihm liegen, doch dieses Mal nicht aus unterwürfiger Lust, sondern in Todesangst.

Er robbte vorwärts und spürte keinen Schmerz. Der würde später sicher noch kommen, aber jetzt war er so unter Strom, dass er auch noch hätte rennen können. Aber sich aufzurichten, wäre keine gute Idee gewesen. Über seinem Kopf hörte er Kugeln durch die Luft sirren, die ihn nur knapp verfehlten. Da reckte sich ihm ein Arm entgegen. Petersen packte zu und wurde mit Schwung vom freien Feld in die sichere Deckung gezogen.

»Alles in Ordnung, Boss?«, erkundigte sich der bärtige Biker, der ihn gerettet hatte, und sah ihn besorgt an.

»Danke Mann«, entgegnete Petersen und drückte sich an den mächtigen Baumstamm. Vorsichtig spähte er um die Ecke. Er schäumte vor Wut. Da kam Braake mit erhobener Waffe langsam und siegesgewiss über den Rasen auf die Schonung zu.

»Haltet euch bereit«, knurrte er seinen Männern zu. »Gebt mir Feuerschutz. Ich kaufe mir diese Ratte. Wenn es mich erwischt, dann kämpft ihr weiter bis zum letzten Mann. Lasst keinen Stein auf dem anderen und verschont niemanden. Verstanden?«

Sein Bein spürte er immer noch nicht. Der Hass loderte in ihm und ließ den Schmerz nicht in sein Bewusstsein. Petersen schob sich an dem Baumstamm aus dem Sitzen in eine stehende Position hoch und atmete noch einmal tief durch. Dann trat er aus der Deckung hervor, riss seine MP hoch und zog den Abzug durch, ehe er Braake auch nur sah.

Die erste Salve pflügte den Boden vor den Füßen seines Todfeindes um. Braake zuckte nicht einmal. Er blieb einfach stehen, visierte Petersen an und schoss. Im selben Augenblick traf ihn die zweite Salve und riss ihm die Brust auf. Die Kugel, die er abgefeuert hatte, fand jedoch noch ihr Ziel. Sie traf Petersen in den Hals und streckte ihn nieder. Die beiden Männer hatten sich im Abstand von Sekundenbruchteilen gegenseitig getötet. Für einen kurzen Augenblick erstarb sämtlicher Lärm ringsum. Braakes Männer stellten das Feuer ein und starrten ungläubig auf die Leiche ihres Führers. Petersens überlebende Kämpfer lauschten atemlos hinter den mächtigen Bäumen. Irgendjemand hatte mittlerweile auch die Alarmanlage am Haus abgestellt.

Petersen und Braake hatten ihre Leute führungslos zurückgelassen.

Durch die Nacht klang der Schrei eines Uhus, und eine Wolke, die vor dem Mond gehangen hatte, zog weiter und das Schlachtfeld wurde in kaltes, unwirkliches Licht getaucht.

»Für die Bewegung«, flüsterte der Biker, der Petersen zuvor in Deckung gezogen hatte, und lud seine Waffe durch.

»Kämpft für Braake«, schrie jemand vom Haus her und stürmte los. Sekunden später folgten alle anderen seinem Beispiel und rannten fanatisch brüllend hinterher.

Die Männer von Petersen sprangen ebenfalls mit einem Aufschrei hinter ihren Bäumen hervor und rannten auf die anstürmenden Dresdner zu.

Binnen Minuten waren die meisten Männer tot. Auf beiden Seiten gab es kaum jemanden, der klug genug war, die Flucht zu ergreifen, als die Sinnlosigkeit dieser Schlacht deutlich wurde. Auf Petersens Seite waren zwei Männer einfach wie versteinert hinter den Bäumen stehen geblieben, als ihre Kameraden losgestürmt waren. Als das Schießen aufhörte, rannten sie gemeinsam wie vom Teufel gehetzt weg. Die beiden waren die Einzigen, die in dieser Nacht nach Hamburg zurückkehren würden.

»Wir müssen es Petersens Alter sagen, wenn wir zu Hause sind«, keuchte der Eine, während sie durch die Dunkelheit rannten.

»Ich weiß, wo sie wohnt«, erwiderte der andere. »Ich hab den Boss mal da abgesetzt, als sein Bock im Arsch war.«

Von Braakes Männern war nur einer schlau genug gewesen, die Deckung des Hauses nicht zu verlassen. Von dem Fenster aus, unter dem er hocken geblieben war, hatte er allein sieben von Petersens Rockern erledigt. Jetzt saß er schwer atmend mit dem Rücken an der Wand und lauschte in die Nacht. Als er sicher war, dass es vorbei war, verließ er seinen Posten und trat vor das Haus. Beim Anblick seiner gefallenen Kumpane verließ ihn jede Hoffnung. Die Bewegung war am Ende.

»Wo soll ich denn jetzt hin?«, flüsterte er verzweifelt.

***

Hamburg Lokstedt, 07. Mai 06:45 Uhr MEZ

 

Dass Petersen seit Stunden nicht ans Telefon ging, versetzte Müller zunehmend in Panik. Entweder, es war ihm etwas zugestoßen, oder er hatte sich die Formel unter den Nagel gerissen, um sie auf eigene Faust zu verschachern. So schwankte sie schon die ganze Nacht zwischen Verzweiflung und blanker Wut. Mal erschien ihr die eine Möglichkeit wahrscheinlicher, dann wieder die andere.

Als es schließlich im Morgengrauen an der Tür klingelte, schöpfte sie wieder Hoffnung, dass doch alles gut gegangen war, und sie stürzte zur Tür.

Vor ihr standen zwei vollkommen geknickte Rocker. Normalerweise hätte jeder angesichts solcher Besucher ängstlich die Tür zugeschlagen, doch etwas in den Gesichtern der beiden Männer ließ sie eher hilflos als gefährlich wirken. Es war offensichtlich, dass es sich nur um Leute aus Petersens Club handeln konnte. Müller starrte sie Böses ahnend an.

»Frau Müller, Sie kennen uns nicht, aber …«

»Was ist mit Petersen«, rief sie mit zitternder Stimme dazwischen. »Wo ist er? Macht das Maul auf, verdammt noch mal.«

Sie sahen sich betreten an, und niemand schien das Wort als Erster ergreifen zu wollen, doch dann fasste sich einer der beiden ein Herz und murmelte: »Er ist tot. Braake hat uns mit einer ganzen Armee erwartet. Wir hatten keine Chance. Alle sind tot.«

Müller wurde bleich und ihre Beine zitterten plötzlich, als stünde sie auf einer schwankenden Hängebrücke.

»Das ist nicht wahr«, flüsterte sie. Keiner der Männer antwortete. Stattdessen blickten sie zu Boden und erweckten den Eindruck, möglichst schnell von Müllers Türschwelle fortlaufen zu wollen.

»Das ist nicht wahr!«, kreischte sie plötzlich los und verpasste dem Überbringer der schlechten Nachricht eine schallende Ohrfeige. Der bullige Mann zuckte zusammen und hob wie ein Schuljunge schützend die Hände vors Gesicht. Wie von Sinnen ließ sie einen Hagel von Schlägen auf seine Deckung einprasseln. Sie hörte erst auf, als der andere Biker dazwischen ging und sachte, aber bestimmt nach ihren Händen griff, damit sie nicht weiter schlagen konnte.

»Hören Sie auf. Es bringt ihn nicht zurück.«

Müller bekam sich wieder in den Griff. Sie trauerte, aber trotzdem war es unverzeihlich, sich gegenüber diesen zwei Gorillas solch eine Blöße gegeben zu haben. Sie wischte sich energisch die Tränen aus dem Gesicht und hob das Kinn.

»Was ist mit Braake? Und wo ist die Formel?« Sie sah den von beiden an, der ohnehin schon das Wort geführt hatte.

»Braake ist auch tot. Die beiden haben sich gegenseitig ausgeknipst.«

»Und die Formel?« wiederholte sie ungeduldig. Ihr Auftrag war es, diese verdammte Formel zu besorgen.

»Wir wissen nichts von irgendeiner Formel«, erwiderte der Biker überrascht. »Der Boss hat uns nichts davon erzählt. Wir dachten, wir machen einfach Braakes Schuppen ein für alle Mal dicht.«

Das war der nächste Tiefschlag. Resigniert gab sie den Männern zu verstehen, dass sie sich verziehen sollten. Als sie weg waren, holte Müller sich die Flasche Cognac für den Notfall aus ihrem Wohnzimmerschrank und schenkte sich ein Wasserglas voll ein. Sie musste nachdenken.

Wie konnte das passieren? Petersens Leute hätten in der absoluten Überzahl sein und den Kampf leicht gewinnen müssen. Dass es anders gekommen war, konnte nur bedeuten, dass jemand Braake gewarnt hatte. Aber wer?

»Dafür wird jemand bitterlich büßen«, flüsterte sie und schleuderte das halbleere Glas an die Wand. »Das wird mir jemand büßen«, schrie sie und brach in wütende Tränen aus.

***

London, Geheimlabor Jones, 07. Mai 06.00 Uhr GMT

 

Die ganze Nacht über hatte der Doc ihm in größeren Abständen immer wieder Injektionen verabreicht. Die endgültige hatte er soeben erhalten. Jones war endlich am Ziel. Er erhob sich zum letzten Mal vom Behandlungsstuhl und reichte dem Wissenschaftler feierlich die Hand.

»Wir haben heute Geschichte geschrieben, das ist Ihnen doch klar?«

Doch Dr. Wilson machte ein gequältes Gesicht und antwortete ausweichend: »Mag sein, das müssen andere entscheiden. Ich hoffe nur, dass alles gut geht.«

»Aber natürlich wird es das«, rief Jones strahlend aus. »Ich werde in den nächsten hundert Jahren – ach, was sage ich – tausend Jahren ein gigantisches Vermögen mit diesem Wundermittel machen, Doc. Die Eliten der Welt werden mir aus der Hand fressen und mir ihr Geld hinterherwerfen, um genau wie ich unsterblich zu werden.«

»Selbstverständlich. Verzeihen Sie meine Skepsis«, antwortete Wilson demütig und zog sich zurück.

Jetzt war Jones in der richtigen Stimmung, sich mit den beiden ungebetenen Gästen zu befassen, die ihm sein treuer Mitarbeiter Mason Thorn vor einigen Stunden gemeldet hatte. Auf den Mann war er besonders gespannt. Immerhin hatte Jones bereits von ihm gehört.

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Das Geräusch eines Schlüssels, der sich in einem Schloss drehte, erkannte Simon auch im Halbschlaf in vollkommener Dunkelheit sofort. Er sprang auf und orientierte sich in Richtung der Quelle und machte sich bereit, denjenigen anzugreifen, der durch diese Tür kommen würde.

Jede Sekunde musste es so weit sein. Der Schlüssel war bereits zweimal umgedreht worden. Simon konzentrierte sich auf seine Prothesen, mit denen er gleich einen gewaltigen Satz machen würde. Doch weitere zehn oder fünfzehn Sekunden passierte gar nichts. Als er sich gerade entschlossen hatte, die Initiative zu ergreifen und selbst zur Tür zu gehen, wurde sie aufgestoßen und gleißend helles Licht brandete herein. Simon war augenblicklich geblendet und gleichzeitig ertönte ein scharfes Rauschen. Etwas traf ihn mit mörderischer Gewalt an der Brust und schleuderte ihn rückwärts durch die kleine Zelle, bis er gegen die Wand prallte und ihm die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Er spürte, dass er außerdem vollkommen durchnässt war. Dann ließ der Druck nach.

Die haben mich mit einem verdammten Feuerwehrschlauch verarscht, dämmerte es ihm, als er stöhnend versuchte, sich aufzurichten.

»Simon«, schrie Sophie aus der anderen Ecke. »Simon, sag etwas!«

»Es geht mir gut«, beruhigte er sie. »Sind Sie Jonathan Jones?« Simon hielt es für eine gute Idee, die Gesprächseröffnung zu übernehmen. So fühlte er sich weniger hilflos.

»Und Sie sind Simon Stark, auch bekannt als der Mutant von Hamburg«, erwiderte Jones und spielte auf ein Internetvideo an, das Simon beim Ausprobieren seiner Hightech-Prothesen an der Alster zeigte. Diese zu Simons und Ragnars Pech zufällig von einem Passanten gemachte Aufnahme war damals auf sämtlichen sozialen Netzwerken viral gegangen. Allerdings hatten die meisten Betrachter das Video für eine Fälschung gehalten. Jones hatte das anscheinend nicht.

»Sie haben meinen unfreiwilligen Werbefilm gesehen, freut mich«, ätzte Simon und gab sich keine Mühe, seine Antipathie zu verbergen. »Haben Sie nicht angenommen, dass es ein Fake sein könnte?«

Jones lachte gutgelaunt auf. »Nicht eine Sekunde, Herr Stark. Ich erkenne revolutionäre Technik, wenn ich sie sehe. Deshalb hatte ich ja auch Ihren Freund, diesen genialen Tüftler, zu meinem Kongress eingeladen. Ich bin immer noch daran interessiert, ihn zu fördern.«

»Ragnar würde sich nie mit Ihnen einlassen, Sie Mörder!«, rief Sophie aufgebracht dazwischen. Jones blinzelte sie irritiert an.

»Wann genau hatte ich Sie nach Ihrer Meinung gefragt, Kleines? Und warum nennen Sie mich Mörder?«

Ehe Sophie sich um Kopf und Kragen reden konnte, schaltete sich Simon wieder ein. »Hat Ihr Mitarbeiter mit dem hässlichen Anzug Ihnen gar nicht erzählt, dass er alles ausgeplaudert hat, als ich ihn in meinem Hotelzimmer verhört habe? Nein?«

Offenbar hatte Jones keine Ahnung, denn er sah wirklich überrascht aus, fand Simon.

»Wir wissen, dass Sie Greene die Formel nie abkaufen wollten. Stattdessen haben Sie sie stehlen und Greene umbringen lassen. Warum, Jones? Hat sich Ihr Vermögen verflüchtigt? Müssen Sie jetzt schon Ideen stehlen, weil Sie zu geizig sind, den geistigen Urheber später an den Umsätzen zu beteiligen?«

Der alte Milliardär ließ sich nicht provozieren. Er sah Simon nur kühl an und schien zu überlegen, ob eine Antwort unter seiner Würde wäre oder nicht. Doch am Ende siegte seine Eitelkeit. Mit Stolz in der Stimme sagte er: »Ein Jonathan Jones stiehlt nicht. Was Sie Diebstahl nennen, war in Wirklichkeit eine Rettungstat. Wussten Sie, was Ryan Greene mit seinen Forschungsergebnissen machen wollte?«

»Sie teuer an den Meistbietenden verhökern – also dasselbe wie Sie«, entgegnete Simon. Doch Jones schüttelte aufgebracht den Kopf.

»Öffentlich machen wollte er seine Arbeit. Er wollte sie der Menschheit schenken. Was für ein Irrsinn! Stellen Sie sich Millionen und Milliarden von einfachen Menschen vor, die einfach nicht sterben. Das wäre der Untergang der menschlichen Rasse.«

Jetzt war Simon überrascht. So wenig er Greene altruistische Motive zugetraut hätte, so wenig nahm er Jones ab, bei all dem nur das Wohlergehen der Menschheit im Blick zu haben.

»Sie wollen mir erzählen, dass Sie den Planeten nur vor Überbevölkerung bewahren wollten und sonst nichts? Was wollten Sie dann mit der Formel? Sie zum Wohle der Menschheit vernichten? Das ist schwer zu glauben, Mr. Jones.«

Der Milliardär sah Simon an, als sei er übergeschnappt. »Wie kommen Sie auf einen so absurden Gedanken? Es ging mir selbstverständlich nicht darum, diese geniale Formel zu zerstören. Ich musste nur dafür sorgen, dass nicht der falsche Teil der Menschheit in den Genuss ihrer Wirksamkeit gelangt.«

Jetzt glaubte Simon, endlich zu verstehen. Die Schlussfolgerung war gleichermaßen logisch wie ekelhaft.

»Der falsche Teil der Menschheit, ja? Also Menschen wie ich. Jeder, der nicht ist wie Sie, Jones. Oder besser: Jeder, der nicht Sie ist, habe ich Recht?«

»Und was ist falsch daran?«, fragte Jones herausfordernd. »Denken Sie nach, Stark. Ich kann der Menschheit mit zusätzlicher Lebenszeit so viel mehr geben, als ich es ohnehin schon getan habe. Wer würde nach meinem Tod in meine Fußstapfen treten und all die revolutionären Ideen, Technologien und Theorien fördern? Sie etwa? Wohl kaum. Leute wie Sie würden einfach älter und älter werden und sich einen Scheiß um das große Ganze scheren. Nutzlose Esser bis in alle Ewigkeit – das wären Sie und die meisten Menschen.«

Jetzt platzte Sophie der Kragen. Sie sprang auf Jones zu, hielt aber in sicherem Abstand wieder inne und erhob den Zeigefinger, während sie ihn mit hochrotem Kopf anbrüllte. »Sie sind das widerlichste und arroganteste Schwein, das mir je begegnet ist. Halten Sie sich wirklich für den Heiland? Die Friedhöfe sind voll von Leuten, die sich für unersetzlich hielten, Jones. Wo bleibt Ihre Demut? Wo bleibt Ihre Wertschätzung für all die einfachen Menschen da draußen, die jeden Tag ihr Bestes geben, um ihren Platz in der Welt auszufüllen? Die Krankenschwestern, die Feuerwehrleute, die Kassierer – jeder, der dafür sorgt, dass alles läuft.«

Jones winkte ab und sah sie mitleidig von oben herab an. »Kindchen, Sie sind naiv. Der einfache Mensch lebt nur nach den Rahmenbedingungen, die Leute wie ich für sie erschaffen. Tausend Menschen reden für einen, der denkt. Was, glauben Sie, brauchen wir also dringender? Menschen, die denken, oder Menschen, die reden?«

»Reden Sie nicht um den heißen Brei, Jones. Was wollen Sie von uns und was haben Sie mit uns vor?« Simon hatte genug von der Selbstbeweihräucherung des alten Mannes. Es wurde Zeit, hier herauszukommen.

»Sie sind einfach nur lästig, Stark. Falsche Zeit, falscher Ort. Nichts Persönliches. Oder wie sagt man so schön im Krimi: Sie wissen zu viel.« Jones lachte meckernd über seinen eigenen Witz.

Jetzt war klar, wohin die Reise gehen sollte. All das Geplänkel gerade eben war nur das Vorspiel. Gleich würde der Hauptakt folgen, und den würden Simon und Sophie nicht überleben, wenn es nach Jones ging. Leider hatte Simon nicht die leiseste Ahnung, wie er das verhindern sollte. Jones wurde von zwei bewaffneten Männern außerhalb des Raumes gedeckt. Er würde nicht mal in die Nähe dieser Männer gelangen, bevor sie ihn mit Kugeln durchsiebt hätten.

Plötzlich ertönten von jenseits der Tür dumpfe Schläge, und dann klirrte es, als ginge eine große Glasscheibe zu Bruch.

»Das kommt vom Eingang. Steht nicht rum, sondern seht nach, was da los ist«, herrschte Jones seine Männer an. Als die gehorsam losrannten, sah Simon seine Chance gekommen. Er war mit einem gewaltigen Satz bei Jones und rammte ihn einfach zur Seite. Der alte Milliardär war zwar kein Tattergreis, aber körperlich hatte er diesem Aufprall nichts entgegenzusetzen.

Auf Sophie konnte er jetzt nicht achten. Er vertraute einfach darauf, dass sie ihm folgen würde. Simon musste alle seine Sinne beisammenhalten, wenn er den beiden fortgeeilten Männern nicht in die Schussbahn rennen wollte, falls sie bereits auf dem Rückweg waren. Doch dann hörte er sie brüllen.

»Aufhören, ihr Bastarde.« Dann krachten Schüsse. Sie waren also noch beschäftigt. Simon beschleunigte seine Schritte, denn egal, wer dort an der Tür randalierte – derjenige war in Lebensgefahr.

Plötzlich stand eine Gestalt im weißen Kittel mitten im Gang und starrte Simon mit großen Augen an. Er hatte eine Akte mit beiden Händen an die Brust gepresst und über dem oberen Rand des Ordners war ein Namensschild zu sehen, das an dem Kittel befestigt war: Dr. Wilson.

Das musste die Formel sein. Simon fackelte nicht lange und rannte den Mann einfach um. Als er am Boden lag, schlug er ihn bewusstlos, damit er nicht schreien konnte, und entriss ihm die Akte. Dann rannte er weiter.

Als er um die Ecke bog, hinter der sich die große Glastür befand, durch die er und Sophie das Gebäude vor Stunden betreten hatten, bot sich ihm ein Bild wie nach einer Straßenschlacht. Zwischen den Scherben auf dem kahlen Boden lagen mehrere faustgroße Pflastersteine. Mit denen hatte offenbar jemand die gesamte Eingangsfront entglast.

Jones´ Männer hatten ihm den Rücken zugedreht. Sie hatten das Feuer mittlerweile eingestellt und starrten durch die leeren Fensterrahmen angestrengt nach draußen auf die Straße. Die Angreifer waren anscheinend getürmt, und jetzt schienen sie nicht zu wissen, ob sie sie verfolgen oder zu ihrem Boss zurückgehen sollten.

Plötzlich fiel von hinten ein Schatten auf Simon, er drehte sich blitzschnell um und sah, dass es zum Glück nur Sophie war, die ihm gefolgt war. Doch diese kurze Unaufmerksamkeit reichte aus: Simon trat beim Umdrehen auf eine Glasscherbe, die unter seinem Fuß knirschend zerbrach. Durch dieses Geräusch alarmiert wirbelten die beiden Gorillas auf den Absätzen herum und rissen ihre Maschinenpistolen hoch. Simon ließ sich wie ein nasser Sack zu Boden fallen und zog Sophie mit sich, doch es war einen Sekundenbruchteil zu spät. Als die Schüsse im Raum explodierten, wurde Sophie von einer Salve erwischt. Simon spürte, wie ihre Hand sich von seiner löste und dass eine warme Flüssigkeit auf seinen Rücken klatschte. Sein Denken setzte aus und die Instinkte übernahmen das Kommando. Mit beiden Händen griff er automatisch nach den zwei nächstliegenden Pflastersteinen. Die Akte lag jetzt irgendwo zwischen all den Scherben. Sie war nicht mehr wichtig.

Blitzschnell drehte er sich vom Bauch auf den Rücken und registrierte, dass die beiden Schützen jetzt auf ihn anlegten. Wie er es schaffte, mit beiden Armen gleichzeitig auszuholen und die Steine auf seine Gegner zu schleudern, würde er später selbst nicht mehr sagen können. Tatsächlich fanden aber beide Wurfgeschosse ihr Ziel. Die Schützen brachen beinahe zeitgleich stöhnend zusammen, als die Steine sie mitten ins Gesicht trafen.

Komplett würde sie das nicht außer Gefecht setzen, das war Simon klar. Er sprang auf, rannte zu ihnen und beförderte sie mit wütenden Tritten gegen ihre Köpfe ins Jenseits. Doch gleich darauf bereute er, so die Kontrolle verloren zu haben. Polizeisirenen erklangen. Innerhalb kürzester Zeit würden die Cops eintreffen und ihn und Sophie mit den beiden Leichen vorfinden.

»Sophie!« Beim Gedanken an sie fiel ihm siedend heiß wieder ein, was geschehen war. Er drehte sich langsam mit pochendem Herzen zu ihr um. Der Anblick zog ihm augenblicklich den Boden unter den Füßen weg. Das konnte sie nicht überlebt haben. Mehrere Schüsse hatten ihren Oberkörper getroffen und ihre Kleidung mit Blut getränkt. Sie lag völlig verdreht da, wie Simon damals auf dem Schlachtfeld schon so oft gesehen hatte. So sahen tote Menschen aus.

Jetzt war alles vorbei. Dieser Fall, ihre Liebe und sein Leben. Um Simon wurde es schwarz. Als er am Boden lag, hörte er Stimmen von weit her.

Schwer wie ein Bulle … müssen weg … können ihr nicht …

Und dann war gar nichts mehr.