Kapitel 12
Ragnar hatte, wie verabredet, den Krankenwagen gerufen, sobald er Simons Textnachricht erhalten hatte. Es schien alles nach Plan zu laufen.
Doch plötzlich tat sich etwas am Eingang des Gebäudes.
Jones trat aus der Tür auf die Straße und entfernte sich zu Fuß zügig in Richtung London Bridge. Die Akte trug er offen bei sich. Der Austausch hatte also stattgefunden. Wo blieben dann aber Simon und Sophie?
Gleich darauf erschien eine weitere Gestalt. Anscheinend einer der Wissenschaftler, die Jones beschäftigte. Dieser Mann entfernte sich in die entgegengesetzte Richtung.
»Das gefällt mir nicht«, murmelte er beunruhigt. Er musste nachschauen gehen. Kurzentschlossen setzte er sich in Bewegung. Augenblicklich klingelte sein Handy. Martinus war dran.
»Was wird das denn jetzt? Sie haben doch Ihren zugeteilten Standort.«
»Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass zwei Leute zu wenig aus dem Gebäude kamen?«, fragte Ragnar zurück.
»Sophie Palmer ist bettlägerig, Mann. Natürlich kommen die beiden nicht einfach auf die Straße marschiert. Deshalb haben Sie doch den Rettungswagen gerufen. Ziehen Sie sich wieder zurück.«
»Negativ. Ich gehe rein.«
Am anderen Ende der Leitung hörte er Martinus Verwünschungen ausstoßen. Im selben Moment hörte Ragnar auch schon die Sirenen des Rettungswagens. Er beeilte sich und legte die Strecke im Laufschritt zurück, um noch vor dem Rettungsteam da zu sein.
»Wir haben ein Problem«, teilte Ragnar Martinus übers Handy mit, als er vor der Tür stand.
»Was ist los?«
»Ich muss die Glastür schon wieder schrotten, fürchte ich. Ist abgeschlossen.«
»Lassen Sie das die Rettungsleute machen, die bekommen dafür nicht halb so viele Probleme wie wir. Ragnar?«
Die Steine von der letzten Attacke hatte man bei der Instandsetzung glücklicherweise einfach an der Hauswand deponiert. Offenbar hatten sich weder Glaser noch Schlosser für die Entsorgung zuständig gefühlt. Ragnar griff sich den größten, der da lag, machte ein paar Schritte zurück und holte aus.
»Ragnar, verdammt«, schrie Martinus ihn durchs Telefon an, doch er ließ sich nicht aufhalten. Das Gefühl, dass etwas schiefgelaufen sein musste, war einfach zu stark. Die Scheibe zerplatzte mit einem lauten Knall, als Ragnar den Stein mit aller Gewalt dagegen schleuderte. Mit einem so durchschlagenden Erfolg hatte er nicht gerechnet.
»Der alte Geizhals hat am Glas gespart«, teilte er Martinus mit, um seine Freude darüber mit jemandem zu teilen.
»Glückwunsch zur gelungenen Sachbeschädigung«, kommentierte Martinus genervt.
Ragnar betrat den Vorraum und orientierte sich. Draußen hielt in dieser Sekunde der Krankenwagen mit quietschenden Reifen. Sein Blick fiel auf die Laborschleuse. Sie war verriegelt. Ragnar ging hin und nahm die Anlage in Augenschein.
»Doch gut, dass ich hergekommen bin«, sagte er zu Martinus. »Elektronisches, codegeschütztes Schließsystem. Spezialverglasung und mehrfach verankerter Rahmen. Durch diese Tür kommt nicht mal die Feuerwehr ohne den Zugangscode.«
Hinter ihm stürmte jetzt die Rettungswagenbesatzung den Vorraum.
»Was ist hier passiert? Wo ist die verletzte Person? Und wer sind Sie?«
Ragnar drehte sich um und blickte in ein nervöses Gesicht. Der Arzt konnte die Situation offenbar nicht einschätzen. Das war angesichts der Umstände auch kein Wunder, fand Ragnar.
»Ich bin der Schließtechniker. Die Patientin befindet sich in dem Raum dahinter.« Ragnar deutete auf die Hochsicherheitstür und hob die Augenbrauen.
»Können Sie uns wirklich da rein bringen?«, fragte der Arzt skeptisch und musterte abwechselnd die Tür und Ragnar.
»Wenn Sie einen Laptop dabeihaben, den Sie mir leihen können, vermutlich ja.«
***
Jetzt war das Kind sowieso in den Brunnen gefallen. Statt im Hintergrund zu bleiben, hatte Ragnar sich exponiert und würde nun bald sehr viele Fragen beantworten müssen, wenn die Sanitäter auf die Idee kämen, die Polizei hinzuzuziehen. Angesichts der Umstände würden sie das mit Sicherheit tun.
Martinus allerdings hatte jetzt ein noch größeres Problem: Er hatte Jones aus den Augen verloren. Eigentlich hatte er ihm folgen wollen, doch Ragnars eigenmächtiges Handeln hatte ihn abgelenkt.
Martinus beschloss, dass Ragnar allein klarkommen musste, und lief los, um Jones einzuholen. Wenn er Recht hatte, würde der auf direktem Weg in sein Büro sein. Es musste ihm gelingen, Jones vor Betreten der Lobby einzuholen und ihm die Akte abzunehmen.
***
Scham, Dankbarkeit und Wut waren die Gemütszustände, die sich bei Müller seit dem Gespräch im Hotelzimmer ständig abwechselten. Die Tatsache, dass sie sich von Petersen hatte instrumentalisieren lassen, erschien ihr immer unverständlicher, je länger sie darüber nachdachte. Und dann Stark – er hätte sie restlos fertigmachen können, und die Bedingungen, die er ihr gestellt hatte, waren ja auch tatsächlich extrem unangenehm, und trotzdem war sie jetzt hier. Wenn das klappte, würde sie nicht mit leeren Händen zurückkommen und sich ihren nächsten Posten unter vielen aussuchen können.
Jones war die Wurzel allen Übels, das war ihr jetzt klar. Dieser Irre hatte die ganze Sache mit der Unsterblichkeitsformel überhaupt erst hochkochen lassen. Ryan Greene war sicher ein sehr charismatischer junger Mann gewesen, aber außer einem verrückten Milliardär wie Jones hätte er niemals einen ernsthaften Interessenten für seine Arbeit gefunden, und die Sache wäre ihr gar nicht erst zu Ohren gekommen.
Müller reihte sich nicht in die Schlange vor der immer noch defekten Rolltreppe ein, sondern postierte sich ein Stück die Straße hoch. Von dort würde Jones kommen, wenn er vom Labor direkt hierher liefe, und selbstverständlich würde er das. Wohin sollte er sonst gehen?
»Sind Sie Frau Müller aus Deutschland?«, sprach sie ein Jogger an, der neben ihr stehengeblieben war.
»Und Sie sind mein Kontaktmann?«, fragte sie zurück.
»Sieht so aus. Mein Name ist Liam. Sie haben sich an die britischen Behörden gewandt, weil Sie Amtshilfe bei einer Festnahme benötigen. Da bin ich.«
Müller musterte ihn skeptisch. »Von welcher Behörde sind Sie genau? Ich hatte einen Polizisten erwartet. Sie sehen nicht aus wie ein Polizist. Und wenn ich mich nicht täusche, der, dieser Mann und die Frau da drüben auch nicht.« Sie deutete nacheinander auf drei Personen, die sich in der Nähe aufhielten. »Ich erkenne eine verdeckte Geheimoperation, wenn ich sie sehe. Welchem Dienst gehören Sie an?«
»Das tut nichts zur Sache. Nur so viel: Jones steht aus anderen Gründen seit Jahren unter Beobachtung. Illegaler Waffenhandel, Menschenschmuggel – das ganze Programm.«
»Inlandsgeheimdienst also. Und ich dachte, Jones wäre nur durch seinen Riecher für Ideen und Zukunftstechnologien zu seinem Vermögen gekommen.«
Der britische Agent verzog verächtlich den Mund. »Träumen Sie weiter. Unsere Finanzexperten sind sicher, dass er mit seinen bekannten Geschäften zwar eine Menge verdient hätte, aber nicht in diesen Dimensionen.«
»Gut, dann liefere ich Ihnen Jones heute auf dem Silbertablett. Er kommt gleich die Straße rauf und wird Dokumente bei sich haben, in deren Besitz er nur durch die Ermordung von Ryan Greene gekommen sein kann.«
»Der Tote auf der letzten Hokuspokus-Veranstaltung von Jones? Wir kennen den Fall natürlich und beobachten die Ermittlungen der Polizei genau. Allerdings hat die bisher keine heiße Spur. Wenn es wirklich Jones war, der diesen Mord befohlen hat, haben wir ihn an den Eiern und können ihn aus dem Verkehr ziehen.«
»Da kommt er. Hauen Sie ab.«
Müller erkannte Jones mühelos in der Menge. Er war noch mindestens hundert Meter entfernt und die St Thomas Street war überfüllt mit Fußgängern, aber es bestand kein Zweifel. Ihr Talent, einzelne Personen in großen Menschenansammlungen auszumachen, hatte sie bei zahlreichen Observationen unter Beweis gestellt und es war mit dafür verantwortlich gewesen, dass sie die Karriereleiter so rasch hatte erklimmen können.
Als er näher kam, erkannte sie auch die Akte, die er bei sich trug. Sie freute sich schon auf sein dummes Gesicht, wenn sie ihm eröffnete, dass die Methode nicht funktionierte.
Eine Minute später ging er achtlos an Müller vorüber. Er kannte sie ja nicht.
Müller heftete sich direkt an seine Fersen und wartete ab, bis die vier Leute vom britischen Observationsteam alle potenziellen Fluchtwege unter Kontrolle hatten. Dann tippte Müller ihm von hinten auf die Schulter und sagte: »Mr. Jonathan Jones. Wir müssen reden.«
Erschrocken blieb er stehen und wirbelte herum.
»Was wollen Sie? Wer sind Sie?«
Sie hatte ihn auf dem falschen Fuß erwischt. Auf offener Straße von einer Fremden angesprochen zu werden, war nicht das, was er in diesem Moment erwartet hatte. Er wusste, dass das nichts Gutes für ihn bedeuten konnte.
»Tun Sie es nicht«, riet Müller ihm in weiser Voraussicht, doch natürlich half es nichts. Jones drehte sich um und lief weg. Müller seufzte und schlenderte ihm langsam hinterher. Jones kam keine zwanzig Meter weit, bis er einem Mann im Hawaiihemd in die Arme lief, der ihn festhielt und ihm den linken Arm auf den Rücken drehte.
»Jonathan Jones, Sie sind verhaftet wegen des dringenden Verdachts, Ryan Greene ermordet zu haben«, teilte ihm der jetzt ebenfalls herbeigeeilte Jogger mit, der mit Müller gesprochen hatte.
Jones ließ sich widerstandslos abführen. Er wirkte gebrochen und einem Herzinfarkt nahe. Müller genoss diesen Augenblick. Noch vor ein paar Stunden hatte sie geglaubt, ihr Leben und ihre Karriere seien vorbei. Vor ein paar Tagen noch hatte sie auch gedacht, Petersen wäre ihre Zukunft und Simon Stark ein gefährlicher Irrer, den sie unter Kontrolle behalten musste.
Der joggende Agent kam wieder zu ihr. Er hielt ihr breit grinsend seine Hand hin, die sie bereitwillig ergriff.
»Im Namen meiner Behörde bedanke ich mich für die fruchtbare Kooperation unserer Dienste. Ich werde es nicht versäumen, Sie gegenüber Ihren Vorgesetzten in Deutschland überschwänglich zu loben, Frau Müller.«
Sie lächelte zurück. »Danke sehr, Liam. Und nennen Sie mich bitte Marta.«
***
»Sind Sie sicher, dass Sie das dürfen?«, fragte der Sanitäter Ragnar zum wiederholten Male und bekam wieder keine Antwort.
Der Laptop hing seit ein paar Minuten am Schließsystem, aber Ragnar konnte erst jetzt beginnen, den Code zu knacken, der eingegeben werden musste, um die Schleuse zu öffnen. Zuvor hatte er eine sichere Verbindung zu seinem eigenen Server aufbauen und die benötigte Software von dort auf den Laptop des Sanitäters laden müssen. Ragnar schwitzte und sein Kopf schmerzte. Er konnte nur hoffen, dass sein selbstentwickeltes Programm gut genug war, um es mit diesem Teil aufzunehmen. Er war in solchen Dingen zwar gut, aber nicht halb so begabt wie seine Freundin Dawn. Die war nun aber leider nicht greifbar. Es musste einfach funktionieren.
Plötzlich ertönte ein leises Summen und Ragnar hielt die Luft an. »Was ist?«, fragte der Sani.
»Psst, leise, Mann. Das kommt von der Schleuse, oder?«
Ragnar sprang auf und starrte gespannt auf die Tür. Jetzt sah er, dass sie sich bewegte.
»Ha, wir sind drin! Verdammte Kacke, das Ding geht auf!« Er machte einen Luftsprung und führte sich auf wie ein Irrer. Der Sanitäter sah den Arzt vielsagend an und tippte sich an die Stirn. Dann schwang die Tür vollends auf und beide schnappten sich ihre Ausrüstung und rannten hindurch.
Ragnar ließ die Profis vorbei und folgte ihnen mit einigem Abstand. Als er die zweite Schleusentür passiert und das Labor betreten hatte, blieb ihm schon wieder beinahe das Herz stehen. Statt um die leblos im Krankenbett liegende Sophie kümmerten sich beide Männer um Simon, der am Boden lag wie tot. Gerade zog der Sanitäter eine Nadel aus Simons Hand, als der Arzt Ragnars schockiertes Gesicht sah.
»Die Patientin ist stabil, muss aber schnell wieder auf eine echte Intensivstation.«
»Aber was ist mit ihm?«, rief Ragnar kläglich und raufte sich die Haare.
»Offenbar eine Vergiftung mit Kaliumchlorid«, antwortete der Arzt und wendete sich wieder Simon zu.
»Tausend Milligramm Calciumlösung intravenös«, ordnete der Arzt an. »Er muss sofort in die Klinik. Sind Sie mit ihm verwandt?«
Ragnar schüttelte apathisch den Kopf.
»Dann gehen Sie jetzt bitte raus. Wir tun unser Möglichstes.«
Kurz darauf stand Ragnar vollkommen verloren vor dem Haus und wusste kaum noch, wie er dorthin gekommen war. Irgendjemand hatte ihm eine Rettungsdecke über die Schultern gelegt und ihm gesagt, in welche Klinik man Simon und Sophie bringen würde. Er hatte nicht zugehört. Jetzt, da der Krankenwagen mit Sirenengeheul lospreschte, wünschte er, er hätte sich konzentriert. Langsam rutschte er mit dem Rücken an der Wand hinunter in die Hocke. Als er schließlich ans Haus gekauert saß und einfach ins Leere starrte, tauchten zwei Frauenbeine vor ihm auf.
»Was ist passiert? Was ist mit Stark und dem Mädchen?«
Ragnar blickte auf und sah in die besorgten Augen von Müller.
»Haben Sie das Schwein?«, fragte er sie, statt zu antworten.
»Natürlich. Jones ist erledigt. Der richtet keinen Schaden mehr an. Er wandert für Jahre ins Gefängnis.«
Ragnar sah sie trübe an. »Er wird sehr bald sterben. Jahrelanges Gefängnis bleibt ihm wohl leider erspart«, sagte er.
»Stark und seine Freundin«, erinnerte Müller ihn an ihre Frage.
Stockend erzählte er ihr alles, was geschehen war und dass es für Simon sehr schlecht aussah. Er musste mehrere Minuten klinisch tot gewesen sein. Müller war schockiert. Das hatte sie nicht erwartet.
Ein Auto hielt hupend am Straßenrand. Müller drehte sich um und sah Martinus. Er hatte das Fenster runtergekurbelt und rief: »Kann ich helfen?«
Müller zog Ragnar vom Boden hoch und dirigierte ihn zum Wagen. Als sie einstieg, wies sie Martinus an: »Dem Krankenwagen nach, schnell!«
***
Zwei Wochen später
Es war der erste Tag ohne Schmerzen und damit auch der erste, an dem Sophies Bewusstsein nicht hinter einem benebelnden Schleier aus Schmerzmitteln dahinvegetierte. Die Sonne schien zum Fenster herein.
In den letzten Tagen war Ragnar ein paar Mal an ihrem Bett zu Besuch gewesen. Sophie erinnerte sich nur schemenhaft daran. Er hatte einen Mundschutz getragen, wozu ihn die Stationsschwester vermutlich genötigt hatte.
Heute sehnte sie seinen Besuch herbei. Jetzt, wo sie wieder klar denken konnte, fielen ihr hundert Fragen ein, die sie ihm unbedingt stellen musste – allen voran die, was mit Simon war. Ragnar war der einzige Besucher, an den sie sich erinnern konnte. Wäre Simon auch bei ihr gewesen, hätte sie das nicht vergessen. Was hatte ihn daran gehindert, zu kommen?
Sophie steigerte sich immer weiter in diese Frage hinein, und allmählich bekam sie es mit der Angst zu tun. Ihr wurde schlecht durch die Aufregung, die ihr Kopfkino ihr verursachte. Sophie tastete nach der Klingel, um die Schwester zu rufen, da klopfte es.
»Ragnar?«, rief sie und richtete sich im Bett auf, was sie sofort mit einem heftig ziehenden Schmerz in der Brust bezahlte. Stöhnend sank sie zurück. Die Tür ging auf und tatsächlich war es Ragnar, der seinen Kopf herein streckte.
»Ich hörte, hier ist jemand wieder voll da«, rief er fröhlich und kam jetzt ganz rein. Er ging zu ihr und setzte sich vorsichtig auf die Bettkante. »Geht es dir einigermaßen?«
»Wo ist Simon? Was ist mit ihm?«
»Nicht so schnell, Sophie, ich muss erst wissen, ob du …«
»Du sollst mir sagen, was mit ihm ist«, schrie sie ihn an. Ragnar machte ein betretenes Gesicht.
»Sorry, ich wollte dich nicht nerven. Simon!«
Sophies Augen weiteten sich hoffnungsvoll und Ragnar stand lächelnd auf. Er ging zwei Schritte zur Seite und genoss das Schauspiel.
Simon betrat den Raum und Sophie erstrahlte förmlich.
»Wo warst du die ganze Zeit, du Scheusal?«, rief sie und lachte mit Freudentränen in den Augen laut auf. Simon ging wortlos zu ihr, beugte sich zu Sophie runter und küsste sie.
»Ich bin so froh, dass du lebst. Ich liebe dich, das weißt du hoffentlich.«
»Ich dich doch auch. Aber wieso warst du die ganze Zeit nicht bei mir?«
Simon erzählte ihr alles, was passiert war, nachdem sie angeschossen worden war. Als er zu der Stelle mit dem Kaliumchlorid kam, unterbrach sie ihn mit zitternder Stimme: »Du wolltest für mich sterben? Hast du das eben gesagt?«
Er lächelte sie zärtlich an. »Nein, sterben und das Leben mit dir verpassen wollte ich nicht. Aber ja: Ich bin für dich gestorben. Deshalb komme ich auch heute erst zu dir. Ich bin selbst erst seit vorgestern wieder so weit hergestellt, dass ich rumlaufen kann.«
Das überstieg ihr Vorstellungsvermögen. Sie wollte etwas sagen, doch Simon legte einen Finger auf ihre Lippen.
»Du musst nichts sagen. Aber du warst so lange weg, da haben sich die Besuchswünsche ganz schön angestaut. Ragnar war der Einzige, der zu dir durfte, weil er als erster da war und die Ärzte dir jede weitere Aufregung ersparen mussten.«
Simon zeigte zur Tür. »Und jetzt sind die anderen auch alle hier.
Mit offenem Mund sah Sophie, wie nacheinander Mehmet, Martinus, Dawn und schließlich Frieder den Raum betraten.
Alle strahlten sie an, und nacheinander umarmte sie jeden, der zu ihr kam. Sogar Martinus begrüßte sie wie einen alten Freund.
In den nächsten zehn Minuten wurde geredet, geweint, gelacht und das Leben gefeiert. Schließlich stellte Martinus sich mitten ins Zimmer und hob die Arme.
»Darf ich kurz um eure Aufmerksamkeit bitten, Freunde?«
Alle verstummten und sahen den Agenten gespannt an.
»Als erstes möchte ich sagen, wie froh ich bin, dass es Ihnen, Frau Palmer, und auch Ihnen, Herr Stark, wieder besser geht. Sie haben uns beide einen ordentlichen Schrecken eingejagt.«
»Sophie« warf Sophie ein.
»Genau, und Simon, wenn wir schon dabei sind«, ergänzte Simon.
Martinus strahlte. »Freut mich. Also Sophie und Simon, ich möchte …«
»Und wie heißen Sie?«, rief Sophie dazwischen. Martinus sah sie irritiert an und sagte: »Martinus, das wissen Sie doch.«
Dann fuhr er ungerührt fort: »Und ich möchte mich auch bei Simon bedanken, dass ich jetzt diesen tollen Job habe, den ich immer wollte.«
»Hört, hört«, rief Ragnar und die anderen klatschten.
»Schon gut, vielen Dank. Aber jetzt zu meinem eigentlichen Anliegen. Das betrifft jeden hier im Raum.«
Jetzt sahen ihn alle gespannt an. Sophie fragte sich, was jetzt kommen könnte.
Martinus räusperte sich und machte ein bedeutsames Gesicht. »Ich habe mir die letzten zwei Wochen mal die Zeit genommen, alles über eure bisherigen Taten herauszufinden. Ich bin absolut beeindruckt, wie es einem alkoholkranken Ex-Soldaten, einer Krankenschwester, einem schwachbrüstigen Studenten, einer exzentrischen Hackerin, einem Garagenwissenschaftler und einem Taxifahrer gelungen ist, zu einer Truppe zu werden, die so erfolgreich ist wie eure.«
»War das eine Beleidigung oder ein Lob?«, flüsterte Frieder Ragnar zu, doch der wollte weiter zuhören und antwortete nicht.
»Ich weiß, dass ihr in Hamburg schon ein Mordkomplott an Obdachlosen aufgedeckt und später einen amoklaufenden Immobilienhai aufgehalten habt. Dabei habt ihr eine Menge Kleinholz und eine Liste an Straftaten hinterlassen, die euch alle jahrelang in den Knast bringen würden, wenn ich nicht daran interessiert wäre, euch zu protegieren. Meine Behörde ist genau genommen daran interessiert, euch zu schützen. Und wenn ihr auch künftig frei seid, zu tun und zu lassen, was ihr wollt, möchte ich dennoch eines anregen.« Er machte eine Pause und sah gespannt in die Runde.
»Was? Hauen Sie es raus, Mann«, ermunterte Ragnar ihn ungeduldig.
»OK, dann sage ich es rundheraus. Warum macht ihr euer offensichtliches Hobby nicht zum Beruf?«
Er sah in lauter fragende Gesichter. »Hobby? Welches Hobby?«, fragte Dawn stellvertretend für alle anderen. Martinus verdrehte die Augen, als sei die Antwort vollkommen offensichtlich.
»In Angelegenheiten herumzuschnüffeln, die euch nichts angehen. Kurzum, mein Vorschlag lautet: Gründet eine Agentur für private Ermittlungen. Ihr habt Computergenies, eine Kampfmaschine, kluge Köpfe und allesamt das Herz am rechten Fleck. Natürlich würde ich inoffiziell auch gerne dann und wann mit einem Auftrag zu euch kommen. Aber ihr entscheidet natürlich, für wen ihr arbeitet und für wen nicht. Na, was sagt ihr?«
»Aber ich habe meine Arbeit bei Hilfebus e.V.«, rief Sophie. »Ja, und ich auch«, sagte Simon.
»Sie müssen verrückt sein«, stimmte Ragnar ein. »Sie verarschen uns doch.«
Alle redeten jetzt durcheinander und keiner hörte dem Anderen zu. Da hob Frieder die Hand und wartete geduldig, bis alle mitbekommen hatten, dass er sprechen wollte.
»Frieder will was sagen«, rief Simon in die Runde.
»Danke. Ja, ich habe etwas zu sagen. Also, der Vorschlag, den Martinus gemacht hat: Klar klingt das erst mal verrückt. Andererseits haben wir zusammen schon eine Menge verrücktes, gefährliches und beängstigendes Zeug erlebt. Aber wir sind dabei zu Freunden geworden. Ihr seid sogar die besten Freunde, die ich jemals hatte. Ich will nicht, dass wir uns immer nur dann sehen, wenn einer von uns in eine Katastrophe stolpert oder sonstwie in Schwierigkeiten steckt. Kurz gesagt, ich würde es versuchen wollen. Lasst uns diese Agentur doch gründen und sehen, was dabei herauskommt. Aufgeben können wir doch immer noch, wenn es nicht funktioniert.«
Die Anderen sahen ihn eine Zeitlang nur an. Sophie beeindruckte Frieders Rede. Es stimmte doch – was hatten sie schon zu verlieren? Und auch in den anderen Gesichtern sah sie keine vollkommene Ablehnung mehr, nur traute sich keiner, etwas zu sagen. Deshalb tat sie es.
»Ich mache mit. Wenn Frieder ja sagt, sage ich es auch.«
Simon sah sie verwundert an. Dann lächelte er. »Ja, zur Hölle. Einer muss ja auf euch aufpassen.«
»Deal«, rief Ragnar.
»OK, habt mich überzeugt«, stieß Mehmet hervor und atmete erleichtert aus.
»Mein Kerl geht nirgends ohne mich hin. Ich sage ja«, meldete sich auch Dawn zu Wort.
»Dann habt ihr jetzt eine Firma«, stellte Martinus fest und lächelte über das ganze Gesicht. »Ihr werdet den Ganoven das Leben ganz schön schwer machen, wette ich.«
»Worauf du dich verlassen kannst, Martinus«, rief Simon. »Hat jemand Kleingeld?«
Ragnar schnipste mit den Fingern. »Wie viel brauchst du?«
»Gib einfach, was du hast.«
Mit einer Handvoll Münzen eilte Simon hinaus auf den Flur. Sophie hörte etwas klappern.
»Was macht er denn?«, rätselte Mehmet.
»Ich glaube, er ist am Getränkeautomaten zugange«, gab Sophie zurück. Eine Minute später kam er tatsächlich mit dem Arm voller kleiner Flaschen zurück. Für Mehmet, Sophie und sich hatte er Apfelschorle. An die anderen verteilte er kleine Sektfläschchen.
»Hat jetzt jeder was zu trinken?«, fragte er gut gelaunt in die Runde. »OK, dann auf gute Freunde.«
Alle erhoben ihre Getränke und brüllten:
»Auf gute Freunde!«