Kapitel 7

Krankenhaus Hamburg Barmbek, 05. Mai, 21:05 Uhr MEZ

 

Dawn und Sophie betraten das Krankenzimmer mit einer Mischung aus Beklemmung und Hoffnung. Am Empfang hatte man ihnen gesagt, dass sich Frieder nicht, wie sie angenommen hatten, auf der Intensivstation befand, sondern auf Station.

Er lag allein in dem nüchternen Vierbettzimmer, aber das konnte sich jederzeit ändern. Der junge Mann sah schon von weitem schlimm aus. Sein Kopf war bandagiert und er war an einen Infusionstropf angeschlossen. Als er sie hörte, drehte er ihnen langsam das Gesicht zu. Ein kraftloses Lächeln umspielte seine verwüsteten Lippen, als er sie erkannte.

»Hey Ladys, schön, euch zu sehen.«

Dawn eilte als Erste zu ihm hin und blieb unschlüssig, aber mit Freudentränen in den Augen vor seinem Bett stehen.

»Oh Gott, Frieder, was haben sie dir angetan? Ich bin so froh, dass du bei Bewusstsein bist.«

Auch Sophie war jetzt näher gekommen. »Hallo Großer, wie geht es dir?«, fragte sie mit einem dicken Kloß im Hals.

»Ich dachte, die schlagen mich tot. Dafür geht es mir bombig«, entgegnete er trocken und verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen.

»Hast du meine Mail mit den Fotos bekommen?«, wandte er sich an Dawn.

»Ja, natürlich. Sophie wird Simon die Nachricht überbringen.«

»Ich fliege morgen in aller Frühe nach London«, schaltete sich Sophie ein. »Wir bekommen heraus, was da läuft.«

»Einen Verdacht habe ich schon«, entgegnete Frieder und verzog das Gesicht vor Schmerzen. »Ich bin ja in der Antifa aktiv, und dass ich das Gesicht von diesem Typ erkannt habe, hatte ich euch ja auch gesagt. Aber ich weiß noch etwas mehr über diesen Petersen. Das muss Simon auf jeden Fall auch erfahren.«

Sophie und Dawn rückten näher an ihn heran, denn seine Stimme wurde schwächer und seine Lider zitterten vor Erschöpfung.

»Petersens Gruppe steht in Konkurrenz zu einer Dresdner Nazigruppe um einen Mann namens Braake. Beide Gruppierungen versuchen, zum Sammelbecken für gewaltbereite Neonazis zu werden. Dresden kooperiert mit der NPD und dem Pegida-Umfeld, während Petersens Hamburger Gruppe der verbotenen FAP nahe stand und heute mutmaßlich Teil einer im Untergrund operierenden Nachfolgeorganisation ist.«

Die letzten Worte klangen schon, als falle Frieder ins Delirium. Sie waren kaum zu verstehen. Dawn legte ihre Hand auf seine Stirn und murmelte zu Sophie: »Ganz heiß. Er hat Fieber. Hol die Schwester.«

Sophie eilte los und Dawn streichelte Frieders Stirn. Er sah sie dankbar an und schloss die Augen. Sekunden später war er eingeschlafen.

***

London, Flughafen Heathrow, 06. Mai, 09:55 Uhr GMT

 

Den ganzen Flug über war Sophie immer wieder zur Toilette gerannt – insgesamt fünf Mal auf dem nur eine Stunde fünfzehn Minuten dauernden Flug. Das war ihrem üblichen Reisefieber geschuldet, gepaart mit der extremen Aufregung, Simon nach so langer Zeit wiederzusehen.

Anders als zuvor Simon und Martinus fuhr Sophie nicht mit der Bahn, sondern nahm sich ein Taxi, das sie direkt nach Camden bringen sollte. Das war einer der Vorteile, wenn man ein großes Vermögen geerbt hatte – man war nicht auf Fahrpläne angewiesen.

Das Hotel, in dem ihre Freunde untergebracht waren, hatte Dawn schon bei ihrem letzten Training von ihrem Laptop im Yoga-Studio aus ausfindig gemacht. Sie hatte die Mail von Frieder bekommen und sofort entschieden, dass Sophie dieses Material persönlich an Simon übergeben musste. Die nötigen Infos hatte sie sich dann ohne Probleme über ihre Hintertür zu Müllers Dienstrechner besorgt.

***

London, Camden Town, 10:50 Uhr GMT

 

Jetzt stand Sophie vor dem Bahnhof, wo sie sich hatte absetzen lassen, und schaute sich staunend in dem gerade so richtig zum Leben erwachenden Viertel um. Hier pulsierte alles. Kein Wunder, dass MTV in diesem Viertel seine Europazentrale hatte. Camden war multi-ethnisch, schrill, bunt und laut.

Das Hotel fand sie ohne Probleme. An der Rezeption bat sie einen Empfangsmitarbeiter, sie telefonisch bei Simon anzukündigen. Sophie konnte nur hoffen, dass er da war. Andernfalls wäre ihr nichts weiter übrig geblieben, als sich in der Lobby häuslich einzurichten und auf seine Rückkehr zu warten.

Doch Simon war auf seinem Zimmer. Der Hotelangestellte teilte ihr mit, dass Mr. Stark sofort herunterkommen würde.

Zwei Minuten später lagen sie sich in den Armen und Sophie übersäte das Gesicht ihres Geliebten mit einem Dutzend Küsse.

»Was tust du hier?«, fragte er endlich fassungslos und strahlte sie an, als könne er sein Glück nicht fassen.

»Ich habe dich vermisst, du Dummkopf«, lachte sie. Dann wurde sie ernst.

»Wir müssen reden, Simon. Ich habe extrem wichtige Neuigkeiten aus Hamburg und von Frieder.«

»Frieder«, rief Simon aus. »Wie geht es dem Jungen?« Sophie wusste, dass er den kleinen Nerd in sein Herz geschlossen hatte wie einen Sohn, und ihn die Neuigkeiten deshalb sehr aufregen würden. Trotzdem musste sie ihm reinen Wein einschenken.

»Frieder liegt im Krankenhaus.«

Simon erschrak sichtlich. »Was ist passiert?«

Sophie sah sich nervös um. »Können wir bitte auf dein Zimmer gehen und alles Weitere da besprechen? Hier ist es mir zu öffentlich.«

Simon war einverstanden und so gingen sie zum Fahrstuhl. Während sie auf den Lift warteten, sah Simon sie von der Seite an und flüsterte: »Ich wollte schon immer mal mit dir in ein Hotelzimmer, Sophie Palmer.«

Sie sah ihn traurig an. »Ich auch mit dir. Aber heute ist der Anlass leider zu ernst, um es zu genießen. Ein anderes Mal holen wir das nur für uns nach, ja?«

»Der Teufel soll mich holen, wenn wir es nicht tun«, erwiderte Simon und zwinkerte ihr zu.

Oben angekommen musste Sophie sich zusammenreißen, als sie Simons von der Nacht zerwühltes Bett sah. Der ganze Raum roch nach ihm, aber nicht unangenehm, sondern verlockend und herausfordernd. Es kostete sie ihre ganze Willenskraft, sich nicht einfach die Kleider vom Leib zu reißen und auf das Bett niederzusinken. Stattdessen ging sie zum Fenster, schob die Vorhänge zur Seite und sah hinaus. Simon trat von hinten an sie heran und legte seine Arme um sie. Sophie biss sich auf die Lippen und schob seine Hände sanft von sich weg.

»Nicht, Simon. Ich wünsche es mir auch, aber der Grund, aus dem ich hier bin, ist sehr wichtig.«

Simon ließ sie los und löste sich von ihr. »Natürlich, du hast Recht. Ich werde artig sein. Also was ist so wichtig, dass du extra hergekommen bist?«

Sie drehte sich zu ihm um und atmete tief durch. »Hast du in deinem kleinen Kühlschrank da ein Wasser für uns? Meine Kehle ist trocken.«

Simon nickte, öffnete den Kühlschrank und holte zwei kleine Flaschen Sprudelwasser heraus. Dann setzten sie sich an den kleinen Beistelltisch in der Ecke des Zimmers und Sophie begann, zu erzählen. Die Bilder, die Frieder gemacht hatte, waren sehr explizit, sodass Simon tatsächlich rot wurde, als er sie betrachtete.

»Gut, ich glaube, ich habe genug gesehen. Dieser Rocker ist also ein führender Rechtsextremist und Müller lässt sich von ihm bumsen. Das ist harter Stoff. Weißt du, was das heißt?«

Sophie machte ein entschlossenes Gesicht, als sie antwortete: »Das heißt, dass du Müller jetzt in der Hand hast. Wenn du sie damit konfrontierst, muss sie dich endlich vom Haken lassen.«

Doch Simon schüttelte den Kopf. »Wenn ich das tue, wird sie mich liquidieren und jeden, der noch davon weiß. Müller ist keine Idiotin. Sie wird sich nie und nimmer erpressen lassen.«

Sophie war enttäuscht. Sie sackte förmlich in sich zusammen.

»Aber irgendwas müssen wir doch mit diesem Wissen anfangen können. Soll sie denn damit davonkommen? Willst du sie weiter über unser Leben bestimmen lassen?«, fragte sie verzweifelt.

»Natürlich werden wir diese Fotos nutzen. Aber wir müssen vorsichtig vorgehen und sie diskreditieren, ohne dass wir ihre Aufmerksamkeit auf uns lenken.«

»Und wie willst du das machen?« Sophie sah nicht, wie sie Müller beikommen sollten, ohne sie mit den Aufnahmen zu konfrontieren.

»Wir sorgen dafür, dass die Presse über sie herfällt«, sagte Simon und grinste böse. »Sie kann mich umbringen lassen, aber sie kann nicht ein Dutzend Journalisten ausschalten. Das bricht ihr das Genick, jede Wette.«

Aber davon wollte Sophie nichts wissen. »Simon, das ist schön und gut. Aber es geht doch nicht darum, Müller kaltzustellen, sondern darum, dich und Dawn zu rehabilitieren. Was nützt es dir, wenn Müller von einem öffentlichen Proteststurm hinweggefegt wird, wenn sie nicht vorher deine und Dawns Akten löscht? Du hättest gar nichts gewonnen. Im besten Fall bekommst du einen anderen Agenten vor die Nase gesetzt und im schlimmsten Fall wird deine Vereinbarung mit Müller von höherer Stelle einkassiert, und du kommst ins Gefängnis. Das funktioniert so nicht.«

Daran hatte Simon offenbar nicht gedacht. Er sprang auf und schlug mit der Faust gegen die Wand. »Verdammt, warum habe ich daran nicht gedacht? Ich bin ein Idiot.«

Sophie stand auf und ging zu ihm. Sie fasste ihn behutsam am Arm und sprach auf ihn ein. »Du bist kein Idiot, Simon Stark. Das will ich nie wieder von dir hören. Wir finden einen Weg, das weiß ich. Wir kriegen Müller unter Kontrolle, ohne dass sie dir und Dawn was antun kann. OK?«

Er sah sie an und wollte protestieren, doch sie legte ihm einen Finger auf seine Lippen. »Nicht«, flüsterte sie, nahm den Finger wieder weg und zog seinen Kopf zu sich heran.

»Wir sind zu angespannt, um nachzudenken. Lass uns eine Pause machen«, hauchte sie und begann, langsam rückwärts zu gehen. Sie nahm seine Hände und zog ihn mit sich. Als sie mit den Kniekehlen gegen das Bett stieß, fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen und ließ sich nach hinten fallen. Simon stand vor dem Bett und blickte auf sie hinab. In seinen Augen blitzte Lust auf, und noch ehe Sophie ihn bitten musste, war er über ihr.

Das Knarren des Bettgestells übertönte das metallische Klicken, das von der Zimmertür her kam. Weder Simon noch Sophie bemerkten, wie die Tür einen Spalt weit geöffnet wurde und eine Gestalt hindurch ins Innere glitt.

***

Dresden, Haus von Braake, 11:00 Uhr MEZ

 

»Was läuft da, Stürmer? Sie bringen mir einen neuen Mann, der sich als absoluter Glücksfall für uns erweist – der es mit einer ganzen Kanaken-Gang aufnimmt – und dann verschwindet er plötzlich in Richtung London? Was will er da?«

Der bullige Schläger kratzte sich verlegen hinter dem Ohr und wusste nicht, was er sagen sollte.

»Sie haben ihn doch observiert, Stürmer. Mit wem hat er sich getroffen? Ist er allein geflogen? Woher hat er das Geld für den Flug? Das ist doch ein Straßenköter aus Hamburg. Das ist keiner, der so einfach in der Weltgeschichte umherreist.

»Ich weiß es doch auch nicht, Kamerad Braake. Aber am Flughafen hat Lars bei der Beschattung noch was Interessantes gesehen.«

Braake trommelte ungeduldig mit den Fingern auf seiner Schreibtischplatte. »Und werden Sie mir auch sagen, was der Kamerad da beobachtet hat, oder muss ich das raten?«

»Nein, natürlich nicht – also, Sie müssen nicht raten, meinte ich. Also ich sage Ihnen natürlich …«

»Stürmer, verdammt, machen Sie das Maul auf!«, schrie Braake entnervt, und der große Mann zuckte zusammen wie ein Zirkuspferd, das die Peitsche abbekommen hat.

»Es … es war einer von Petersens Leuten da«, stammelte er. »Der hat den Neuen auch beobachtet.«

Braakes Gesicht erstarrte förmlich. Er schnappte nach Luft. »Petersen? Der verdammte Hamburger Hurenbock? Was hat der Neue mit dem zu schaffen?«

»Keine Ahnung, Boss. Ehrlich nicht.«

Braake sprang auf und packte Stürmer am Kragen. »Haben Sie den Mann von Petersen noch unter Beobachtung?«, schrie er.

Stürmer nickte verwirrt. »Ja, Lars ist noch dran. Warum?«

Jetzt packte Braake seinen Untergebenen an beiden Ohren wie einen Schuljungen und knurrte ihn an: »Dann schnappen Sie ihn sich und bringen ihn her.«

»Natürlich, Boss. Lasse ich sofort erledigen«, gab Stürmer kleinlaut zurück. Braake stieß ihn von sich und schnaubte verächtlich: »Es wäre reizend, wenn Sie ihn innerhalb der nächsten Stunde herschaffen könnten. Und sagen Sie dem Inquisitor Bescheid. Wir brauchen ihn hier.«

Stürmer wurde blass. »Der Inquisitor ist vollkommen irre, das wissen Sie doch. Ich kann den Mann auch befragen.«

»Habe ich nach Ihrer Meinung gefragt?«, herrschte Braake ihn an. »Wenn sogar mein willigster Bluthund beim Namen des Inquisitors schon die Hosen voll hat, dann ist das genau der Mann, den ich will. Ich brauche Antworten, und ich brauche sie schnell. Und jetzt kusch!«

***

Hotelzimmer Simon, 11:55 Uhr GMT

 

Sophies Körper bäumte sich unter ihm auf. Spitze Schreie begleiteten ihren Höhepunkt und Simon war nur Sekunden davon entfernt, ebenfalls den Gipfel der Lust zu erreichen. Er verdrehte die Augen und die Welt um ihn schien sich zu verdunkeln. Doch dann meldete sich eine Stimme in seinem Kopf.

Es ist ein Schatten. Siehst du das denn nicht?

Simons Pupillen weiteten sich. Sein Blick traf Sophies weit aufgerissene Augen, doch er sah durch sie hindurch, während sein Verstand in Bruchteilen von Sekunden auf Überlebensmodus umstellte. Simon rollte sich von Sophies erhitztem Körper und griff mit der rechten Hand nach der Lampe vom Beistelltisch neben dem Bett, während er registrierte, wie eine Gestalt auf das Bett sprang. Es war ein Mann, durchschnittlich groß, mit einem dunklen Anzug bekleidet. In der erhobenen Hand hielt er ein Messer, das er jetzt auf Sophie niedersausen ließ. Im letzten Moment konnte Simon ihr einen Tritt gegen die Hüfte verpassen, der sie unter einem Aufschrei aus dem Bett beförderte. Das Messer bohrte sich in die Matratze und Simon zog dem Angreifer die Lampe mit voller Wucht über den Schädel, ehe der begreifen konnte, was geschah.

Er rollte stöhnend zur Seite und Simon nutzte die Zeit, um aus dem Bett zu springen. Kaum stand er, da richtete sich auch der Anzugträger wieder auf und krabbelte auf der gegenüberliegenden Seite von der Matratze herunter. Sein rechter Fuß kam direkt neben Sophies Kopf zum Stehen, doch auf sie achtete der Kerl in dieser Situation nicht. Er wirkte benommen und hielt sich die stark blutende Wunde am Kopf. Dabei versuchte er, Simon nicht aus den Augen zu lassen. Erst, als Sophie panisch aufschrie, lenkte er seinen Blick nach unten und besann sich. Simon schrie ihn an, um ihn von ihr abzulenken.

»Mach dein Testament, du Bastard. Ich werde dich jetzt umbringen.«

Simon nahm einen kurzen Anlauf, um über das Bett zu springen und sich auf den Eindringling zu stürzen. Allerdings ließ der sich nicht einschüchtern. Er griff nach hinten, an seinen Hosenbund und zog eine Pistole hervor. Simon reagierte sofort, als er erkannte, dass er nicht schnell genug bei dem Schützen sein würde, um ihn zu entwaffnen und warf sich zu Boden. Genau in diesem Moment krachte auch schon ein Schuss und die Kugel schlug in die Wand hinter Simon ein. Unter dem Bett hindurch starrten ihn Sophies schreckgeweiteten Augen an. Er deutete nachdrücklich auf das Bein, das immer noch neben ihrem Kopf zu sehen war. Simon riss den Mund auf und ließ dann seine Kiefer zuschnappen. Sophie verstand nicht gleich, und so wiederholte er die Geste und zeigte dabei gleichzeitig auf das Bein des Anzugträgers. Dieses Mal verstand sie. Sophie griff sich das Bein, klammerte sich daran fest und schlug ihre Zähne in den Knöchel des Mannes.

Simon hörte ihn aufschreien. Er sah, wie der Kerl versuchte, sein Bein aus Sophies Umklammerung zu reißen, doch sie krallte sich nur umso fester hinein. Dann traf sie der andere Fuß am Kopf. Der Tritt schien nicht mit voller Wucht erfolgt zu sein, denn statt vor Schmerz schrie sie vor Wut. Simon zwang sich, wieder aufzustehen, auch wenn er dadurch den Blick auf das faszinierende Schauspiel verlor, das Sophie auf der anderen Seite des Bettes bot. Der Anzugträger bekam Simons Wiederauftauchen gar nicht mit, so sehr war er damit beschäftigt, diesen lebenden Fleischwolf an seinem Bein abzuschütteln.

Jetzt musste es schnell gehen, denn einer der nächsten Tritte konnte Sophie schwer verletzen, wenn der Typ nur einmal dazu kam, Maß zu nehmen. Die Schusswaffe war ihm zum Glück aus der Hand gefallen und lag jetzt auf der Matratze. Sie war aber zu weit weg, als dass Simon hätte dran kommen können. Zu seinem Entsetzen erinnerte sich auch der Angreifer gerade wieder an die Pistole und bückte sich schon mit schmerverzerrtem Gesicht danach.

Das Messer, schoss es Simon durch den Kopf. Es steckte noch immer an der Stelle im Bett, an der Sophies Oberkörper gerade noch gelegen hatte, und anders als die Pistole war es in Reichweite.

Ohne weiteres Nachdenken griff Simon den Schaft, zog die Klinge aus dem Schaumstoff und schleuderte das Messer mit voller Wucht auf den Eindringling. Es traf ihn zwischen Schulter und Schlüsselbein, wo es bis zum Heft eindrang und stecken blieb. Der Getroffene brüllte und griff nach dem Messer, während er vorüber kippte. Er schaffte es gerade noch, sich seitwärts abzurollen und sich das Messer bei Aufprall auf das Bett nicht noch stärker in den Körper zu rammen.

Simon sprang auf ihn und verdrehte ihm die Arme auf den Rücken. Die Gegenwehr erstickte er im Keim, indem er den Griff des Messers packte und daran rüttelte.

»Lass es einfach«, fuhr er ihn an und tatsächlich ergab sich der Typ sofort. »Scheiße, ist ja gut, ich bin ruhig«, stöhnte er und biss sich auf die Lippen.

»Wer sind Sie? Wer hat Sie geschickt?«

Als Simon nicht sofort eine Antwort bekam, riss er den rechten Arm des Mannes so brutal nach hinten, dass die Schulter auskugelte. Den gequälten Aufschrei erstickte Simon, indem er das Gesicht seines Gegners brutal in die Matratze drückte. Nach ein paar Sekunden ließ er den ausgerenkten Arm los und riss den Kopf des Fremden hoch.

»Mach das Maul auf, du Arschloch«, zischte er ihn an. »Bei Gott, ich nehme dich sonst Stück für Stück auseinander.«

Dann fiel ihm Sophie wieder ein. »Alles in Ordnung, Schatz?«, rief er über seine Schulter.

»Ich bin OK«, hörte er sie antworten. Sie klang schwach und verwirrt, aber sie war bei Bewusstsein. Mehr konnte er angesichts der Situation nicht verlangen.

»Also wird es bald?« Simon musste sich beherrschen, nicht wie von Sinnen auf den Kerl einzuprügeln, der Sophie angegriffen hatte. Sie mussten erst aus ihm rausbekommen, was er wollte.

»Es ist wegen der Akte«, presste er unter Schmerzen hervor. »Sie hatten den Teil der Studie, der uns fehlte. Ich sollte die Dokumente besorgen und alle Mitwisser beseitigen.«

Jetzt wurde Simon einiges klar. »Sie haben Martinus auf dem Friedhof ausgeraubt.«

»Den Typ mit der Akte? Ja, habe ich. Verklag mich doch.«

»Findest du das witzig?«, schrie Simon und rammte das Messer noch einmal fester in den Körper des Auftragskillers.

»Fuck, hören Sie auf, Stark«, stöhnte er und drohte, ohnmächtig zu werden. Das konnte Simon nicht gebrauchen, und so ließ er von ihm ab, stieg von ihm runter, griff sich die Pistole und entfernte sich ein paar Schritte vom Bett. Sophie versteckte sich hinter seinem Rücken, sagte aber nichts.

»Also gut, Meister. Ich stelle dir jetzt Fragen, und du beantwortest sie. Für jede Antwort, die nicht wie aus der Pistole geschossen kommt, gibt es einen Schuss von mir. Bei deinen Füßen fange ich an. Also los.«

Der Anzugträger hatte sich mittlerweile unter stärksten Schmerzen zunächst auf den Rücken gewälzt und sich dann zum Sitzen auf der Bettkante aufgerichtet.

***

Dresden, Keller von Braakes Haus, gegen 13:00 Uhr MEZ

 

Dieses Haus war alt und verfügte über einen Vorratskeller, den Braake in den vergangenen Jahren hatte ausbauen und erweitern lassen. Er passierte den ursprünglichen Kellerbereich und kam zu einer massiven Stahltür. Dahinter führte eine Treppe hinunter in den neuen Teil, der weitere drei Meter tiefer unter der Erde lag. Von dort unten würde nicht einmal der Krach einer detonierenden Granate nach außen dringen. Für Braakes Vorhaben gab es in der ganzen Stadt keinen geeigneteren Ort.

Er öffnete die Tür, ging hindurch und schloss sie wieder hinter sich. Schon auf den ersten Stufen nach unten hörte er ein Wimmern, das durch den engen Gang hinauf klang. Unten angekommen betrat er einen mit Beton verschalten Raum von knapp fünfzehn Quadratmetern. Der eigentliche Zweck dieser Kammer bestand darin, Braake als Rückzugsort zu dienen, wenn es eine überraschende Razzia der Staatsmacht gab. Die letzte Tür konnte mit einem von innen automatisch verschiebbaren Weinregal getarnt werden, sodass niemand auf die Idee kam, dass sich dahinter noch ein Zimmer befand. Die Schalldichtigkeit war nicht einmal beabsichtigt, sondern ergab sich einfach aus der massiven Bauweise. Diese eher zufällige Eigenschaft würde sich heute bezahlt machen.

In der Mitte des Raumes saß eine zitternde Gestalt auf einen Stuhl geschnallt und mit einem Jutesack über dem Kopf. Stürmer hatte ihn auf sein Geheiß herbringen lassen. Es war der Mann, der für den Hamburger Rocker Petersen hinter dem neuen Mann her spioniert hatte, den Stürmer und seine Kumpane an den Elbwiesen aufgegabelt hatten. Direkt hinter dem Gefesselten stand ein hagerer Mann mit Glatze und gepierctem Gesicht. Er ließ immer wieder seine spinnenartigen Finger über die Schultern des Delinquenten streichen, wobei der jedes Mal quiekte wie ein kleines Ferkel.

Es war der als Inquisitor bekannte Irre, der seine perversen Fähigkeiten meistbietend verkaufte, was jedoch nicht oft vorkam, denn in Dresden und Umgebung gab es nicht viele, die so weit gingen. Braake selbst hatte ihm erst einmal bei der Arbeit zugesehen. Er war der Einzige, der es bis zum Schluss mit angesehen hatte. Alle anderen waren würgend und entsetzt aus dem Raum geflohen. Harte Jungs, brutale Gangster und mehrfach vorbestrafte Gewalttäter waren das damals gewesen. Nicht einer von ihnen konnte es lange ertragen, anzusehen, wie der Inquisitor sein Demonstrationsobjekt, einen illegal eingereisten und von niemandem vermissten Albaner, nach und nach in ein sabberndes, kreischendes Stück blutenden und rauchenden Fleisches verwandelt hatte.

Nur Braake hatte zugesehen und verstanden. Der Inquisitor hatte von niemandem je einen Auftrag erhalten, doch Braake hatte sich geschworen, dass das sein Mann wäre, sollte er jemals Bedarf an solchen Fertigkeiten haben. Und den hatte er jetzt.

Er bedeutete dem unheimlichen Mann, dem Gefangenen den Sack vom Kopf zu ziehen. Er tat es, und darunter kam ein bärtiger Kopf zum Vorschein, der auf einem breiten, muskulösen Hals saß. Unter dem rechten Auge hatte er eine primitiv ausgeführte Tätowierung in Form eines Spinnennetzes und sein Haar war unter einem mit Totenköpfen bedruckten Kopftuch verborgen. Braake schätzte, soweit die sitzende Position des Mannes das zuließ, dass er knapp zwei Meter groß war. Sein Körper war muskulös und seine Füße steckten in schweren Motorradstiefeln. So ein Typ fürchtete normalerweise nichts und niemanden, aber jetzt saß er dort, hatte Panik in den Augen und Rotz lief ihm aus der Nase.

»Wie heißt du, mein Junge?«, fragte Braake mit väterlichem Ton.

»Michael«, rief er. »Mein Name ist Michael Kowacz. Was wollen Sie von mir?«

Braake antwortete nicht, sondern ging langsam und bedächtig auf Kowacz zu. »Sie haben schon Bekanntschaft mit meinem Mitarbeiter gemacht, nehme ich an.« Dabei deutete er auf den Inquisitor, der jetzt neben den Gefangenen trat und ihm eine seiner feingliedrigen Hände auf die Schulter legte. Dabei grinste er wie ein Geistesgestörter, der im Begriff war, jemandem mit den Zähnen ein Stück Fleisch aus dem Körper zu reißen.

Kowacz zuckte bei der Berührung zusammen, als hätte er einen Stromschlag bekommen. »Nehmen Sie den weg, um Himmels willen! Der ist wahnsinnig. Was wollen Sie?«

Braake sah den Inquisitor tadelnd an. »Haben Sie etwa ohne mich angefangen? Der Bursche ist ja schon völlig aufgelöst. Was haben Sie gemacht?« Auch wenn Braake enttäuscht war, nicht von Anfang an dabei gewesen zu sein, klang seine Frage nicht verärgert, sondern aufrichtig interessiert. Er kannte den Schlag Männer, mit denen sich Petersen umgab, und es wollte ihm nicht in den Kopf, wie es dem Inquisitor gelungen war, einen davon in kürzester Zeit in ein heulendes Mädchen zu verwandeln.

»Wir haben Filme geguckt«, antwortete der Inquisitor mit einer überraschend weichen, jungenhaften Stimme, die so gar nicht zu seinem Äußeren passte. Er zog ein Tablet aus seinem Hosenbund und warf es Braake zu. Es schien ihn nicht zu kümmern, ob der es fangen oder fallen lassen würde. Doch Braake fing es sicher und klappte die Hülle auf, sodass das Display zu sehen war. Der Media Player war aktiviert, zeigte aber nur ein schwarzes Bild mit einem weißen Pfeil darauf. Braake sah den Inquisitor fragend an.

»Spielen Sie es ruhig ab«, ermunterte der ihn. »Ich dokumentiere meine Arbeit jetzt auf Video. Bei den Live-Vorführungen rennen doch immer alle weg, aber das wissen Sie ja.« Der Inquisitor schmunzelte, als habe er einen tollen Gag gemacht.

»Nicht. Machen Sie den Ton wenigstens aus«, flehte Kowacz und würgte elendig. Ungerührt drückte Braake auf den Pfeil auf dem Display.