Leseprobe »Aktenzeichen Tod«

»Schlaf gut, Neuer!«

Simon Stark nickte seinem neuen Herbergsvater Joe zu und drehte sich mit dem Schlafsack auf die Seite.

Die feuchte Kälte spürte er heute nicht so sehr wie in den Nächten, bevor man ihn hier aufgenommen hatte. Joe war so etwas wie der Chef der kleinen Gruppe, die sich unter dieser doppelten Brücke zwischen Binnen- und Außenalster häuslich eingerichtet hatte. Nur, wenn er einverstanden war, durfte man sich der Gruppe anschließen. Simons Glück war, dass er an jenem Nachmittag noch relativ nüchtern gewesen war. Volltrunken hätte ihn Joe mit ziemlicher Sicherheit in die Wüste geschickt. Es waren zwar beileibe alles keine Chorknaben, die hier zusammenlebten, aber wirklich schwere Alkoholiker befanden sich nicht darunter.

Wir haben zu lange für die Duldung gekämpft, um sie wegen nächtlicher Exzesse zu gefährden. Was glaubst du, wie schnell die uns hier wegjagen, wenn jeden Morgen Erbrochenes und Exkremente rumliegen würden? Wer sich nicht beherrschen kann, fliegt raus. Klingt hart, aber die Straße ist auch hart.

Das war die Ansprache, die jeder Anwärter auf einen Schlafplatz unter der Brücke von Joe zu hören bekam, und wenn ihm nicht gefiel, wie der Bewerber darauf reagierte, gab es keinen Deal.

Simon hatte ihm versichert, dass das für ihn kein Problem sei. Joe hatte genickt, ihn noch einmal abschätzend von Kopf bis Fuß gemustert und dann eingewilligt, Simon ein Bleiberecht auf Probe für zunächst drei Tage und Nächte zu gewähren.

Den Schlafsack hatte Simon selbst mitbracht, aber die Isomatte hatte ihm Kurtie geschenkt. Kurtie war ein kleiner, drahtiger Tausendsassa, der seit zwei Jahren hier lebte. Die Gruppe verfügte über einen abschließbaren, begehbaren Verschlag, in dem sie wertvolle Gegenstände, wie etwa jene Isomatte, auf Vorrat lagerte. Sie nannten das ihr Effektenlager, und Kurtie war mit der Verwaltung und der Ausgabe betraut.

Zusammen mit der Matte hatte Simon noch zwei Plastiktüten mit zusammengeknülltem Zeitungspapier bekommen.

Das steckste dir unter die Klamotten und denn is warm. Wirste sehen, hatte der Effekten-Chef erklärt, als er Simons verständnislosen Blick bemerkt hatte. Tatsächlich war der Tipp Gold wert, wie er jetzt feststellte. Schlafsack, Isomatte und Zeitungspapier zusammen hielten ihn warm. Die Brücke war ebenfalls ein Segen, denn die Nacht war wieder regnerisch und windig. Der November war zur Hälfte um. Es war gut, noch vor dem Winter Anschluss an eine Gemeinschaft gefunden zu haben.

Heimlich fingerte er im Schlafsack nach seinem Flachmann. Mit dem Gesicht zur Wand und mit tief in die Stirn gezogener Kapuze konnte er es wagen, einen ordentlichen Schluck zu nehmen, ohne befürchten zu müssen, dass man ihn dabei sah. Klar, die anderen tranken dann und wann auch offen, aber bei denen schien Joe sicher zu sein, dass sie es im Griff hatten. Er jedoch war neu und musste erst mal einen möglichst guten Eindruck machen.

Ein paar Minuten lang lag Simon einfach nur da und spürte dem wärmenden Effekt des Schnapses nach. Er versuchte, möglichst an gar nichts zu denken, während er auf den Schlaf wartete. Die Bilder stiegen zwar vor seinem inneren Auge auf, doch er schaffte es mittlerweile, sie nicht festzuhalten. Im Traum würden sie ihn wieder verfolgen, sicher. Aber das hatte er verdient. Es war sein Fehler gewesen, egal, was alle anderen sagten.

Simon hatte die wiederkehrenden Alpträume akzeptiert, wie er auch das Leben auf der Straße angenommen hatte. Seine Buße war, weiterzumachen – mit aller Schuld und all den Bildern im Kopf. Simon schlief ein.

***

Der Augenblick, in dem er in das Zimmer kam, wo sie die Familie zusammengetrieben hatten, war genau der falsche. Ein paar Sekunden früher und er hätte es verhindern können – etwas später, und er hätte es wenigstens nicht mit ansehen müssen.

Simons Leute hatten den Mann mit dessen Frau und seinen drei Kindern in eine Ecke gedrängt und hielten ihre Waffen auf sie gerichtet. Er sah, dass die Situation unmittelbar davor stand, außer Kontrolle zu geraten. Seine Einheit war heute Zeuge eines Anschlages auf einen amerikanischen Konvoi geworden. Sie waren ihren Verbündeten sofort zu Hilfe geeilt, doch außer ein paar vor Schmerzen brüllenden Jungs beim Sterben die Hand zu halten, hatten sie nichts ausrichten können.

Dann kamen sie in dieses kleine Bergdorf. Seine Leute, hauptsächlich aber Richard Kolb, der Sprengstoffexperte, waren den Bewohnern sofort feindselig gegenübergetreten. Nach ihrer Logik mussten diese Bauern mit den Terroristen unter einer Decke stecken. Das Dorf war weit und breit die einzige menschliche Siedlung, und da lag der Verdacht nahe, dass die Attentäter zumindest hier durchgekommen waren. Doch die Bewohner der Ortschaft hatten abgestritten, etwas zu wissen.

Bei der Suche nach Zeugen hatten sie gegen jede Tür gehämmert. Nur bei einem Haus öffnete niemand. Simon war mit zwei seiner Leute gerade an einer anderen Tür damit beschäftigt, ein paar ältere Frauen in holprigem Paschtu auszufragen, als er hörte, wie eine Tür eingetreten wurde. Simon sah gerade noch, wie der Sprengstoffexperte und zwei weitere unter seinem Befehl stehende Soldaten in das Haus stürmten.

Simon hatte sofort geahnt, dass diese Situation eskalieren würde. So schnell er konnte, war er zu dem Gebäude gerannt, aus dem bereits hektisches Geschrei und das Weinen von Kindern zu hören waren.

Jetzt stand er in der Tür und erblickte die in der Ecke kauernde Familie. Sie sahen so dermaßen harmlos aus, dass Simon in dieser Sekunde sicher war, dass seine Leute ihnen nichts tun würden.

Dann griff der Vater der Kinder hinter sich.

Es ging zu schnell, als dass Simon noch hätte eingreifen können. Richard Kolb erschoss den Bauern mit einer Salve aus seinem G36 Sturmgewehr. Dessen Frau sprang kreischend auf und warf sich vor ihre Kinder. Diese Bewegung reichte, um das Feuer auf sie zu lenken. Nach nur ein paar Sekunden war die fünfköpfige Familie ausgelöscht.

Simon starrte ungläubig auf die Szene. Die Männer ließen langsam ihre Waffen sinken und drehten sich zu ihm um. Sie sahen an ihm vorbei, statt in seine Augen. Simon begriff und wendete sich in die Richtung, in die seine Leute blickten. Hinter ihm drängten sich, stumm vor Entsetzen, die übrigen Bewohner des Dorfes ins Haus. Simon wollte etwas sagen, um die Situation zu beruhigen, doch da hörte er hinter sich das Geräusch einer Waffe, die durchgeladen wurde.

***

»Nein!«

Simon versuchte, aufzuspringen, konnte sich jedoch kaum bewegen. Dann ein weiterer Schrei.

»Bitte aufhören, bitte!«

Das war nicht seine Stimme. Simon dachte, er sei wieder einmal schreiend aus einem dieser Träume aufgeschreckt, doch er hatte sich geirrt. Gehetzt versuchte er wieder, sich zu bewegen, bis er realisierte, dass er in seinem Schlafsack steckte. Er konzentrierte sich und blendete das fortgesetzte Gebrüll aus, in das sich primitives Gejohle und Geräusche, mischten, die wie Schläge klangen.

Adrenalin flutete seine Adern, als er einen Hilfeschrei hörte. Das war die Stimme von Ella. Sie war Joes rechte Hand und hatte den Kochdienst für die Gruppe übernommen. Zwei Sekunden später hatte Simon sich aus dem Schlafsack befreit und stürmte hellwach in die Richtung, aus der der Lärm kam.

Die Köchin lag zusammengekrümmt auf dem Boden und versuchte, ihren Kopf vor den Tritten zu schützen, mit denen die Angreifer sie eindeckten.

Simons Verstand analysierte die Situation vollautomatisch, während er auf die Gruppe zu rannte.

Bei Ella waren zwei. Beide trugen Kapuzenpullover, Trainingshosen und Turnschuhe. Knapp drei Meter weiter hatte ein anderer Hooligan Joe mit einem Totschläger gegen die Brückenwand gedrängt. Der Alte blutete am Kopf, hielt sich aber auf den Beinen. Mit dem Mut der Verzweiflung fuchtelte er mit einer langstieligen Bratpfanne vor sich herum, um den Mann mit der Stahlrute auf Abstand zu halten.

Dann war da noch eine Dreiergruppe, die den jungen Stricher Elias, Kurtie und den polnischen Wanderarbeiter Janek vor sich hertrieb. Offenbar hatten sie vor, ihre Opfer ins Wasser zu drängen.

Ellas Lage war am bedrohlichsten. Joe würde sich mit Glück noch ein paar Sekunden länger wehren können und die anderen drei – nun, sie konnten im schlimmsten Fall nass werden und sich eine Unterkühlung holen. Dass einer von ihnen ertrinken könnte, zog Simon absichtlich nicht ins Kalkül. Zu unwahrscheinlich, um seine Entscheidung dadurch beeinflussen zu lassen.

Die beiden Typen sahen ihn nicht kommen, denn sie drehten ihm den Rücken zu, während sie wieder und wieder auf die mittlerweile regungslose Frau eintraten. Simon trat dem Linken in die Kniekehle, packte den ausholenden Fuß des Rechten und riss ihn mit einem Ruck nach hinten. Nummer Eins sackte zusammen, während Kandidat Zwei mit dem Gesicht voran auf den Asphalt klatschte. Damit war der außer Gefecht. Dem anderen riss er mit der linken Hand den Kopf in den Nacken und ließ seinen Ellenbogen auf dessen Nasenspitze krachen.

Er gab dem röchelnden Kerl einen Stoß, so dass auch er aufs Gesicht fiel. Zeit zum Schreien hatte Simon beiden nicht gelassen, sodass ihre Kollegen noch nichts mitbekommen hatten.

Als nächsten nahm er sich den Typen vor, der Joe bedrängte.

Die Bratpfanne hatte der Angreifer ihm gerade aus der Hand geschlagen und schon holte er mit dem Totschläger erneut aus.

»Jetzt hau ich dir den Schädel ein, du Opfer«, knurrte er und machte einen Ausfallschritt auf den Alten zu.

»Lass den Mann in Ruhe«, brüllte Simon und blieb knapp außerhalb der Reichweite stehen, die sein Gegner mit dem Totschläger haben konnte.

Der drehte sich wütend um und breitete die Arme aus.

»Alter, verpiss dich«, schrie er Simon an und ging auf ihn zu. Im Gehen holte er schon zum Schlag aus, als Simon mit einer Körperdrehung um ihn herum wirbelte und ihn von hinten in den Schwitzkasten nahm. Der Junge hatte überhaupt keine Chance gehabt, zu reagieren. Simon mochte vom Leben auf der Straße und vom Suff geschwächt sein, aber mit einem Halbstarken wie dem hier nahm er es noch allemal auf.

»Hey, kommt mal her«, schrie er in Richtung seiner Kumpel und zappelte hilflos in Simons Griff.

»Ey, ich schwör, ich schlag dich tot, du Assi! Hörst du?«

Simon war nicht beeindruckt. Die anderen dafür umso mehr, wie es aussah. Als sie ihren Kumpan in Schwierigkeiten sahen, flogen bei ihnen alle Sicherungen raus.

Lonsdale Pullover. Also Hooligans. Gott, wie ich Fußball hasse.

Die drei Hools stürmten auf ihn zu wie eine Meute Bluthunde. Da war keine Angst in ihren Augen, aber jede Menge Gewaltgeilheit.

Sie waren schnell, jedoch zu ungestüm. Weil sich alle drei zur gleichen Zeit auf Simon stürzten, kamen sie sich gegenseitig in die Quere. So war es einfach, dem kleinen Trupp mit mehreren schnellen Sidesteps auszuweichen und sie ins Leere rennen zu lassen. Noch ehe sie ihre Orientierung wiederfinden konnten, hatte Simon den Ersten im Würgegriff und setzte ihn mit einem gezielten Leberhaken außer Gefecht.

Augenblicklich löste er seinen Klammergriff, packte den Typen an dessen rechtem Arm und schleuderte ihn wie einen Ball beim Dosenwerfen in die beiden anderen hinein, die mittlerweile wieder in seine Richtung stürmten. Sie strauchelten und fielen zu Boden. Bevor sie Gelegenheit hatten, sich aufzurappeln, trat Simon dem einen mit dosierter Gewalt in die Rippen und dem anderen seitlich ins Gesicht.

Er achtete darauf, die Tritte so zu bemessen, dass sie seine Widersacher zwar kampfunfähig machten, sie aber nicht töteten. Ebenso gut hätte der eine Kick eine Rippe in die Lunge des Angreifers Nummer Eins treiben und der Kopftritt das Genick von Gegner Nummer Zwei brechen können. Im Kampfeinsatz wäre das eine legitime Lösung gewesen. Hier dagegen konnten einen solche Aktionen schneller hinter Gitter bringen, als einem lieb war.

Er verharrte noch einige Sekunden in Kampfhaltung und machte sich bereit, einem letzten Aufbäumen der Schläger zu begegnen. Doch die hatten offenbar genug. Stöhnend und fluchend kam einer nach dem anderen wieder auf die Beine, aber der Kampfeswille war verflogen. Sie liefen humpelnd weg und stützten sich gegenseitig. Simon war es recht, dass sie sich aus dem Staub machten. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass niemand die Szene beobachtet und die Polizei gerufen hatte. Das hätte nur lästige Scherereien gegeben. Vernehmung auf dem Revier, Feststellung der Personalien, misstrauische Fragen zu seiner Vergangenheit und schlussendlich vielleicht sogar noch Untersuchungshaft. Immerhin hatte er diese Typen ziemlich heftig aufgemischt. Dass Polizisten einem Penner die Story von der Notwehr abkauften, konnte Simon sich jedenfalls nur schwer feststellen.

Ein gequältes Stöhnen riss ihn aus seinen Gedanken.

 

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