Kapitel 10

Stilvolle Lösung - »Der Bankdirektor macht Wauwau« - Paul König legt was auf die hohe Kante - Das Geschrei geht los - Ein Kuss ohne Zunge Kriegsrat - Feucht nimmt das Ruder in die Hand - Ein bisschen Zauber mit Briefmarken - Das Interesse des Professors wecken - Eine Vision des Paradieses

Improvisieren! Die letzte Möglichkeit. Erinnerst du dich noch an die goldliche Kette? Hier ist das andere Ende des Regenbogens. Rede dich aus einer Sache heraus, aus der du dich nicht herausreden kannst. Sei deines eigenen Glückes Schmied. Zieh eine Show ab. Wenn du fällst, zeig ihnen, wie du daraus einen Hechtsprung machst. Manchmal ist die beste Stunde die letzte Stunde.

Er ging zum Kleiderschrank und nahm den besten goldenen Anzug heraus, den er nur zu besonderen Anlässen trug. Dann suchte er nach Gladys, die aus einem Fenster starrte.

Er musste ihren Namen recht laut aussprechen, bevor sie sich ganz langsam zu ihm umdrehte.

»Da Kommen Sie«, sagte sie.

»Ja«, sagte Feucht, »und deswegen sollte ich mich in Schale schmeißen. Könntest du mir bitte diese Hose bügeln?«

Wortlos nahm Gladys ihm die Hose ab, hielt sie gegen eine Wand und strich mit einer breiten Hand darüber, bevor sie sie ihm zurückgab. Mit der Bügelfalte hätte man sich rasieren können. Dann wandte sie sich wieder dem Fenster zu.

Feucht trat neben sie. Vor der Bank hatte sich bereits eine Menschenmenge versammelt, und er sah, wie weitere Kutschen hielten. Auch etliche Wachleute hatten sich draußen postiert. Ein kurzer Blitz deutete darauf hin, dass Otto Chriek von der Times bereits Bilder machte. Und es wurde auch schon eine Abordnung gebildet. Die Leute wollten das Ende aus nächster Nähe miterleben. Früher oder später würde jemand gegen die Tür hämmern. Mist. Das durfte er nicht zulassen.

Waschen, rasieren, Nasenhaare stutzen, Zähne putzen. Haare kämmen, Stiefel wienern. Hut aufsetzen, die Treppe runtergehen, ganz langsam die Tür aufschließen, damit man das Klicken draußen nicht hörte, warten, bis sich Schritte näherten ...

Feucht öffnete abrupt die Tür.

»Ja, meine Herren?«

Cosmo Üppig schwankte, als sein Klopfversuch ins Leere ging, fand aber schon bald das Gleichgewicht wieder und streckte ihm einen Zettel hin.

»Krisenkonferenz«, sagte er. »Diese Herren« - dabei zeigte er auf mehrere würdevoll aussehende Männer, die hinter ihm standen — »sind Vertreter der größeren Gilden und einiger anderer Banken. Das ist die übliche Vorgehensweise, und du darfst ihnen nicht den Zugang verwehren. Dir ist bestimmt aufgefallen, dass wir auch Kommandeur Mumm von der Wache mitgebracht haben. Wenn wir festgestellt haben, dass sich kein Gold mehr in der Kammer befindet, werde ich ihn auffordern, dich wegen des Verdachts auf Diebstahl zu verhaften.«

Feucht sah den Kommandeur an. Er mochte den Mann nicht sehr und war fest davon überzeugt, dass Mumm auch ihn nicht leiden konnte. Allerdings war er noch viel mehr davon überzeugt, dass Mumm von Cosmo Üppig und seinesgleichen keine Befehle annehmen würde.

»Ich bin mir sicher, dass der Kommandeur die Entscheidung treffen wird, die er für richtig hält«, sagte Feucht sanft. »Ihr kennt den Weg in die Krypta. Es tut mir leid, dass dort im Moment etwas Unordnung herrscht.«

Cosmo drehte sich halb um, damit die Menge alles hören konnte, was er sagte. »Du bist ein Dieb, Herr Lipwig. Ein Schwindler und Lügner und Betrüger, und du hast nicht den geringsten modischen Geschmack.«

»Ich würde sagen, dass das etwas hart ausgedrückt ist«, sagte Feucht, während sich die Männer an ihm vorbeidrängten. »Ich finde zufällig, dass ich mich sehr flott kleide!«

Nun stand er allein vor dem Eingang zur Bank und wandte sich der Menge zu. Sie hatte sich noch nicht in einen Mob verwandelt, aber das war bestimmt nur eine Frage der Zeit.

»Kann ich sonst noch jemandem helfen?«, fragte er.

»Was ist mit unserem Geld?«, wollte jemand wissen.

»Was soll damit sein?«, erwiderte Feucht.

»In der Zeitung steht, dass du kein Gold hast«, sagte der Mann.

Er hielt ihm ein feuchtes Exemplar der Times hin. Im Großen und Ganzen hatte sich die Zeitung sehr zurückgehalten. Feucht hatte bereits mit einer schlimmen Schlagzeile gerechnet, aber der Bericht nahm nur eine Spalte auf der Titelseite ein und war voller »soweit wir gehört haben« und »wir vermuten« und »der Times wurde mitgeteilt« und anderer Phrasen, die Journalisten benutzen, wenn sie über große Geldsummen schreiben, deren Bedeutung sie nicht einschätzen können, und wenn sie sich nicht sicher sind, ob ihre Informationen den Tatsachen entsprechen.

Er blickte ins Gesicht von Sacharissa Kratzgut.

»Entschuldige bitte«, sagte sie, »aber in der vergangenen Nacht wurde die Bank von Wachleuten belagert, und wir hatten nicht viel Zeit. Und offen gesagt, war Herrn Beuges ... Nervenzusammenbruch schon eine eigene Geschichte. Jeder weiß, dass er die Bank führt.«

»Der Direktor führt die Bank«, sagte Feucht steif.

»Nein, Feucht, der Direktor macht Wauwau und mehr nicht«, sagte Sacharissa. »Sag mal, hast du nicht irgendwas unterschrieben, als du diesen Posten übernommen hast? Einen Vertrag oder so etwas?«

»Das mag sein. Es gab sehr viel Papierkram. Ich habe einfach dort unterschrieben, wo ich unterschreiben sollte. Genauso wie Herr Quengler.«

»Bei den Göttern, die Anwälte werden damit einen Riesenspaß haben«, sagte Sacharissa, die plötzlich wie durch Zauber ihr Notizbuch in der Hand hielt. »Und das ist nicht einmal ein Witz.8  Er könnte im Schuldnergefängnis landen!«

»Im Hundezwinger«, sagte Feucht. »Schließlich macht er Wauwau. Aber das wird nicht geschehen.«

Sacharissa bückte sich, um Herrn Quengler den kleinen Kopf zu streicheln, doch sie erstarrte mitten in der Bewegung. »Was hat er da im ...?«

»Sacharissa, können wir das später klären? Im Augenblick habe ich dafür wirklich keine Zeit. Ich schwöre dir bei allen drei Göttern, an die du glaubst, obwohl du Journalistin bist, dass ich dir, wenn das alles vorbei ist, eine Geschichte erzähle, die selbst das große Geschick der Times in der Vermeidung unfeiner und anzüglicher Themen auf eine harte Probe stellen wird. Glaub mir.«

»Ja, aber es sieht aus wie ein ...«

»Ach, dann weißt du also doch, was es ist, und ich muss es dir gar nicht erklären«, sagte Feucht barsch.

Er gab die Zeitung an den besorgten Besitzer zurück. »Du bist Herr Casper, nicht wahr?«, sagte er. »Du hast bei uns ein Guthaben von sieben Dollar, wenn ich mich nicht täusche.« Für einen Moment wirkte der Mann sehr beeindruckt. Wenn es um Gesichter ging, war Feucht richtig gut. »Ich habe dir doch gesagt, dass wir uns wegen des Goldes keine Sorgen machen.«

»Ja, aber ...«, begann der Mann. »Nun ja, es ist schließlich keine sehr verlässliche Bank, wenn jemand von dort einfach so das Gold wegschafft, nicht wahr?«

»Aber das spielt überhaupt keine Rolle«, sagte Feucht. »Das habe ich euch allen erklärt.«

Die Leute wirkten verunsichert. Theoretisch müssten sie jetzt die Treppe hinaufstürmen. Aber Feucht wusste, was sie zurückhielt. Es war die Hoffnung. Es war die leise Stimme, die sagte: Das alles passiert gar nicht wirklich. Es war die Stimme, die einen dazu antrieb, bei der fruchtlosen Suche nach einem verlorenen Schlüssel dieselbe Tasche dreimal von innen nach außen zu stülpen. Es war die verrückte Überzeugung, dass die Welt wieder normal funktionierte, wenn man nur wirklich daran glaubte, und dass dann auch die Schlüssel wieder auftauchen würden. Es war die Stimme, die sehr laut sagen konnte, dass das alles gar nicht wirklich passierte, um die nackte Angst zu übertönen, die eigentlich dahinterstand.

Er hatte etwa dreißig Sekunden, in denen diese Hoffnung andauerte.

Und dann teilte sich die Menge. Pucci Üppig hatte keine Ahnung, wie man einen eindrucksvollen Auftritt inszenierte. Aber Paul König. In der verunsicherten, umherwuselnden Menge öffnete sich eine Schneise, als würde das Meer vor einem wasserscheuen Propheten zurückweichen, und plötzlich wurden beide Seiten von großen, wettergegerbten Männern mit gebrochenen Nasen und beeindruckenden Narben gesäumt. Über diese Straße schritt Paul König, eine Spur aus Zigarrenrauch hinter sich herziehend. Feucht schaffte es, nicht von der Stelle zu weichen, bis Herr König nur noch einen halben Meter von ihm entfernt war, und achtete darauf, ihm unverwandt in die Augen zu blicken.

»Wie viel Geld habe ich auf deine Bank gebracht, Herr Lipwig?«, fragte Paul.

»Äh, ich glaube, es waren fünfzigtausend Dollar, Herr König«, sagte Feucht.

»Ja, ich glaube, es war etwas in dieser Richtung«, sagte Herr König. »Errätst du, was ich jetzt tun werde, Herr Lipwig?«

Feucht riet nicht. Das Splot zirkulierte immer noch in seinem Körper, und in seinem Gehirn hallte die Antwort wie eine Trauerglocke. »Du wirst noch mehr auf dein Konto einzahlen, nicht wahr, Herr König?«

Paul König strahlte, als wäre Feucht ein Hund, der soeben ein neues Kunststück vorgeführt hatte. »Das ist richtig, Herr Lipwig! Ich habe mir so gedacht: Paul, dachte ich mir, die fünfzigtausend fühlen sich bestimmt ein bisschen einsam, also komme ich mal vorbei und runde sie auf sechzigtausend auf.«

Auf dieses Zeichen hin traten hinter ihm noch mehr von seinen Männern hervor, die zu zweit schwere Kisten trugen. »Das meiste ist Gold und Silber, Herr Lipwig«, sagte Paul. »Aber ich weiß, dass du viele kluge junge Männer in deiner Bank hast, die alles für dich zusammenzählen können.«

»Das ist sehr freundlich von dir, Herr König«, sagte Feucht, »aber jeden Augenblick werden die Prüfer zurückkommen, und dann wird die Bank in sehr, sehr großen Schwierigkeiten stecken. Bitte, ich kann dein Geld nicht annehmen!«

Paul beugte sich näher an Feucht heran und hüllte ihn in Zigarrenrauch und die Duftnote von verfaultem Kohl ein. »Ich weiß, dass du etwas vorhast«, flüsterte er und tippte sich gegen den Nasenflügel. »Die Mistkerle versuchen dich zu kriegen, das sehe ich! Aber ich erkenne einen Gewinner, wenn ich einen sehe, und ich weiß, dass du noch etwas im Ärmel hast.«

»Bloß meine Arme, Herr König, bloß meine Arme«, sagte Feucht.

»Auf dass sie noch lange dort bleiben«, sagte Paul und schlug ihm auf den Rücken.

Die Männer marschierten an Feucht vorbei und stellten die Kisten auf den Boden.

»Ich brauche keine Empfangsquittung«, sagte Paul »Du kennst mich, Herr Lipwig. Du weißt, dass du mir vertrauen kannst, genauso wie ich weiß, dass ich dir vertrauen kann.«

Feucht schloss die Augen, aber nur für einen kurzen Moment. Hatte er sich tatsächlich Sorgen gemacht, dieser Tag könnte für ihn am Galgen enden?

»Dein Geld ist bei mir sicher, Herr König«, sagte er.

»Ich weiß«, sagte Paul König. »Und wenn du den Sieg davongetragen hast, schicke ich dir den jungen Willibald vorbei, damit er mit deinem Affen aushandeln kann, wie viele Zinsen ich für dieses bescheidene Sümmchen bekomme, in Ordnung? Das ist nur fair!«

»Auf jeden Fall, Herr König.«

»Gut«, sagte Paul. »Jetzt gehe ich etwas Land kaufen.«

In der Menge wurde unsicher gemurmelt, als er ging. Diese neue Einzahlung hatte sie nachdenklich gemacht. Genauso wie Feucht. Die Leute fragten sich, was Paul König wusste. Genauso wie Feucht. Es war schrecklich, wenn jemand wie Paul an einen glaubte.

Inzwischen hatte die Menge einen Sprecher auserkoren, der sich nun zu Wort meldete. »Was ist jetzt eigentlich los? Ist das Gold nun weg oder nicht?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Feucht. »Heute habe ich noch nicht nachgesehen.«

»Du sagst das, als würde es gar keine Rolle spielen«, warf Sacharissa ein.

»Wie ich bereits erklärt habe«, sagte Feucht, »ist die Stadt immer noch da. Die Bank ist immer noch da. Ich bin immer noch da.« Er warf einen Blick auf Paul Königs breiten, sich entfernenden Rücken. »Vorläufig. Also besteht eigentlich gar keine Notwendigkeit, dass hier überall Gold herumliegen muss, oder?«

Cosmo Üppig trat hinter Feucht durch die Tür nach draußen. »So, Herr Lipwig, wie es scheint, bist du also doch durch und durch ein Betrüger.«

»Wie bitte?«, sagte Feucht.

Andere Mitglieder des spontan zusammengetretenen Prüfungskomitees drängten sich hinaus. Ihre Gesichter hatten einen zufriedenen Ausdruck. Immerhin waren alle sehr früh morgens geweckt worden, und wer schon früh morgens auf den Beinen war, hoffte, noch vor dem Frühstück fette Beute machen zu können.

»Seid ihr schon fertig?«, fragte Feucht.

»Dir ist doch sicherlich bewusst, weswegen wir hierher gebracht wurden«, sagte einer der Bankiers. »Du weißt ganz genau, dass die Stadtwache in der vergangenen Nacht kein Gold in deinen Kammern vorgefunden hat. Wir konnten diesen unerfreulichen Zustand nur bestätigen.«

»Ach, ihr wisst ja, wie das mit dem Geld ist«, sagte Feucht. »Da glaubt man, dass man pleite ist, und dann war es die ganze Zeit in der anderen Hose.«

»Nein, Herr Lipwig, diesmal geht der Witz auf deine Kosten«, sagte Cosmo. »Die Bank ist ein einziger Schwindel.« Er hob die Stimme. »Ich möchte allen Investoren, die in die Irre geführt wurden, raten, ihr Geld zurückzuholen, solange es noch geht!«

»Nein! Alle Polizisten zu mir!« Kommandeur Mumm schob sich durch die verblüfften Bankiers, während gleichzeitig ein halbes Dutzend Trolle die Treppe hinaufstürmte und sich Schulter an Schulter vor der Doppeltür aufbaute.

»Hast du völlig den Verstand verloren, Herr?«, sagte Mumm, dessen Nasenspitze fast die von Cosmo berührte. »Das klang in meinen Ohren nach einer Aufforderung zum Aufruhr! Diese Bank ist bis auf weiteres geschlossen!«

»Ich gehöre dem Aufsichtsrat dieser Bank an, Kommandeur«, sagte Cosmo. »Du kannst mich nicht aussperren.«

»Das werden wir ja sehen«, sagte Mumm. »Ich schlage vor, dass du deine Beschwerde bei Seiner Lordschaft einreichst. Feldwebel Detritus!«

»Jawoll!«

»Hier kommt niemand ohne einen von mir unterschriebenen Berechtigungsschein rein. Und Herr Lipwig, du wirst diese Stadt nicht verlassen, verstanden?«

»Ja, Kommandeur.« Feucht wandte sich an Cosmo. »Weißt du, dass du gar nicht gut aussiehst?«, sagte er. »Deine Gesichtsfarbe wirkt auf mich sehr ungesund.«

»Kein Wort mehr, Lipwig!« Cosmos Gesicht näherte sich seinem, und aus nächster Nähe wirkte es noch schlimmer, wie das Gesicht einer Wachspuppe, sofern eine Wachspuppe zu schwitzen imstande war. »Wir treffen uns vor Gericht wieder. Dein Weg ist hier zu Ende, Herr Lipwig. Oder sollte ich sagen ... Herr Spangler?«

Oh, bei den Göttern, ich hätte irgendwas wegen Krippling unternehmen sollen. Aber ich war zu sehr damit beschäftigt, Geld zu machen ...

Und dann kam Adora Belle durch die Menge. Sie wurde von zwei Wachmännern geführt, die ihr gleichzeitig als Krücken dienten. Mumm hastete die Treppenstufen hinunter, als hätte er auf sie gewartet.

Feucht wurde bewusst, dass der Hintergrundlärm der Stadt lauter wurde. Die Menge hatte es ebenfalls bemerkt. Irgendwo passierte etwas Großes, und dieser kleine Streit war nur ein Nebenschauplatz.

»Du hältst dich wohl für sehr schlau, was, Herr Lipwig?«, sagte Cosmo.

»Nein, ich weiß, dass ich schlau bin. Ich glaube nur, dass ich im Moment etwas Pech habe«, sagte Feucht. Aber er dachte: So viele Kunden hatte ich doch gar nicht, oder? Ich kann Schreie hören!

Während Cosmo hinter ihm triumphierend brüllte, drängte er sich nach unten zu Adora Belle und den Polizisten.

»Deine Golems?«, fragte er.

»Jeder Golem in der Stadt hat in diesem Moment aufgehört zu arbeiten«, sagte Adora Belle. Ihre Blicke trafen sich.

»Kommen sie?«, fragte Feucht.

»Ja, ich glaube schon.«

»Wer kommt?«, fragte Mumm misstrauisch.

»Äh, sie!«, sagte Feucht und zeigte darauf.

Ein paar Leute kamen aus Richtung Schlegel um die Ecke gerannt und stürmten mit aschfahlen Gesichtern an der Menge vor der Bank vorbei. Aber sie waren nur ein paar Schaumflocken, die der Flutwelle aus Menschen vorauseilten, die aus der Umgebung des Flusses flüchteten. Diese Welle brach sich nun an der Bank wie an einem Felsen im Flussbett.

Doch über dem Meer der Köpfe schwebte ein kreisrundes Segeltuch von etwa drei Metern Durchmesser, wie es benutzt wird, um Leute aufzufangen, die sich nur noch mit einem Sprung aus brennenden Gebäuden retten können. Die fünf Personen, die es trugen, waren Dr. Hicks und vier weitere Zauberer, und an diesem Punkt bemerkte man den Kreidekreis und die magischen Symbole auf dem Tuch. Mitten in diesem tragbaren magischen Kreis saß Professor Flett, der wirkungslos mit seinem ätherischen Stab auf die Zauberer einschlug. Vor der Treppe zur Bank blieben sie stehen, während die Menge weiterrannte.

»Es tut mir sehr leid deswegen«, sagte Hicks keuchend. »Aber es war die einzige Möglichkeit, ihn hierher zu schaffen, und er hat darauf bestanden, oh, und wie ...«

»Wo ist die junge Dame?«, rief Flett. Seine Stimme war im vollen Tageslicht kaum zu verstehen. Adora Belle schob sich durch die Polizisten.

»Ja, Professor Flett?«, sagte sie.

»Ich habe die Antwort gefunden, die du gesucht hast! Ich habe mit mehreren Ähmianern gesprochen!«

»Ich dachte, sie wären alle schon vor Jahrtausenden gestorben!«

»Nun, ich komme schließlich aus dem Institut für Nekromantie«, sagte Flett. »Aber ich muss zugeben, dass sie schon ein klein bisschen verschwommen waren, selbst für mich. Könnte ich einen Kuss haben? Einen Kuss für eine Antwort?«

Adora Belle blickte sich zu Feucht um. Dieser zuckte mit den Schultern. Heute konnte ihn ohnehin nichts mehr erschüttern. Er flog nicht mehr auf den Schwingen seines Improvisationstalents dahin, er wurde nur noch vom Sturm mitgerissen.

»Also gut«, sagte sie. »Aber ohne Zunge.«

»Zunge?«, sagte Flett traurig. »Ich wünschte, ich hätte noch eine ...«

Es war nur ein flüchtiges Küsschen, aber der geisterhafte Nekromant strahlte. »Wunderbar!«, rief er. »Ich fühle mich mindestens hundert Jahre jünger!«

»Du hast den Text übersetzt?«, sagte Adora Belle. Und genau in diesem Moment spürte Feucht, wie der Boden vibrierte.

»Was? Ach das«, sagte Flett. »Es ging um diese goldenen Golems, von denen du gesprochen hast...«

... und wieder erzitterte der Boden heftig genug, um ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend zu erzeugen ...

»... obwohl sich herausgestellt hat, dass das Wort im Zusammenhang ganz und gar nicht >golden< bedeutet. Es gibt über einhundertzwanzig Bedeutungen, die es außerdem haben kann, doch in diesem Fall heißt es in Verbindung mit dem Rest des Satzes eindeutig eintausend.«

Wieder bebte die Straße.

»Ich glaube, du wirst es mit viertausend Golems zu tun bekommen«, sagte Flett fröhlich. »Oh, da kommen sie ja schon!«

Sie kamen im Sechserglied über die Straßen, von Wand zu Wand und drei Meter hoch. Wasser und Schlamm tropfte an ihnen herab. Die Stadt hallte im Rhythmus ihrer Schritte wider.

Sie zertrampelten keine Menschen, aber bloße Marktstände und Kutschen zersplitterten unter ihren schweren Füßen. Sie fächerten sich auf, je weiter sie durch die Stadt marschierten, drangen donnernd in Nebenstraßen ein und steuerten die Tore an, die in Ankh-Morpork immer offen standen, weil es unvernünftig gewesen wäre, Kunden abzuweisen.

Und dazu die Pferde, vermutlich nicht mehr als zwanzig in der marschierenden Heerschar. Die Sättel waren aus dem Ton ihres Rückens geformt. Sie überholten die zweibeinigen Golems, und wer es sah, dachte unwillkürlich: Wo kriege ich so eins her?

Ein menschenförmiger Golem blieb allein mitten auf dem Hiergibt’salles-Platz stehen, hob eine Faust wie zum Gruß, ließ sich auf ein Knie sinken und erstarrte. Die Pferde hielten neben ihm an, als würden sie auf Reiter warten.

Die übrigen Golems marschierten unter Donnergetöse weiter, zur Stadt hinaus. Und als die von vielen Mauern umgebene Stadt Ankh-Morpork außerhalb der Tore eine neue Mauer hatte, blieben auch sie stehen. Gleichzeitig reckten sie die rechte Hand zur Faust geballt empor. Schulter an Schulter ließen die Golems die Stadt erzittern ... und bewachten sie.

Auf dem Hiergibt’salles-Platz blickte Kommandeur Mumm zur erhobenen Faust auf und dann zu Feucht.

»Bin ich verhaftet?«, sagte Feucht leise.

Mumm seufzte. »Herr Lipwig«, sagte er, »es gibt kein Wort für das, was du bist.«

Der große Ratssaal im Erdgeschoss des Palasts war gerammelt voll. Die meisten Leute mussten stehen. Jede Gilde, jede Interessengruppe und jeder andere, der einfach nur sagen wollte, dass er dabei gewesen war ... war dabei. Die Menge quoll auf das Palastgelände hinaus und reichte bis auf die Straßen. Kinder erkletterten den Golem auf dem Platz, trotz der Bemühungen der Wachleute, die ihn bewachten.9 

In dem großen Tisch steckte eine schwere Axt, bemerkte Feucht. Man hatte sie mit solcher Wucht hineingetrieben, dass das Holz gespalten worden war. Offenkundig war das schon vor einiger Zeit geschehen. Vielleicht sollte es so etwas wie eine Warnung sein. Oder ein Symbol. Schließlich wurde hier Kriegsrat gehalten, wenn auch ohne Krieg.

»Allerdings haben wir bereits ein paar sehr bedrohliche Depeschen von den anderen Städten erhalten«, sagte Lord Vetinari, »also ist es wohl nur eine Frage der Zeit.«

»Warum?«, fragte Erzkanzler Ridcully von der Unsichtbaren Universität, dem es gelungen war, einen Sitzplatz zu erringen, indem er den protestierenden Vorbesitzer per Levitation davon entfernt hatte. »Alles, was diese Dinger machen, ist doch nur, außerhalb der Mauern herumzustehen, oder?«

»In der Tat«, sagte Vetinari. »Und so etwas wird als aggressive Verteidigung bezeichnet. Praktisch läuft es auf eine Kriegserklärung hinaus.« Er stieß einen leisen Seufzer aus, das Zeichen, dass sein Gehirn gerade einen Gang heruntergeschaltet hatte. »Darf ich euch an den berühmten Ausspruch von General Taktikus erinnern: >Wer nach Krieg strebt, bereitet sich auf den Krieg vor.<« Unsere Stadt ist von einer Mauer aus Geschöpfen umringt, von denen jedes einzelne vermutlich nur durch eine Belagerungswaffe auf gehalten werden könnte. Fräulein Liebherz« - er hielt kurz inne, um Adora Belle mit einem kurzen, strengen Lächeln zu bedenken - »war so freundlich, Ankh-Morpork eine Armee zu beschaffen, die in der Lage ist, die ganze Welt zu erobern, obwohl ich mir liebend gern ihre Versicherung anhören würde, dass sie das keineswegs beabsichtigt hatte.«

»Warum tun wir es dann nicht?«, fragte Lord Witwenmacher, der Vorsitzende der Assassinengilde.

»Ach, Lord Witwenmacher! Ja, ich hatte mir gedacht, dass jemand so etwas sagen würde«, erwiderte Vetinari. »Fräulein Liebherz? Du hast diese Golems studiert.«

»Ich hatte nur eine halbe Stunde dafür!«, protestierte Adora Belle. »Wobei ich auf einem Bein herumhüpfen musste, wie ich hinzufügen möchte!«

»Nichtsdestotrotz bist du unsere Expertin. Und du hattest die Unterstützung des berühmten verstorbenen Professor Flett.«

»Er hat ständig versucht, mir unter den Rock zu gucken!«

»Bitte, gnädige Frau!«

»Sie haben keine Chem, an die ich herankommen könnte«, sagte Adora Belle. »Es gibt keine Möglichkeit, ihre Köpfe zu öffnen. Soweit wir sagen können, haben sie nur eine Mission, und zwar die Verteidigung der Stadt. Mehr nicht. So ist es ihnen in den Ton graviert worden.«

»Trotzdem gibt es so etwas wie präventive Verteidigung. Das könnte man als >bewachen< definieren. Glaubst du, dass sie eine andere Stadt angreifen würden?«

»Das kann ich mir nicht vorstellen. An welcher Stadt soll ich es für dich ausprobieren, Euer Lordschaft?«

Feucht schauderte. Manchmal schien Adora Belle alles egal zu sein.

»An keiner«, sagte Vetinari. »Wir werden kein weiteres verfluchtes Reich gründen, solange ich Patrizier bin. Wir haben gerade erst das letzte verwunden. Professor Flett, warst du in der Lage, ihnen irgendwelche Befehle zu erteilen?«

Alle Köpfe wandten sich dem tragbaren Kreis mit Professor Flett zu. Er war in der Nähe der Tür geblieben, weil es einfach nicht möglich gewesen war, sich weiter in den Raum hineinzudrängen.

»Was? Nein! Ich bin mir sicher, dass ich mich einigermaßen auf Ähmianisch ausdrücken kann, aber ich kann sie nicht dazu bringen, auch nur einen Finger zu rühren. Ich habe jeden denkbaren Befehl ausprobiert, aber ohne Erfolg. Das ist äußerst ärgerlich!«

Er zeigte mit seinem Stab auf Dr. Hicks. »Kommt schon, macht euch nützlich, Leute. Nur noch ein Versuch!«

»Ich glaube, ich könnte in der Lage sein, mit ihnen zu kommunizieren«, sagte Feucht und starrte die Axt an, doch seine Stimme ging in der Unruhe unter, als die murrenden Studenten versuchten, den tragbaren magischen Kreis zurück durch die Tür und die Menge dahinter zu bugsieren.

Lasst mich nur kurz überlegen, warum, dachte er. Ja ... ja! Es war eigentlich ... sogar ganz einfach. Viel zu einfach für ein Komitee.

»Als Vorsitzender der, Kaufmannsgilde meine Herren möchte, ich darauf hinweisen dass diese Geschöpfe, wertvolle Arbeitskräfte für die Stadt darstellen ...«, sagte Herr Robert Parker.10 

»Keine Sklaven in Ankh-Morpork!«, rief Adora Belle und richtete den Zeigefinger auf Lord Vetinari. »Das hast du selbst immer wieder gesagt!«

Vetinari sah sie an und zog eine Augenbraue hoch. Dann hielt er die Augenbraue, wo sie war, und zog auch noch die andere hoch. Doch Adora Belle ließ sich nicht beeindrucken.

»Fräulein Liebherz, du hast selbst erklärt, dass sie keine Chem besitzen. Du kannst sie nicht befreien. Ich bestimme, dass sie bloße Werkzeuge sind, und da sie sich als Diener der Stadt betrachten, werde ich sie als solche behandeln.« Er hob beide Hände, um den allgemeinen Aufruhr zu beschwichtigen, und fuhr fort: »Sie werden nicht verkauft, und sie werden mit Sorgfalt behandelt, wie man es mit Werkzeugen tun sollte. Sie werden zum Nutzen der Stadt arbeiten und ...«

»Nein, das wäre eine schrecklich schlechte Idee!« Ein Mann im weißen Kittel kämpfte sich durch die Menge nach vorn. Auf dem Kopf trug er einen gelben Südwester.

»Und du bist...?«, fragte Vetinari.

Die Gestalt nahm die Kapuze ab, blickte sich um und erstarrte. Mit Mühe entrang sich seiner Kehle ein leises Stöhnen.

»Bist du nicht Hubert Dylea?«, sagte Vetinari. Huberts Gesicht behielt den starren Ausdruck des Erschreckens bei, sodass Vetinari in freundlicherem Tonfall hinzufügte: »Brauchst du etwas Zeit, um über meine letzte Frage nachzudenken?«

»Ich ... habe ... gerade ... erst... gehört...«, begann Hubert. Er betrachtete die mehreren hundert Gesichter und blinzelte.

»Herr Dylea, der Alchimist des Geldes?«, sagte Vetinari. »Vielleicht steht dein Name irgendwo auf deiner Kleidung.«

»Ich glaube, ich kann hier aushelfen«, sagte Feucht und kämpfte sich zum sprachlosen Wirtschaftsexperten durch.

»Hubert«, sagte er und legte dem Mann eine Hand auf die Schulter, »all diese Leute sind hier, weil sie von deiner erstaunlichen Theorie hören wollen, die die Unratsamkeit des Vorhabens untermauert, diese neuen Golems als Arbeitskräfte zu nutzen. Du willst sie doch nicht enttäuschen, oder? Ich weiß, dass du nur wenig mit anderen Leuten zu tun hast, aber hier hat schon jeder von deiner wunderbaren Arbeit gehört. Kannst du ihnen helfen, das zu verstehen, was du gerade in den Raum gerufen hast?«

»Wir sind sehr gespannt«, sagte Lord Vetinari.

In Huberts Kopf wurde die grässliche Angst vor Menschenmassen vom Drang überwältigt, den Unwissenden zur Erkenntnis zu verhelfen, und das waren alle außer ihm. Seine Hände griffen nach den Aufschlägen seiner Jacke. Er räusperte sich.

»Nun, das Problem ist, dass die Golems, wenn man sie als Arbeitskräfte betrachtet, in der Lage sind, jeden Tag die Arbeit von einhundertzwanzigtausend Menschen zu erledigen.«

»Stellt euch nur vor, was sie alles für die Stadt tun könnten!«, sagte Herr Kuhschlick von der Ingenieursgilde.

»Oh ja. Zunächst einmal würden sie einhundertzwanzigtausend Bürger der Stadt arbeitslos machen«, sagte Hubert, »aber das wäre erst der Anfang. Sie brauchen keine Nahrung, keine Kleidung, keine Unterkünfte. Die meisten Menschen geben ihr Geld für Nahrung, Unterkunft, Kleidung, Unterhaltung und - nicht zu vergessen - Steuern aus. Wofür würden diese Golems es ausgeben? Die Nachfrage nach vielen Waren würde sinken, was weitere Arbeitslosigkeit zur Folge hätte. Wirtschaft ist ein Kreislauf, wie ihr sicherlich wisst. Das Geld fließt, und dabei erzeugt es Vermögen.«

»Du scheinst darauf hinauszuwollen, dass diese Geschöpfe uns arm machen würden!«, sagte Vetinari.

»Zumindest hätten wir ... schwere Zeiten zu erwarten«, sagte Hubert.

»Und welche Maßnahmen würdest du vorschlagen, Herr Dylea?«

Hubert sah den Lord verdutzt an. »Ich weiß es nicht, Herr. Ich wusste nicht, dass ich auch noch eine Lösung finden sollte.«

»Jede andere Stadt würde uns angreifen, wenn sie diese Golems hätte«, sagte Lord Witwenmacher, »und auf deren Arbeitsmarktlage müssen wir nun wirklich keine Rücksicht nehmen, nicht wahr? Also wäre die eine oder andere kleine Eroberung doch völlig in Ordnung, oder?«

»Vielleicht ein Reichlein?«, sagte Vetinari säuerlich. »Wir benutzen unsere Sklaven dazu, uns weitere Sklaven zu machen? Aber wollen wir uns der ganzen Welt mit Waffen entgegenstellen? Denn darauf würde es letztendlich hinauslaufen. Das Beste, worauf wir hoffen können, wäre, dass ein paar von uns überleben. Das Schlimmste wäre, dass wir triumphieren. Triumphieren und verrotten. Das ist die Lektion der Geschichte, Lord Witwenmacher. Sind wir nicht schon reich genug?«

Damit löste er einen weiteren Aufruhr aus.

Feucht schlängelte sich unbemerkt zwischen den aufgebrachten Menschen hindurch, bis er Dr. Hicks und seine Truppe erreicht hatte, die sich immer noch auf dem Rückweg zum großen Golem befanden.

»Kann ich mit euch kommen, bitte?«, fragte er. »Ich möchte etwas ausprobieren.«

Hicks nickte, doch während der Kreis auf die Straße hinausgetragen wurde, sagte er: »Ich glaube, Fräulein Liebherz hat schon alles probiert. Der Professor war jedenfalls sehr beeindruckt.«

»Es gibt etwas, das sie noch nicht ausprobiert hat. Vertrau mir. Apropos Vertrauen - wer sind diese Jungs, die die Decke tragen?«

»Meine Studenten«, sagte Hicks, der sich bemühte, den Kreis ruhig zu halten.

»Sie wollen freiwillig Nekro... äh, Postmortale Kommunikation studieren? Warum?«

»Anscheinend ist es gut, wenn man bei den Mädchen ankommen will«, seufzte Hicks. Es wurde leise gekichert.

»In einem nekromantischen Institut? Was sind das für seltsame Mädchen, bei denen sie ankommen?«

»Nein, es geht darum, dass sie nach dem Abschluss dieses schwarze Kapuzengewand und den Schädelring tragen dürfen. Ich glaube, jemand von ihnen hat dafür den Begriff >Schnecken-magnet< benutzt.«

»Aber ich dachte, Zauberer dürfen nicht heiraten.«

»Heiraten?«, sagte Hicks. »Oh, ich glaube nicht, dass sie daran gedacht haben.«

»Zu meiner Zeit haben wir das nie getan!«, rief Flett, der hin und her geschüttelt wurde, während sich die Studenten durch die Menge kämpften. »Kannst du nicht ein paar dieser Leute mit dem Schwarzen Feuer vernichten, Hicks? Du bist doch Nekromant, bei den sieben Höllen! Das heißt, dass du nicht nett zu den Leuten sein musst! Nachdem ich jetzt gesehen habe, was hier los ist, werde ich wohl etwas mehr Zeit im Institut verbringen!«

»Könnten wir kurz in Ruhe reden?«, flüsterte Feucht Dr. Hicks zu. »Die Jungs kommen doch auch allein zurecht, oder? Sag ihnen, dass wir uns beim großen Golem wiedertreffen.«

Er eilte davon und war nicht überrascht, als er feststellte, dass Hicks sich beeilte, ihn wieder einzuholen. Dann zerrte er den Nekromanten, der eigentlich gar keiner war, in die Deckung eines Hauseingangs und sagte: »Vertraust du deinen Studenten?«

»Bist du verrückt geworden?«

»Es ist nur so, dass ich da einen Plan habe, wie wir die Sache retten könnten. Der Nachteil wäre allerdings, dass Professor Flett dir im Institut nicht mehr zur Verfügung stehen würde.«

»Mit >nicht mehr zur Verfügung< meinst du ...?«

»Dass du ihn leider niemals Wiedersehen wirst«, sagte Feucht. »Ich weiß, dass das ein schwerer Schlag für dich wäre.«

Hicks hüstelte. »Ach du liebe Güte! Er wäre nie mehr in der Lage, mit uns in Verbindung zu treten?«

»Ich glaube nicht.«

»Bist du dir sicher?«, hakte Hicks nach. »Nicht die geringste Möglichkeit?«

»Ich bin mir ziemlich sicher.«

»Hm. Nun ja, das wäre in der Tat ein schwerer Schlag.«

»Ein schwerer, erschütternder Schlag«, pflichtete Feucht ihm bei.

»Ich möchte natürlich nicht, dass ihm etwas ... zustößt.«

»Auf gar keinen Fall«, sagte Feucht und verbiss sich das Lachen.

»Andererseits hat er letzten Endes ein langes, ausgefülltes Leben gehabt.«

»Sogar zwei davon«, sagte Feucht. »Wenn man es sich recht überlegt.«

»Was sollen wir denn tun?«, fragte Hicks, während in der Ferne der geisterhafte Professor die Studenten mit wütendem Geschrei beschimpfte.

»Gehe ich recht in der Annahme, dass es so etwas wie eine ... Zauberereintreibung gibt?«

»Was? Es ist uns verboten, so etwas zu tun! Das wäre ein schwerer Verstoß gegen die Universitätsregeln!«

»Aber es muss doch für irgendetwas gut sein, wenn man das schwarze Gewand und den Schädelring trägt, nicht wahr? Ich meine, deine Vorgänger würden sich in ihren düsteren Särgen umdrehen, wenn sie glauben müssten, dass du nicht zu der winzigen Unanständigkeit bereit bist, die ich im Sinn habe ...« Dann erklärte Feucht es ihm, in einem einzigen, ganz einfachen Satz.

Lautere Rufe und Flüche deuteten an, dass der tragbare Kreis wieder in ihre Nähe kam.

»Nun, Doktor?«, sagte Feucht.

Ein vielfältiges Ausdrucksspektrum wechselte sich in schneller Folge auf Dr. Hicks’ Gesicht ab. »Nun, ich würde meinen ...«

»Ja, Doktor?«

»Es wäre also genauso, als würde ich ihn in den Himmel schicken, richtig?«

»Genau! Ich selbst hätte es nicht besser formulieren können!«

»Jeder kann es besser als dieser Blödmann!«, sagte Flett genau hinter ihm. »Seit meiner Zeit ist es mit dieser Stadt ganz schön bergauf gegangen. Wollen wir doch mal sehen, was wir dagegen tun können!«

»Bevor du das tust, Professor, muss ich unbedingt mit dem Golem sprechen«, sagte Feucht. »Könntest du für mich übersetzen?«

»Könnte ich, werde ich aber nicht«, gab Flett zurück.

»Aber du hast auch schon versucht, Fräulein Liebherz zu helfen.«

»Sie ist hübsch! Warum sollte ich dir Wissen übereignen, dessen Erwerb mich ein ganzes Jahrhundert gekostet hat?«

»Zum Beispiel, weil es da drüben ein paar Idioten gibt, die mit diesen Golems einen Krieg anfangen wollen.«

»Das hätte immerhin eine drastische Verminderung der Anzahl der Idioten zur Folge.«

Der einsame Golem stand nun genau vor ihnen. Obwohl er kniete, befand sich sein Gesicht auf Feuchts Augenhöhe. Der Kopf drehte sich, um ihn mit leerem Blick anzusehen. Die Wachen jedoch, die rund um den Golem postiert waren, betrachteten Feucht mit tief empfundenem Misstrauen.

»Wir werden jetzt einen kleinen Zauber ausführen, meine Herren«, teilte Feucht ihnen mit.

Der verantwortliche Korporal machte den Eindruck, als würde er dieses Vorhaben nicht gutheißen. »Wir müssen ihn bewachen«, sagte er und musterte kritisch die schwarzen Gewänder und den schimmernden Professor Flett.

»Kein Problem, wir können auch von hier aus arbeiten«, sagte Feucht. »Bleibt bitte. Ich bin mir sicher, dass keine besondere Gefahr droht.«

»Gefahr?«, sagte der Korporal.

»Obwohl es vielleicht besser wäre, wenn ihr den Kreis etwas erweitert, um das Publikum fernzuhalten«, fuhr Feucht fort. »Schließlich möchten wir nicht, dass irgendjemandem in der Menge etwas zustößt. Könntet ihr sie vielleicht etwa einhundert Meter zurückdrängen?«

»Wir haben den Befehl hierzubleiben«, sagte der Korporal und musterte Feucht von oben bis unten. Dann senkte er die Stimme. »Ah, bist du nicht der Postminister?«

Feucht erkannte den Blick und den Tonfall sofort wieder. Na gut... »Ja, der bin ich«, sagte er.

Der Wächter sprach noch leiser. »Hättest du vielleicht, äh, zufällig eine von den Blauen ... ?«

»Da kann ich dir leider nicht helfen«, sagte Feucht schnell und griff in eine Tasche. »Aber zufällig habe ich hier eine sehr seltene grüne 20-Cent-Kohl-Marke mit dem sehr amüsanten >Fehldruck<, der letztes Jahr für ein wenig Wirbel gesorgt hat, wie du dich vielleicht erinnerst. Das ist die letzte, die ich noch habe. Ein rares Sammlerstück.«

Ein kleiner Umschlag erschien in seiner Hand. Genauso schnell verschwand er in der Hosentasche des Korporals.

»Wir dürfen nicht zulassen, dass den Passanten etwas zustößt«, sagte der Polizist, »also schlage ich vor, dass wir sie etwa einhundert Meter zurückdrängen.«

»Eine gute Idee«, sagte Feucht.

Ein paar Minuten später hatte Feucht den Platz für sich allein, weil die Wächter sehr schnell darauf gekommen waren, dass sie sich, je weiter sie das Publikum von der möglichen Gefahr wegdrängten, auch selbst von besagter Gefahr entfernten.

Und nun, dachte Feucht, kommt der Moment der Wahrheit. Nach Möglichkeit jedoch wurde daraus der Moment der plausiblen Lügen, da die meisten Leute damit besser zurechtkamen.

Die ähmianischen Golems waren größer und schwerer als diejenigen, die man normalerweise in der Stadt sah, aber sie waren auch schöner. Natürlich waren sie es - wahrscheinlich waren sie von Golems gemacht worden. Und ihre Erbauer hatten ihnen eine Andeutung von Muskeln gegeben - und ruhige, traurige Gesichter. Trotz der Wachleute hatten es die liebenswerten Kinder der Stadt in der letzten Stunde geschafft, diesem einen schwarzen Schnurrbart anzumalen.

Also ... gut. Nun zum Professor.

»Sag mir, Professor, gefällt es dir, tot zu sein?«, fragte er.

»Ob es mir gefällt? Wie könnte es einem gefallen, du Dummkopf?«, gab Flett zurück.

»Nicht viel Spaß?«

»Junger Mann, der Begriff >Spaß< ist auf die Existenz nach dem Tod nicht anwendbar«, sagte Flett.

»Und deswegen hältst du dich häufig im Institut auf?«

»Ja! Es ist schlimm, dass es heutzutage von Amateuren geführt wird, aber es ist immer irgendwas los.«

»Gewiss«, sagte Feucht. »Allerdings frage ich mich, ob jemandem mit deinen ... Interessen nicht besser gedient wäre, wenn er sich an einem Ort aufhalten würde, wo ständig etwas abgeht.«

»Ich verstehe nicht, was du damit andeuten willst.«

»Sag mir, Professor, hast du schon einmal vom Pink PussyCat Club gehört?«

»Nein, habe ich nicht. Katzen sind heutzutage für gewöhnlich nicht pink, soweit ich weiß.«

»Wirklich? Nun, dann möchte ich dir vom Pink PussyCat Club erzählen«, sagte Feucht. »Entschuldige uns bitte, Dr. Hicks.« Er winkte Hicks zu, der mit einem Zwinkern antwortete und sich mit seinen Studenten zur Menschenmenge zurückzog. Dann legte er einen Arm um die Phantomschultern des Professors. Es war etwas unbequem, den Arm so zu halten, wo es gar keine wirkliche Schulter gab, die ihn gestützt hätte, aber bei so einer Angelegenheit war Stil von entscheidender Bedeutung.

Eine Zeit lang flüsterten die beiden eindringlich miteinander, dann sagte Flett: »Du meinst, es ist... schlüpfrig?«

Schlüpfrig, dachte Feucht. Er ist wirklich schon sehr alt.

»Oh ja! Ich würde sogar sagen, dass es anzüglich ist.« »Zeigen sie dort ihre ... Fußknöchel?«, fragte Flett mit leuchtenden Augen.

»Fußknöchel«, sagte Feucht. »Ja, ja, ich glaube schon, dass sie das tun.« Bei den Göttern, ist er wirklich schon so alt?

»Die ganze Zeit?«

»Rund um die Uhr. Sie sind niemals bekleidet«, sagte Feucht. »Und manchmal drehen sie sich kopfüber um eine Stange. Glaub mir, Professor, für dich könnte die Ewigkeit dort einfach nicht lange genug dauern.«

»Und dafür möchtest du nur ein paar Worte übersetzt haben?«

»Ein kleines Glossar mit Anweisungen.«

»Und dann kann ich gehen?«

»Ja!«

»Ich habe dein Wort?«

»Vertrau mir. Ich werde es nur schnell Dr. Hicks erklären. Es könnte einen Moment dauern, ihn zu überzeugen.«

Feucht schlenderte zur kleinen Gruppe hinüber, die alles andere als Nekromanten waren. Die Antwort des Postmortalen Kommunikators fiel anders als erwartet aus.

»Ich bin mir nicht sicher, ob wir das Richtige machen, wenn wir ihn in einem Etablissement loslassen, wo an der Stange getanzt wird.«

»Niemand wird ihn sehen. Und er kann niemanden berühren. Wie ich hörte, legt man dort großen Wert darauf, dass nichts berührt wird.«

»Ja, ich denke, er kann nicht mehr tun, als die jungen Damen zu begaffen.« Von den Studenten kam leises Gekicher.

»Na und? Sie werden dafür bezahlt, dass sie sich begaffen lassen«, sagte Feucht. »Sie sind professionelle Begaffte. Es ist ein Begaffungsbetrieb. Für Begaffer. Und du hast gehört, was im Palast los ist. Schon morgen könnte es Krieg geben. Vertraust du ihnen? Vertrau lieber mir.«

»Du benutzt dieses Wort ziemlich häufig, Herr Lipwig«, sagte Hicks.

»Ich bin eben sehr vertrauenswürdig. Kann es also losgehen?

Halt dich im Hintergrund, bis ich dich rufe, und dann kannst du ihn zu seiner letzten Ruhestätte bringen.«

In der Menge waren Leute mit Vorschlaghämmern. Es war alles andere als einfach, einen Golem zu zertrümmern, wenn er nicht zertrümmert werden wollte, aber Feucht wollte sie möglichst schnell von hier weghaben.

Es würde wahrscheinlich nicht funktionieren. Es war zu einfach. Aber Adora Belle hatte nicht daran gedacht, genauso wenig wie Flett. Der Korporal, der jetzt so tapfer die Menge zurückhielt, wäre darauf gekommen, aber ihn hatte niemand gefragt. Man musste nur ein wenig nachdenken.

»Komm schon, junger Mann«, sagte Flett, der sich immer noch dort befand, wo seine Träger ihn zurückgelassen hatten. »Bringen wir es hinter uns.«

Feucht atmete einmal tief durch. »Sag mir, wie ich folgenden Satz sagen muss: >Vertraut mir und nur mir allein. Bildet Viererreihen und marschiert zehn Meilen mittwärts aus der Stadt. Geht langsam.«

»Hä hä. Du bist ein ganz Gerissener, Herr Lipschwick!«, sagte Flett, der nur noch Fußknöchel im Kopf hatte. »Aber es wird nicht funktionieren, weißt du. So etwas haben wir schon probiert.«

»Ich kann sehr überzeugend sein.«

»Ich versichere dir, dass es nicht funktionieren wird. Ich habe kein einziges Wort gefunden, auf das sie reagieren.«

»Professor, es geht nicht darum, was man sagt, sondern wie man es sagt. Früher oder später ist alles nur eine Frage des Stils.«

»Ha! Du bist ein Narr!«

»Ich dachte, wir hätten eine Vereinbarung, Professor. Und ich brauche auch noch ein paar andere Ausdrücke.« Er blickte sich zu den Golempferden um, die still wie Statuen dastanden. »Ein Wort, das ich benötige, wäre die Entsprechung von >Hü<, und wo wir schon dabei sind, auch >Brr<. Oder möchtest du gerne dorthin zurückkehren, wo man noch nie davon gehört hat, was eine junge Dame alles an einer Stange machen kann?«