Kapitel 6

Gefängnisausbruch - Die Aussicht auf ein Nierensandwich - Das Klopfen des Baders - Selbstmord durch Farbe und die Unratsamkeit desselben - Noch einmal Engel - Igor geht einkaufen - Der Nutzen einer zweiten Besetzung beim Hängen und einige Betrachtungen darüber - Geeignete Orte, um einen Kopf abzulegen - Feucht erwartet den Sonnenschein - Gehirntricks - »Wir brauchen größere Scheine« - Spaß mit Wurzelgemüse - Die Verlockung von Klemmbrettern - Die unmögliche Kommode

 

Auf dem Dach des Kittchens, des ältesten Gefängnisses der Stadt, war Feucht mehr als nur feucht. Er hatte den Punkt erreicht, wo man so nass war, dass man sich der Trockenheit schon wieder von der anderen Seite her nähern musste.

 

Vorsichtig hob er die letzte Öllampe von dem kleinen Semaphorturm auf das Flachdach und warf ihren Inhalt in die stürmische Nacht. Sie war sowieso nur halbvoll. Es war erstaunlich, dass sich überhaupt jemand die Mühe gemacht hatte, sie in einer solchen Nacht anzuzünden.

 

Er tastete sich zur Dachkante zurück und fand seinen Enterhaken wieder. Vorsichtig führte er ihn um die Zinne herum und ließ ihn an dem Seil zu dem unsichtbaren Boden hinunter. Nun konnte er sich an beiden Enden festhalten, während er sich abseilte. Unten zog er das Seil herunter und verstaute es zusammen mit dem Enterhaken unter dem Müll in der Gasse, obwohl beides innerhalb der nächsten Stunde oder so gestohlen würde.

 

Also gut. Und nun ...

 

Die Rüstung der Wache, die er aus dem Umkleideraum der Bank mitgenommen hatte, saß so eng wie ein Handschuh. Allerdings wäre es ihm lieber gewesen, wenn sie wie ein Helm und ein Brustpanzer gesessen hätte. Aber in Wirklichkeit sah das Ganze wahrscheinlich an seinem eigentlichen Besitzer auch nicht besser aus, der zurzeit in der glänzenden, aber unpraktischen Rüstung, die ihm von der Bank zur Verfügung gestellt wurde, durch die Korridore der Bank stolzierte. Es war allgemein bekannt, dass die Uniformen der Wache in Einheitsgröße nicht unbedingt jedem passten und dass Kommandeur Mumm keine Rüstungen mochte, die nicht aussahen, als hätten Trolle mehrmals darauf eingeschlagen. Er wollte gern demonstrieren, dass die Rüstungen ihre Aufgabe erfüllt hatten.

 

Feucht nahm sich etwas Zeit, um wieder zu Atem zu kommen, dann ging er bis zur großen schwarzen Tür und klingelte. Der Mechanismus ratterte und klirrte. Sie würden sich nicht beeilen, nicht in einer Nacht wie dieser.

 

Er war so nackt und angreifbar wie ein Hummerbaby. Er hoffte, dass er alle Punkte bedacht hatte, aber Punkte waren nun einmal ... wie hatte man es genannt, er hatte es bei einem Vortrag an der Universität gehört... ach ja. Punkte waren fraktal. Jeder Punkt enthielt viele weitere kleinere Punkte. Man konnte nie alle berücksichtigen. Vielleicht war der Wächter in der Bank zur Arbeit zurückgerufen worden und hatte seinen Spind leer vorgefunden. Jemand mochte gesehen haben, wie Feucht die Rüstung an sich genommen hatte, vielleicht war Janken verlegt worden ... Ach was, zum Henker damit! Wenn die Zeit drängte, musste man einfach das Glücksrad drehen und bereit sein, schnell wegzulaufen.

 

Oder, in diesem Fall, den schweren Türklopfer mit beiden Händen ergreifen und ihn zweimal kräftig betätigen. Er wartete, bis - nicht ohne Schwierigkeiten - die Klappe vor einer kleinen Sichtluke in der Tür zur Seite geschoben worden war.

 

»Was?«, sagte eine widerwillige Stimme, die aus einem düsteren Gesicht kam.

 

»Abholung eines Gefangenen. Heißt Janken.«

 

»Was? Es ist mitten in der verdammten Nacht!«

 

»Hab ein unterschriebenes Formular 37«, sagte Feucht stur.

 

Die Klappe vor der kleinen Luke wurde zugeknallt. Er wartete wieder im Regen. Diesmal dauerte es drei Minuten, bis die Luke erneut geöffnet wurde.

 

»Was?«, sagte eine neue Stimme, die in Misstrauen mariniert war.

 

Ach, sehr gut. Es war Bellister. Darüber war Feucht froh. Was er in dieser Nacht vor hatte, würde einigen der Wächter ziemlichen Ärger einbringen, und manche der Leute waren schon in Ordnung, vor allem die im Todestrakt. Aber Bellister war ein Schinder der alten Schule, ein Meister der kleinen Bösartigkeiten, einer der Wächter, die jede Gelegenheit nutzten, einem Gefangenen das Leben zur Hölle zu machen. Es reichte nicht, dass er einem in die Schale mit Haferschleim rotzte; er besaß nicht einmal den Anstand, es zu tun, wenn man ihn dabei nicht beobachten konnte. Auch die Schwachen und Verängstigten blieben von ihm nicht verschont. Und das Ganze hatte einen weiteren positiven Aspekt. Bellister hasste die Wache, und diese Ansicht beruhte auf Gegenseitigkeit. Das konnte man ausnutzen.

 

»Soll hier einen Gefangenen abholen«, beklagte sich Feucht. »Und stehe schon seit fünf Minuten im Regen rum!«

 

»Und das wirst du auch weiterhin tun, mein Sohn, und zwar genau so lange, bis ich bereit bin. Zeig mir den Wisch!«

 

»Da steht was von Janken, Eulrich«, sagte Feucht.

 

»Dann lass mich mal sehen!«

 

»Man hat mir gesagt, dass ich ihn erst rausrücken darf, wenn ihr mir den Gefangenen übergeben habt«, sagte Feucht mit perfekt gespielter Sturheit.

 

»Ach, Anwalt ist er auch noch! Na gut, Abel, lass unseren gelehrten Freund herein.«

 

Die Luke ging wieder zu, und nach einigem Klappern und Klirren wurde eine kleine Pforte geöffnet. Feucht trat hindurch. Drinnen auf dem Gelände regnete es genauso heftig wie draußen.

 

»Hab ich dich schon mal gesehen?«, fragte Bellister und sah ihn mit schief gelegtem Kopf an.

 

»Bin erst seit letzter Woche dabei«, sagte Feucht. Hinter ihm wurde die Tür wieder verriegelt. Das Scheppern der Bolzen hallte laut in seinem Kopf nach.

 

»Warum bist du nur einer?«, wollte Bellister wissen.

 

»Keine Ahnung, Herr. Da musst du meine Eltern fragen.«

 

»Mach dich nicht über mich lustig! Eine Gefangeneneskorte sollte immer aus zwei Männern bestehen.«

 

Feucht zuckte müde und völlig desinteressiert mit den Schultern. »Ist das so? Frag mich nicht. Mir hat man nur gesagt, dass er ein kleiner Pisser ist, der keinen Ärger machen wird. Du kannst es gerne nachprüfen, wenn du willst. Ich habe gehört, dass man ihn unverzüglich im Palast sehen will.«

 

Der Palast. Daraufhin änderte sich das Schimmern in den bösen kleinen Augen des Wärters. Wer einigermaßen bei Verstand war, stellte sich nicht quer, wenn es um den Palast ging. Und für diese undankbare Aufgabe irgendeinen beschränkten Neuling in einer Nacht wie dieser loszuschicken ergab ebenfalls Sinn. Es war genau das, was auch Bellister getan hätte.

 

Er streckte die Hand aus und verlangte: »Formular!«

 

Feucht reichte ihm das dünne Papier. Der Mann las es, wobei sich seine Lippen sichtlich bewegten, offenkundig fest entschlossen, irgendeinen Fehler zu entdecken. Doch da war nichts, ganz gleich, wie sehr er darauf starrte. Feucht hatte eine Handvoll Formulare eingesteckt, während Herr Rolle ihm eine Tasse Kaffee gemacht hatte.

 

»Er wird morgen Früh gehängt«, sagte Bellister und hielt den Zettel unter eine Laterne. »Was haben sie jetzt mit ihm vor?«

 

»Keine Ahnung«, sagte Feucht. »Kannst du mal einen Zahn zulegen? In zehn Minuten fängt meine Pause an.«

 

Der Wärter beugte sich vor. »Nur aus diesem Grund, mein Freund, werde ich die Sache überprüfen. Nur ein Mann als Eskorte? Schließlich kann man gar nicht vorsichtig genug sein, nicht wahr?«

 

Nun gut, dachte Feucht. Alles lief nach Plan. Er wird die nächsten zehn Minuten bei einer netten Tasse Tee verbringen, nur um mir eine Lektion zu erteilen, dann fünf Minuten brauchen, um festzustellen, dass die Klacker nicht funktionieren, ungefähr eine Sekunde, um zu entscheiden, dass er mächtig Ärger bekommt, wenn er in einer Nacht wie dieser nach dem Fehler sucht, eine weitere Sekunde, um zu überlegen, dass das Papier in Ordnung ist, dass er das Wasserzeichen überprüft hat und dass das die Hauptsache ist... insgesamt also zirka zwanzig Minuten.

 

Natürlich konnte er sich auch irren. Es konnte sonst was dazwischenkommen. Bellister trommelte vielleicht gerade einige seiner Kollegen zusammen, oder er schickte jemanden durch den Hinterausgang, um nach einem richtigen Polizisten zu suchen. Die Zukunft war ungewiss. In wenigen Sekunden konnte er entlarvt werden.

 

Besser ließ es sich nicht machen.

 

Bellister dehnte die Angelegenheit auf zweiundzwanzig Minuten aus. Langsame Schritte näherten sich, dann tauchte Janken auf, unter dem Gewicht der Ketten wankend, während Bellister ihn immer wieder mit seinem Knüppel antrieb. Dem kleinen Mann war es nicht möglich, schneller zu gehen, aber er wurde trotzdem angetrieben.

 

»Ich glaube, die Fesseln brauche ich nicht«, sagte Feucht.

 

»Du bekommst sie auch gar nicht«, sagte der Wärter. »Und zwar, weil ihr Mistkerle sie nie zurückbringt!«

 

»Na gut«, sagte Feucht. »Bringen wir es hinter uns. Hier draußen ist es arschkalt.«

 

Bellister grunzte. Er war kein glücklicher Mensch. Er bückte sich, schloss die Fußfesseln auf und erhob sich wieder, wobei er erneut eine Hand auf die Schulter des Mannes legte. Dann strecke er die andere Hand vor, in der er ein Klemmbrett hielt.

 

»Unterschreiben!«, befahl er. Feucht gehorchte.

 

Dann kam der magische Moment. Deswegen war der Papierkram so wichtig, in dieser schmutzigen Welt der Gefängniswärter und verhinderten Folterknechte, weil es immer nur um das habeas corpus ging: Wessen Hand hielt die Kette? Wer war für diesen Corpus verantwortlich?

 

Feucht hatte die Prozedur schon einmal durchgemacht, und zwar als betreffender Corpus, und kannte sich damit aus. Der Gefangene bewegte sich auf einer Spur aus Formularen. Falls er irgendwann ohne Kopf aufgefunden wurde, würde die letzte Person, die für ihn unterschrieben hatte, als er den Hut noch nicht auf dem Hals tragen musste, ein paar ernsthafte Fragen beantworten müssen.

 

Bellister stieß den Gefangenen zu Feucht und bellte die altehrwürdige Formel: »Für dich, Herr! Habe Arsch Korbschuss!«

 

Feucht gab ihm das Klemmbrett zurück und legte die freie Hand auf Eulrichs andere Schulter. »Von dir, Herr!«, erwiderte er. »Ich hab seinen Arsch!«

 

Bellister brummte und zog seine Hand zurück. Die Übergabe war vollzogen, das Gesetz war befolgt worden, der Ehre war Genüge getan, und Eulrich Janken ...

 

... blickte traurig zu Feucht auf, versetzte ihm einen kräftigen Tritt in den Unterleib und flitzte wie ein Hase über die Straße davon.

 

Während Feucht sich vor Schmerzen krümmte, war das Einzige, was aus der Außenwelt zu ihm vordrang, Bellisters brüllendes Gelächter und sein Ruf: »Jetzt ist er dein Vogel, mein Herr! Jetzt habest du ihn!«

 

Feucht hatte es geschafft, wieder normal zu gehen, als er zu dem kleinen Zimmer zurückkehrte, das er von Ich-weiß-nicht-Jack gemietet hatte. Er zwängte sich in den goldenen Anzug, rieb die Rüstung trocken, stopfte sie in den Beutel, trat auf die Straße hinaus und eilte zurück zur Bank.

 

Es war schwieriger, wieder hineinzukommen, als nach draußen zu gelangen. Die Wachen wurden zu dem gleichen Zeitpunkt abgelöst, zu dem das Personal Feierabend machte, und im allgemeinen Getümmel war Feucht mit dem schäbigen grauen Anzug, den er immer dann trug, wenn er nicht mehr Feucht von Lipwig, sondern der unauffälligste Mensch der Welt sein wollte, ungefragt hinausspaziert. Eigentlich war die Sache völlig klar: Die Leute von der Nachtwache fingen an zu bewachen, wenn alle nach Hause gegangen waren. Also waren Personen, die nach Hause gingen, kein Problem, oder wenn doch, dann nicht ihres.

 

Der Wachmann, der schließlich nachsehen kam, wer sich bemühte, die Eingangstür aufzuschließen, machte ihm leichte Schwierigkeiten, bis ein zweiter Wachmann, der zumindest über eine bescheidene Intelligenz verfügte, darauf hinwies, dass es völlig in Ordnung war, wenn der Bankdirektor um Mitternacht in seine Bank wollte. Er ist immerhin unser Chef, nicht wahr? Liest du keine Zeitung? Siehst du nicht den goldenen Anzug? Außerdem hat er einen Schlüssel! Und warum sollte es ein Problem sein, wenn er einen großen, vollgestopften Beutel dabeihat? Immerhin kommt er damit herein, richtig? Wenn er damit hinausgehen würde, wäre das vielleicht etwas anderes - ha ha, nur ein kleiner Scherz, Herr, Entschuldigung, war nicht böse gemeint, Herr ...

 

Es war erstaunlich, was man alles tun kann, wenn man nur die Nerven hat, es zu probieren, dachte Feucht, als er den Männern eine gute Nacht wünschte. Zum Beispiel hatte er so eifrig mit dem Schlüssel im Schloss herumhantiert, weil es ein Schlüssel vom Postamt war. Für die Bank hatte er noch gar keinen.

 

Selbst die Rüstung in den Spind zurückzulegen war kein Problem. Die Wachen gingen ihre festen Runden, und das Gebäude war groß und nicht sehr gut beleuchtet. Der Umkleideraum war leer und wurde mehrere Stunden am Stück nicht bewacht.

 

In seiner neuen Suite brannte noch eine Lampe. Herr Quengler schnarchte auf dem Rücken liegend mitten in seinem Ablagekorb. Eine Nachtlampe brannte neben der Schlafzimmertür. Eigentlich waren es sogar zwei Lichter, und zwar die roten, glühenden Augen von Gladys.

 

»Möchtest Du, Dass Ich Dir Ein Sandwich Mache, Herr Lipwig?«

 

»Nein, vielen Dank, Gladys.«

 

»Es Wäre Kein Problem. Im Kühlraum Sind Noch Nieren.«

 

»Vielen Dank, aber wirklich nicht, Gladys. Ich habe überhaupt keinen Hunger«, sagte Feucht und schloss vorsichtig die Tür.

 

Er legte sich aufs Bett. Hier oben schien es, als wäre es im Gebäude völlig still. Er hatte sich an sein Bett im Postamt gewöhnt, in dem immer Geräusche aus dem Hof zu hören waren.

 

Aber es war nicht die Stille, die ihn wachhielt. Er starrte zur Decke hinauf und dachte: Zu blöd, wirklich zu blöd! In einigen Stunden wurden die Wärter im Kittchen abgelöst. Sie würden sich nicht allzu sehr darüber wundern, dass Eulrich fehlte, bis der Henker auftauchte. Dann würde eine gewisse Hektik ausbrechen, während man entschied, wer zum Palast ging, um sich zu erkundigen, ob vielleicht die Möglichkeit bestand, noch heute Vormittag den Gefangenen zu hängen.

 

Der Mann wäre längst über alle Berge, und nicht einmal ein Werwolf würde ihn in einer nassen und windigen Nacht wie dieser verfolgen können. Feucht konnte man nichts anhängen, aber im kalten feuchten Licht der tiefen Nacht um zwei Uhr Früh konnte er sich vorstellen, wie der verdammte Kommandeur Mumm über die Sache nachgrübelte und sie in seinem Dickkopf hin und her wälzte.

 

Feucht blinzelte. Wohin würde der kleine Mann flüchten? Nach den Angaben der Wache gehörte er keiner Bande an. Er hatte einfach nur seine eigenen Briefmarken gemacht. Wer würde die Mühe auf sich nehmen, Briefmarken im Wert von einem halben Cent zu fälschen?

 

Wer wäre zu so etwas imstande ... ?

 

Feucht setzte sich auf. War es wirklich so einfach?

 

Nun, es konnte durchaus sein. Eulrich war verrückt genug, auf seine leicht verwirrte Art. Er hatte den Blick eines Menschen, der es schon vor langer Zeit aufgegeben hatte, die Welt außerhalb seiner Staffelei verstehen zu wollen, eines Menschen, für den es keine offenkundige Verbindung zwischen Ursache und Wirkung gab. Wo würde sich ein solcher Mann verstecken?

 

Feucht entzündete die Lampe und ging zum Wrack seines Kleiderschranks hinüber. Wieder entschied er sich für den schäbigen grauen Anzug. Für ihn war er mit sentimentalen Erinnerungen verknüpft; schließlich hatte man ihn darin gehängt. Und es war ein unauffälliger Anzug für einen unauffälligen Mann, wobei noch ein weiterer Vorteil hinzukam, dass er nämlich - im Gegensatz zu Schwarz - auch im Dunkeln nicht auffiel. Außerdem dachte Feucht weiter und ging in die Küche, um ein paar Staubtücher aus einem Schrank zu stehlen.

 

Der Korridor war recht gut durch die Lampen ausgeleuchtet, die alle paar Meter angebracht waren. Aber Lampen erzeugten auch Schatten, und in einem solchen, neben einer riesigen Vase aus der Ping-Dynastie von Hunghung, war Feucht nur noch etwas Graues im Grau.

 

Ein Wachmann ging mit heimtückisch leisen Schritten auf dem weichen Teppich vorbei. Als er sich entfernt hatte, eilte Feucht die Marmortreppe hinunter und verkroch sich hinter einer Topfpalme, die jemand dort aufzustellen für nötig gehalten hatte.

 

Alle Stockwerke der Bank öffneten sich zum Hauptsaal, der genauso wie im Postamt vom Boden bis zum Dach reichte. Manchmal, je nach Standort, konnte ein Wachmann in einem höheren Stockwerk das Stockwerk unter ihm sehen. Manchmal liefen die Wachen über nackten Marmor. Manchmal, in den oberen Stockwerken, überquerten sie kunstvoll geflieste Stellen, was wie Glockenschläge klang.

 

Feucht verharrte lauschend und versuchte sich in den Rhythmus der Patrouillen einzufinden. Es gab mehr, als er erwartet hatte. Kommt schon, Jungs, ihr seid für die Sicherheit zuständig! Was ist mit der traditionellen allnächtlichen Pokerrunde? Wisst ihr nicht, wie ihr euch zu benehmen habt?

 

Es war wie ein wunderbares Ratespiel. Viel besser als nächtliche Klettertouren, sogar noch besser als Extremniesen. Und das Allerbeste daran war: Wenn er erwischt wurde, tja, dann hatte er einfach nur die Sicherheit getestet! Gut gemacht, Jungs, ich bin euch nicht verborgen geblieben!

 

Aber er durfte nicht erwischt werden.

 

Ein Wachmann kam mit langsamen und bedächtigen Schritten die Treppe hoch. Dann beugte er sich über die Balustrade und zündete sich zu Feuchts Verärgerung einen Zigarettenstummel an. Feucht beobachtete ihn durch die Palmwedel, während er sich gemütlich gegen den Marmor lehnte und in den Hauptsaal hinunterschaute. Er war sich ziemlich sicher, dass die Wächter so etwas nicht tun sollten. Und schon gar nicht rauchend!

 

Nach ein paar nachdenklichen Zügen ließ der Wächter die Kippe fallen, trat sie aus und setzte seinen Weg die Treppe hinauf fort.

 

Zwei Gedanken kämpften in Feuchts Kopf um die Vorherrschaft. Der eine schrie etwas lauter: Er hat eine Armbrust! Schossen sie zuerst, damit sie später keine Fragen stellen mussten? Aber auch der zweite Gedanke machte sich hartnäckig mit vibrierender Entrüstung bemerkbar: Er hat die Kippe einfach auf dem Marmor ausgetreten! Diese großen Dinger aus Messing mit den Schalen voller weißem Sand stehen nicht ohne Grund überall herum, weißt du?

 

Als der Mann über ihm verschwunden war, lief Feucht den Rest der Treppe hinunter, rutschte auf seinen Schuhen, die er mit den Staubtüchern umwickelt hatte, über den polierten Marmorboden, fand die Tür, die zum Keller hinunterführte, öffnete sie schnell und erinnerte sich gerade noch rechtzeitig daran, sie möglichst leise wieder zuzumachen.

 

Er schloss die Augen und wartete auf Rufe oder Geräusche, die darauf hindeuteten, dass man ihn entdeckt hatte.

 

Er öffnete die Augen.

 

Er sah das gewohnte helle Licht am anderen Ende der Krypta, aber er hörte kein Wasserrauschen. Nur ein gelegentliches Tröpfeln unterstrich die Tiefe der ansonsten allumfassenden Stille.

 

Feucht ging vorsichtig am Blupper vorbei, der leise klirrte, und wagte sich weiter in die unerkundete Dunkelheit hinter den wunderbaren Kurven und Wölbungen vor.

 

Wenn wir ihn bauen, wirst du dann kommen?, dachte er. Aber der erhoffte Gott würde nie kommen. Es war traurig, aber in himmlischer Hinsicht auch etwas blöd. Natürlich. Feucht hatte gehört, dass es vielleicht Millionen von kleinen Göttern gab, die in der Welt herumtrieben. Sie lebten unter Steinen, wurden wie Pusteblumensamen herumgeweht, klammerten sich an den höchsten Baumästen fest... Und sie alle warteten auf den großen Moment, den glücklichen Durchbruch, der schließlich zu einem eigenen Tempel samt Priesterschaft und Anhängern führte. Aber hierher war niemand gekommen, und es war leicht zu erkennen, warum.

 

Götter brauchten Glauben, keinen rationalen Verstand. Wenn man zuerst einen Tempel baute, war es, als würde man einem Mann ohne Beine wunderschöne Schuhe schenken. Einen Tempel zu bauen bedeutete nicht, dass man an Götter glaubte. Es bedeutete nur, dass man an Architektur glaubte.

 

Etwas, das einer Werkstatt ähnlich war, befand sich am hinteren Ende der Krypta, rund um einen großen und uralten Kamin. Ein Igor arbeitete über eine helle blauweiße Flamme gebeugt und verbog vorsichtig ein Glasrohr. Hinter ihm wogte und sprudelte grüne Flüssigkeit in riesigen Flaschen. Igors schienen eine natürliche Affinität zu Blitzen zu haben. Man konnte einen Igor leicht erkennen. Sie gaben sich sogar alle Mühe, als solche erkannt zu werden. Es waren nicht nur die muffigen, staubigen alten Anzüge, nicht einmal der gelegentliche Extrafinger oder die ungleichen Augen. Es war der Umstand, dass man ihnen wahrscheinlich einen Ball auf den Kopf legen konnte, ohne dass er herunterfiel.

 

Der Igor blickte auf. »Guten Morgen, Herr. Bift du ...?«

 

»Feucht von Lipwig«, sagte Feucht. »Und du dürftest Igor sein.«

 

»Inf Fwartfe getroffen, Herr. Ich habe fon viele gute Fachen über dich gehört.«

 

»Hier unten?«

 

»Ich habe immer ein Ohr am Fufboden, Herr.«

 

Feucht widerstand dem Drang, nach unten zu blicken. Igors und Metaphern vertrugen sich nicht besonders gut miteinander.

 

»Nun, Igor ... die Sache ist die ... ich möchte jemanden in die Bank bringen, ohne die Wächter damit zu belästigen, und ich hatte mich gefragt, ob es hier unten vielleicht eine weitere Tür nach draußen gibt.«

 

Was er nicht sagte, was aber im Äther zwischen ihnen übertragen wurde, war: Du bist ein Igor, richtig? Und wenn der Mob die Sicheln schärft und versucht, durch die Tür zu brechen, wäre der Igor längst nicht mehr da. Igors waren Meister darin, sich unauffällig zu entfernen.

 

»Ef gibt da eine kleine Tür, die wir benupfen, Herr. Fie läfft fich nicht von aufen öffnen, alfo wird fie nie bewacht.«

 

Feucht blickte sehnsüchtig auf das Regenzeug am Kleiderständer. »Gut. Sehr gut. Dann springe ich nur mal schnell nach draußen.«

 

»Du bifft der Boff, Herr.«

 

»Und ich werde in Kürze mit einem Begleiter wieder hereinspringen. Äh, einem Herrn, der nicht gerade darauf erpicht ist, den Vertretern der Staatsgewalt über den Weg zu laufen.«

 

»Kein Problem, Herr. Gib ihnen eine Miftgabel, und fie glauben, daff ihnen allef gehört, Herr.«

 

»Aber er ist kein Mörder oder so etwas.«

 

»Ich bin ein Igor, Herr. Wir ftellen keine Fragen.«

 

»Wirklich? Warum nicht?«

 

»Ich weif ef nicht, Herr. Hab nie danach gefragt.«

 

Igor führte Feucht zu einer kleinen Tür, hinter der eine schmutzige, mit Müll übersäte Treppe begann, die halb vom unermüdlichen Regen überflutet war. Feucht hielt auf der Schwelle inne, wo das Wasser bereits seinen billigen Anzug durchnässte. »Eins noch, Igor ...«

 

»Ja, Herr?«

 

»Als ich vorhin am Blupper vorbeigegangen bin, war Wasser drin.«

 

»Aber ja, Herr. Ift daf ein Problem?«

 

»Es hat sich bewegt, Igor. Sollte das zu dieser Nachtstunde geschehen?«

 

»Daf? Ach, daf find nur fiphonife Variablen, Herr. Daf paffiert ftändig.«

 

»Ach so, die Syphonik! Na, das erleichtert mich sehr ...«

 

»Mach einfach daf Klopfen def Baders nach, wenn du pfurückkommft, Herr.«

 

»Wie klopft der ...?«

 

Die Tür schloss sich.

 

Drinnen kehrte Igor an die Werkbank zurück und drehte die Gasflamme wieder auf.

 

Einige der kleinen Glasröhrchen, die neben ihm auf einem Stück grünem Filz lagen, sahen ... merkwürdig aus. Sie reflektierten das Licht auf irritierende Weise.

 

Das Besondere an den Igors ... die Sache mit den Igors ... Nun, die meisten Leute bemerkten nicht mehr als den muffigen Anzug, das strähnige Haar, die kosmetischen Sippennarben und das Lispeln. Und das lag vermutlich daran, dass es, abgesehen vom Lispeln, gar nicht mehr zu sehen gab.

 

Und deshalb vergaß man leicht, dass die meisten Leute, die Igors beschäftigten, nicht im herkömmlichen Sinne normal waren. Wenn man sie bat, einen Sturmattraktor und ein paar Blitzspeichergefäße zu bauen, lachten sie einen aus.5  Sie brauchten dringend jemanden, der über ein voll funktionsfähiges Gehirn verfügte, und jeder Igor hatte garantiert eins davon. Igors waren sogar sehr intelligent, was der Grund war, warum sie immer woanders waren, wenn mit Fackeln Feuer an die Windmühle gelegt wurde.

 

Und sie waren Perfektionisten. Wenn man sie bat, eine Maschine zu bauen, bekam man nicht das, worum man gebeten hatte. Man bekam das, was man wirklich wollte.

 

Im Netzgeflecht der Spiegelungen bluppte der Blupper. Wasser stieg in einem Glasröhrchen empor und tropfte in einen kleinen Glasbecher, der sich langsam neigte, eine winzige Wippe in Bewegung setzte und dadurch ein Ventil öffnete.

 

Eulrich Jankens derzeitiger Wohnsitz befand sich gemäß der Times in der Kurzen Gasse. Es gab keine Hausnummer, weil die Kurze Gasse gerade lang genug für eine Eingangstür war. Die fragliche Tür war geschlossen, hing aber nur noch an einem Scharnier. Ein schwarz-gelb gestreiftes Stück Seil zeigte all jenen, die den Hinweis an der Tür nicht bemerkt hatten, dass die Wache vor kurzem auf dieses Haus aufmerksam geworden war.

 

Die Tür fiel aus dem Scharnier, als Feucht dagegendrückte, und kippte in den Sturzbach, der durch die Gasse strömte.

 

Die Suche war nicht besonders anstrengend, da Eulrich sich gar nicht die Mühe gemacht hatte, sich zu verstecken. Er hielt sich in einem Zimmer im ersten Stock auf, umgeben von Spiegeln und Kerzen, und malte mit verträumter Miene.

 

Er ließ den Pinsel fallen, als er Feucht sah, griff sich eine Farbtube, die auf einem Tisch lag, und hielt sie sich vor den Mund, bereit zum Abdrücken und Schlucken.

 

»Zwing mich nicht, das hier zu benutzen! Zwing mich nicht dazu!«, rief er, während er am ganzen Körper zitterte.

 

»Ist das so etwas wie Zahnpasta?«, fragte Feucht. Er prüfte schnuppernd die recht verlebte Luft im Studio und fügte hinzu: »Das wäre vielleicht ganz hilfreich, weißt du.«

 

»Das ist Uba-Gelb, die giftigste Farbe der Welt! Tritt zurück, oder ich werde auf schreckliche Weise sterben!«, sagte der Fälscher. »Äh, die allergiftigste Farbe ist wahrscheinlich Achatenes Weiß, aber die ist mir ausgegangen, was äußerst ärgerlich ist.« Dann schien Eulrich in den Sinn zu kommen, dass sein Tonfall nicht mehr zur Drohung passte, und sofort hob er die Stimme wieder. »Aber das Gelb ist immer noch ziemlich giftig!«

 

Ein begabter Amateur kann eine Menge aufschnappen, und Feucht hatte sich schon immer sehr für Gifte interessiert. »Eine Arsenverbindung, nicht wahr?«, sagte er. Jeder wusste, was Achatenes Weiß war. Von Uba-Gelb hatte er noch nie gehört, aber Arsen gab es in vielen hübschen Farbtönen. Nur nicht den Pinsel ablecken.

 

»Es ist wirklich eine schreckliche Todesart«, fuhr Feucht fort. »Man zerschmilzt praktisch, und das über mehrere Tage.«

 

»Ich gehe nicht zurück! Auf keinen Fall!«, kreischte Eulrich.

 

»Früher hat man es dazu benutzt, die Haut weißer zu machen«, sagte Feucht und rückte ein wenig näher.

 

»Zurück! Ich benutze es! Ich schwöre!«

 

»Daher kommt der Begriff >todschick<«, sagte Feucht und machte den letzten Schritt.

 

Er packte Eulrich, der sich die Tube in den Mund stieß. Feucht zog sie heraus, drängte die klammen kleinen Hände des Fälschers zur Seite und untersuchte sie.

 

»Wie ich es mir gedacht habe«, sagte er und steckte die Tube in die Tasche. »Du hast vergessen, den Verschluss abzuschrauben. Diesen Fehler begehen Amateure immer wieder!«

 

Eulrich zögerte, dann sagte er: »Du meinst, es gibt Leute, die professionell Selbstmord begehen?«

 

»Hör mal, Herr Janken, ich bin hier, um ...«, begann Feucht.

 

»Ich werde nicht ins Gefängnis zurückgehen! Ich gehe nicht zurück!«, sagte der kleine Mann und wich zurück.

 

»Damit habe ich kein Problem. Ich möchte dir anbieten ...«

 

»Sie beobachten mich, musst du wissen«, warf Eulrich ein. »Die ganze Zeit.«

 

Aha. Das war immerhin ein wenig besser als Selbstmord durch Farbe, aber nur ein klein wenig.

 

»Äh ... du meinst, im Gefängnis?«, fragte Feucht, nur um ganz sicher zu gehen.

 

»Sie beobachten mich überall! Einer von ihnen ist genau hinter dir!«

 

Feucht zwang sich dazu, sich nicht umzudrehen, weil in dieser Richtung der Wahnsinn lauerte. Andererseits stand schon eine ganze Menge davon genau vor ihm.

 

»Es tut mir leid, das zu hören, Eulrich. Deshalb ...«

 

Er zögerte, und dann dachte er: Warum nicht? Bei ihm hatte es schließlich auch funktioniert.

 

»Deshalb werde ich dir etwas über Engel erzählen«, sagte er.

 

Die Leute behaupteten, dass es mehr Gewitter gab, seit die Igors in der Stadt lebten. Jetzt donnerte es nicht mehr, aber der Regen fiel, als wollte er es die ganze Nacht lang tun.

 

Etwas davon strömte über Feuchts Stiefel, als er vor der unauffälligen Nebentür der Bank stand und sich daran zu erinnern versuchte, wie ein Bader klopfte.

 

Ach ja. Es war die altbekannte Abfolge, die so ging: Tock-tock to-Tock-tock - Tock-tock!

 

Oder um es anders auszudrücken: Rasieren und Haare schneiden, Ohren frei!

 

Die Tür ging unverzüglich auf.

 

»Ich möchte mich entpfuldigen, daff die Tür nicht knarrt, Herr, aber die Farniere feinen einfach nicht...«

 

»Tu mir einfach nur den Gefallen und hilf mir hiermit, ja?«, sagte Feucht, der gebeugt unter dem Gewicht zweier schwerer Kisten dastand. »Das ist Herr Janken. Kannst du für ihn hier unten ein Bett herrichten? Und besteht vielleicht die Möglichkeit, etwas daran zu verändern, wie er aussieht?«

 

»Mehr alf du dir vorftellen kannft, Herr«, sagte Igor glücklich.

 

»Ich hatte an so etwas wie Rasieren und Haare schneiden gedacht. Das kannst du doch, oder?«

 

Igor bedachte Feucht mit einem geplagten Blick. »Ef ift wahr, daff Chirurgen theoretiff Mandeloperationen durchführen können ...«

 

»Nein, nicht seine Kehle anrühren, bitte!«

 

»Daff heifft, ja, ich kann ihm die Haare fneiden, Herr«, sagte Igor seufzend.

 

»Ich hatte eine Mandeloperation, als ich zehn war«, sagte Eulrich.

 

»Möchteft du noch eine?«, sagte Igor voller Hoffnung.

 

»Dieses wunderbare Licht!«, rief Eulrich, ohne auf das Angebot einzugehen. »Es ist wie am Tag!«

 

»Toll, nicht wahr?«, sagte Feucht. »Jetzt gönn dir etwas Schlaf, Eulrich. Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Morgen Früh wirst du die erste richtige Ein-Dollar-Banknote entwerfen, verstanden?«

 

Eulrich nickte, aber in Gedanken war er längst woanders.

 

»Du hilfst mir doch dabei, nicht wahr?«, sagte Feucht. »Eine Banknote, die so gut ist, dass niemand sonst sie nachmachen könnte. Ich habe dir meine Versuche gezeigt, ja? Natürlich weiß ich, dass du es viel besser kannst.«

 

Er sah den kleinen Mann nervös an. Er war nicht wahnsinnig, da war sich Feucht ziemlich sicher, aber es bestand kein Zweifel, dass sich die Welt für ihn größtenteils ganz woanders abspielte.

 

Eulrich hielt inne, während er seine Kiste auspackte. »Ähm ... ich kann mir nichts ausdenken«, sagte er.

 

»Wie meinst du das?«, fragte Feucht.

 

»Ich weiß nicht, wie man sich etwas ausdenkt«, sagte Eulrich und starrte einen Pinsel an, als würde er darauf warten, dass er eine Melodie pfiff.

 

»Aber du bist ein Fälscher! Deine Briefmarken sehen besser aus als unsere!«

 

»Äh, ja. Aber ich habe nicht deine ... Ich wüsste nicht, womit ich anfangen sollte ... ich meine, ich brauche etwas als Vorlage ... ich meine, wenn ich etwas habe, kann ich ...«

 

Es muss etwa vier Uhr sein, dachte Feucht. Vier Uhr! Ich hasse es, wenn es am Tag zweimal vier Uhr ist...

 

Er schnappte sich ein Stück Papier aus Eulrichs Kiste und zog einen Schreibstift hervor. »Also«, sagte er, »du fängst so an ...«

 

Wie denn?

 

»Pracht«, sagte er dann, »Pracht und Stabilität, wie die Fassade der Bank. Viele kunstvolle Schnörkel, die schwer zu kopieren sind. Ein ... Panorama, eine Stadtansicht... Ja, Ankh-Morpork! Es geht nur um die Stadt! Dazu Vetinaris Kopf, weil man das einfach erwartet, und eine große Eins, damit die Botschaft verstanden wird. Ach ja, das Wappen, das brauchen wir unbedingt. Und hier unten« - der Stift kritzelte schnell - »Platz für die Unterschrift des Bankdirektors, entschuldige, ich meine natürlich seinen Pfotenabdruck. Auf der Rückseite ... nun ja, jetzt geht es um die Details, Eulrich. Irgendein Gott würde sicherlich Eindruck machen. Einer der fröhlicheren. Wie hieß noch gleich dieser Gott mit dem Dreizack? Auf jeden Fall so einer wie er. In ganz feinen Strichen, Eulrich, so wollen wir es haben. Ach ja, und ein Schiff. Ich mag Schiffe. Schreib auch auf die Rückseite, dass das Ganze einen Dollar wert ist. Ahm ... ach ja, ein bisschen mystisches Zeug kann auch nicht schaden. Die Leute glauben schließlich an alles, wenn es nur alt und geheimnisvoll genug klingt. >Strahlet nicht ein Cent für die Witwe heller denn die unbesiegte Sonne<?«

 

»Was soll das bedeuten?«

 

»Ich habe nicht den leisesten Schimmer«, sagte Feucht. »Ich habe es mir gerade ausgedacht.« Er zeichnete noch eine Weile weiter, bis er Eulrich den Zettel zuschob. »Etwas in dieser Art«, sagte er. »Probier es einfach. Glaubst du, dass du daraus was machen kannst?«

 

»Ich werde es versuchen«, versprach Eulrich.

 

»Gut. Ich schaue mor... später noch einmal vorbei. Igor wird sich so lange um dich kümmern.«

 

Eulrich starrte bereits ins Nichts. Feucht zog Igor beiseite.

 

»Nur Rasieren und Haare schneiden, ja?«

 

»Wie du wünft, Herr. Gehe ich recht in der Annahme, daff diefer Herr nicht mit der Wache aneinandergeraten möchte?«

 

»Richtig.«

 

»Kein Problem, Herr. Könnte ich eine Namenfänderung vorpflagen?«

 

»Gute Idee. Hast du eine?«

 

»Ich mag den Namen Klemme, Herr. Und alf Vorname kommt mir fpontan Ekforbit in den Finn.«

 

»Wirklich? Woher ist dieser Geistesblitz plötzlich gekommen? Nein, sag es mir nicht. Exorbit Klemme ...« Feucht zögerte, aber wozu sollte er sich in dieser späten Nachtstunde streiten? Vor allem, wenn es schon so früh am Morgen war. »Also heißt er jetzt Exorbit Klemme. Sorg dafür, dass er den Namen Janken völlig vergisst«, fügte Feucht hinzu, mit - wie er später erkannte - eindeutigem Mangel an Voraussicht, was die gegebenen Umstände betraf.

 

Feucht schlich sich wieder hinauf bis zu seinem Bett, ohne ein einziges Mal in Deckung gehen zu müssen. Kein Wachmann ist in den frühen Morgenstunden in Bestform. Außerdem war das Gebäude sicher verschlossen, nicht wahr? Niemand würde hineinkommen.

 

Unten im kryptischen Gewölbe starrte der ehemals als Eulrich bekannte Künstler auf Feuchts Skizzen und spürte, wie sein Gehirn zu brodeln begann. Es stimmte, dass er im strengen Sinne kein Wahnsinniger war. Er war sogar in gewisser Hinsicht sehr gut bei Verstand. Eine Welt, die viel zu hektisch, kompliziert und unverständlich war, um sich damit auseinandersetzen zu können, hatte er auf eine kleine Blase reduziert, die gerade groß genug für ihn und seine Palette war. Da drinnen war es nett und still. All der Lärm war weit weg, und sie konnten ihn nicht ausspionieren.

 

»Herr Igor?«, sagte er.

 

Igor blickte von einer Kiste auf, in der er gekramt hatte. In den Händen hielt er etwas, das wie ein Metallsieb aussah. »Wie kann ich dir pfu Dienften fein, Herr?«

 

»Kannst du mir ein paar alte Bücher besorgen, mit Bildern von Göttern und Schiffen und vielleicht mit Stadtansichten?«

 

»Aber ficher, Herr. Im Hohen Flag gibt ef einen antiquarifen Buchhändler.« Igor legte das Metallgerät beiseite, zog einen ramponierten Lederbeutel unter dem Tisch hervor und legte nach kurzer Überlegung einen Hammer hinein.

 

Selbst in der Welt des neugeborenen Herrn Klemme war es immer noch so spät in der Nacht, dass es viel zu früh am Morgen war. »Äh, ich bin mir sicher, dass es Zeit hat, bis es hell geworden ist«, sagte er.

 

»Ach, ich gehe immer nachtf einkaufen, Herr«, sagte Igor. »Wenn ich ef auf Fnäppchen abgefehen habe.«

 

Feucht wachte viel zu früh auf, als Herr Quengler auf seinem Brustkorb stand und sehr laut mit seinem Gummiknochen quietschte. Daraufhin wurde Feucht ausgiebig besabbert.

 

Hinter Herrn Quengler stand Gladys. Und hinter ihr zwei Männer in schwarzen Anzügen.

 

»Seine Lordschaft ist einverstanden, dich zu sprechen, Herr Lipwig«, sagte einer der beiden in recht fröhlichem Tonfall.

 

Feucht versuchte sich den Sabber vom Revers zu wischen, erreichte damit aber nur, dass der Anzug nun glänzte.

 

»Will ich mit ihm sprechen?«

 

Einer der Männer lächelte.

 

»Oh jaaa

 

»Eine Hinrichtung macht mich immer hungrig«, sagte Lord Vetinari, während er sorgsam ein hart gekochtes Ei bearbeitete. »Geht es dir nicht genauso?«

 

»Ähm ... ich bin bisher nur einmal gehängt worden«, sagte Feucht. »Und da hatte ich keinen besonderen Appetit.«

 

»Ich glaube, es liegt an der kühlen frühmorgendlichen Luft«, sagte Vetinari, der seine Erwiderung offenbar gar nicht gehört hatte. »Sie regt eindeutig den Appetit an.«

 

Zum ersten Mal sah er Feucht an und setzte eine besorgte Miene auf. »Ach du liebe Güte, du isst ja gar nicht, Herr Lipwig! Du musst aber etwas essen! Du siehst angeschlagen aus. Ich hoffe doch, dass dir deine Arbeit nicht über den Kopf wächst!«

 

Irgendwo auf dem Weg zum Palast muss ich in eine andere Welt eingetreten sein, dachte Feucht. Etwas in dieser Art musste passiert sein. Es war die einzige Erklärung.

 

»Äh, wer wurde überhaupt gehängt?«, fragte er.

 

»Eulrich Janken, der Fälscher«, sagte Vetinari und widmete sich wieder der chirurgischen Trennung von Eiweiß und -gelb. »Drumknott, vielleicht möchte Herr Lipwig etwas Obst. Oder diesen den Magen zerschlitzenden Brei aus Getreide und Nüssen, den du so gerne zu dir nimmst.«

 

»In der Tat, Herr«, sagte der Sekretär.

 

Vetinari beugte sich vor, als wollte er Feucht auffordern, sich einer Verschwörung anzuschließen: »Ich glaube, der Koch bereitet Bücklinge für die Wachen zu. Sehr kräftigend. Du siehst wirklich blass aus. Findest du nicht, dass er blass aussieht, Drumknott?«

 

»Nicht nur blass, sondern fast schon bleich, Herr.«

 

Es war, als würde einem langsam Säure ins Ohr geträufelt. Feucht dachte hektisch nach, aber das Beste, was ihm einfiel, war: »War es eine gut besuchte Hinrichtung?«

 

»Nicht sehr«, sagte Vetinari. »Ich glaube, sie wurde nicht gut genug beworben. Außerdem hatte sein Verbrechen nichts mit eimerweise Blut zu tun. Das ist es, was die Menge zu Begeisterungsstürmen hinreißt. Aber Eulrich Janken war da, oh ja. Er hat keine einzige Kehle durchschnitten, aber trotzdem hat er die Stadt ausbluten lassen, Tropfen für Tropfen.«

 

Vetinari hatte sämtliches Eiweiß entfernt und aufgegessen und das Eigelb unberührt schimmernd übrig gelassen.

 

Was hätte ich getan, wenn ich Vetinari wäre und festgestellt hätte, dass mein Gefängnis zur Lachnummer geworden ist? Es gibt nichts Besseres als Gelächter, um Autorität zu zerstören, dachte Feucht. Aber viel wichtiger war, was er getan hätte, wenn er er gewesen wäre, was er natürlich nicht war ...

 

Klar, man hängte einfach jemand anderen. Man suchte sich irgendeinen Schurken von ungefähr gleicher Größe aus, der im Bau auf den Hanfseiltango wartete, und schloss mit ihm einen Handel ab. Nun gut, er würde in jedem Fall baumeln, allerdings unter dem Namen Eulrich Janken. Dann gab man die Nachricht aus, dass der Ersatzmann begnadigt worden, aber leider durch einen Unfall oder so ums Leben gekommen war, und seine liebe alte Mama oder seine Frau und Kinder bekamen einen anonymen Beutel voller Knete und mussten nicht die ganze Schande ertragen.

 

Und dann würde die Menge ihre Hinrichtung bekommen. Bellister würde mit etwas Glück eine neue Anstellung finden, vielleicht als Spucknapfwäscher, und der Gerechtigkeit - oder etwas in der Art - wäre Genüge getan. Die Botschaft würde ankommen, dass Verbrechen gegen die Stadt nur von jenen in Erwägung gezogen werden sollten, die einen Hals aus Gußeisen hatten, und selbst dann nur vielleicht.

 

Feucht wurde sich bewusst, dass er sich den Hals rieb. Manchmal wachte er nachts auf, sogar jetzt noch, unmittelbar nachdem sich unter seinen Füßen die Leere geöffnet hatte ...

 

Vetinari sah ihn an. Sein Gesichtsausdruck war zwar nicht gerade ein Lächeln, aber Feucht hatte das kribbelnde Gefühl im Nacken, dass, wenn er versuchte, wie Vetinari zu denken, Seine Lordschaft diesen Gedanken folgte und wie eine große schwarze Spinne auf einem Bananenbüschel überall herumhuschte, wo er eigentlich nichts zu suchen hatte.

 

Dann traf ihn die Gewissheit wie ein Schlag. Eulrich wäre ohnehin nicht gestorben. Nicht mit einer solchen Begabung. Er wäre durch die Klappe in ein neues Leben gefallen, genauso wie Feucht. Er wäre aufgewacht und hätte das Engelangebot erhalten, was für Eulrich ein nettes, helles Zimmer gewesen wäre, dazu drei Mahlzeiten am Tag, die prompte Leerung seines Nachttopfs und so viel Farbe, wie er brauchte. Aus Eulrichs Perspektive wäre es der Himmel gewesen. Und Vetinari... hätte den besten Fälscher der Welt bekommen, der nun für die Stadt arbeitete.

 

Oh, verdammt! Ich bin ihm in die Quere gekommen. Ich bin Vetinari in die Quere gekommen!

 

Die orange-goldene Kugel des verschmähten Eigelbs schimmerte auf Vetinaris Teller.

 

»Machen deine wunderbaren Pläne für das Papiergeld Fortschritte?«, sagte Seine Lordschaft. »Ich höre sehr viel darüber.«

 

»Was? Oh, ja. Äh, ich hätte gerne deinen Kopf auf dem Ein-Dollar-Schein, bitte.«

 

»Aber natürlich. Ein guter Platz für einen Kopf, wenn man all die anderen Stellen bedenkt, wo man einen Kopf ablegen könnte.«

 

Zum Beispiel auf einem Spieß, ja. Er braucht mich, dachte Feucht, als er die Drohung, die eigentlich gar keine war, verstanden hatte. Aber wie sehr?

 

»Hör mal, ich ...«

 

»Möglicherweise kann dein fruchtbarer Geist mir helfen, ein kleines Rätsel zu lösen, Herr Lipwig.« Vetinari tupfte sich die Lippen ab und schob seinen Stuhl zurück. »Folge mir, bitte. Drumknott, hol den Ring, bitte. Und natürlich die Zange, für alle Fälle.«

 

Er trat hinaus auf den Balkon, gefolgt von Feucht, und lehnte sich mit dem Rücken zur dunstigen Stadt gegen die Brüstung.

 

»Es ist immer noch sehr bewölkt, aber ich glaube, die Sonne wird jeden Augenblick durchbrechen, meinst du nicht auch?«, sagte er.

 

Feucht blickte zum Himmel auf. Irgendwo in den Dunstschwaden war ein blassgelber Fleck zu erkennen. Was hatte der Mann vor?

 

»Ja, bestimmt schon sehr bald«, sagte er vorsichtig.

 

Der Sekretär reichte Vetinari ein kleines Kästchen.

 

»Das ist der Kasten für deinen Siegelring«, sagte Feucht.

 

»Sehr gut, Herr Lipwig. Wie immer von guter Beobachtungsgabe! Nimm ihn.«

 

Vorsichtig nahm Feucht den Ring mit zwei Fingern auf. Er war schwarz und fühlte sich seltsam organisch an. Das V schien ihn anzustarren.

 

»Kommt dir daran irgendetwas ungewöhnlich vor?«, fragte Vetinari und beobachtete ihn sehr genau.

 

»Er fühlt sich warm an«, sagte Feucht.

 

»Ja, nicht wahr?«, sagte Vetinari. »Das liegt daran, dass er aus Stygium besteht. Gewöhnlich wird es als Metall bezeichnet, aber ich hege die starke Vermutung, dass es sich um eine Legierung handelt, und zwar eine, die auf magische Weise zusammengefügt wurde. Die Zwerge finden es gelegentlich in der Loko-Region, und es ist außerordentlich teuer. Eines Tages werde ich eine Abhandlung über diese faszinierende Geschichte schreiben, doch vorläufig will ich darüber nur sagen, dass es normalerweise nur für jene von Interesse ist, die sich aus Neigung oder aufgrund ihres Lebensstils hauptsächlich im Dunkeln bewegen - und natürlich für jene, die ein Leben ohne Gefahr nicht sehr lebenswert finden. Es kann töten, musst du wissen. Im direkten Sonnenlicht heizt es sich innerhalb weniger Sekunden bis zu einer Temperatur auf, die Eisen zum Schmelzen bringt. Niemand weiß, warum es das tut.«

 

Feucht blickte zum dunstigen Himmel auf. Das gut durchgebratene Spiegelei der Sonne verschwand wieder hinter einer Wolkenbank. Der Ring wurde kühler.

 

»Gelegentlich kommt unter jungen Assassinen die Mode auf, Stygiumringe zu tragen. Üblicherweise ziehen sie tagsüber einen schwarzen Handschuh über den Ring. Es geht um das Risiko, Herr Lipwig. Es geht darum, mit dem Tod in der Hosentasche zu leben. Ich schwöre, dass es Menschen gibt, die dem Reiz nicht widerstehen können, einen Tiger am Schwanz zu ziehen. Leute, denen mehr an kühler Eleganz liegt als an der Gefahr, ziehen natürlich einfach den Handschuh darüber. Wie dem auch sei, jedenfalls wurde vor knapp zwei Wochen der einzige Mann in der Stadt, der einen Stygiumvorrat besitzt und weiß, wie man es bearbeitet, spät nachts ermordet. Der Mörder hat anschließend eine Pfefferminzbombe gezündet. Was glaubst du, wer es getan hat?«

 

Ich werde nicht aufblicken, dachte Feucht. Das ist nur ein Spiel. Er will, dass ich ins Schwitzen komme. »Was wurde mitgenommen?«, fragte er.

 

»Die Wache weiß es nicht, weil, nun ja, das, was mitgenommen wurde, eben nicht mehr da ist.«

 

»Also gut, was wurde zurückgelassen?«, sagte Feucht und dachte: Auch er blickt nicht zum Himmel auf ...

 

»Einige Edelsteine und ein paar Unzen Stygium im Tresor«, sagte Vetinari. »Du hast gar nicht gefragt, wie der Mann ermordet wurde.«

 

»Wie wurde ...?«

 

»Mit einer Armbrust in den Kopf geschossen. Im Sitzen. Ist das aufregend, Herr Lipwig?«

 

»Also ein Killer«, sagte Feucht verzweifelt. »Es wurde geplant. Er hat irgendwelche Schulden nicht bezahlt. Vielleicht war er ein Hehler und hat versucht zu betrügen. Wir haben nicht genug Informationen!«

 

»Die hat man nie«, sagte Vetinari. »Mein Scheitelkäppchen kommt mit kaum merklichen Veränderungen aus der Reinigung zurück, und ein junger Mann, der dort arbeitet, stirbt bei einer Schlägerei. Ein ehemaliger Gärtner des Palasts kommt mitten in der Nacht hierher, um Drumknotts ziemlich abgetragene alte Stiefel zu kaufen. Warum? Vielleicht werden wir es niemals erfahren. Warum wurde vergangenen Monat ein Porträt von mir aus der Königlichen Kunstgalerie gestohlen? Wer hätte einen Nutzen davon?«

 

»Äh, warum wurde das Stygium im Tresor zurückgelassen?«

 

»Gute Frage. Der Schlüssel befand sich in der Hosentasche des Toten. Welches Motiv steckt also dahinter?«

 

»Nicht genug Informationen! Rache? Sollte er zum Schweigen gebracht werden? Vielleicht hat er etwas hergestellt, was er nicht hersteilen sollte. Kann man aus diesem Zeug einen Dolch machen?«

 

»Aha, ich glaube, jetzt wirst du warm, Herr Lipwig. Es geht nicht um eine Waffe, weil Stygium in einer Menge, die die eines Rings übersteigt, zur spontanen Explosion neigt. Aber er war ein durchaus raffgieriger Mann, das ist wahr.«

 

»Haben sie sich wegen irgendwas gestritten?«, fragte Feucht. Ja, mir wird langsam warm, danke schön! Und wozu die Zange? Um den Ring aufzuheben, nachdem er mir aus der Hand gefallen ist?

 

Das Licht wurde stärker. Er konnte schwache Schatten an der Wand erkennen, spürte, wie ihm der Schweiß über den Rücken lief...

 

»Eine interessante Überlegung. Gib mir bitte den Ring zurück«, sagte Vetinari und hielt ihm das Kästchen hin.

 

Ha! Also war das alles nur eine Show, um mir Angst zu machen, dachte Feucht und warf den verdammten Ring in den Kasten. Bisher hatte er noch nie von Stygium gehört! Vetinari musste sich das alles ausgedacht haben ...

 

Er spürte die Hitze und sah, wie der Ring aufglühte, als er in das Kästchen fiel. Der Deckel wurde zugeklappt und hinterließ ein rötliches Loch in Feuchts Sichtfeld.

 

»Bemerkenswert, nicht wahr?«, sagte Vetinari. »Nebenbei bemerkt finde ich, dass es eine unnötige Dummheit von dir war, ihn die ganze Zeit in der Hand zu halten. Ich bin kein Ungeheuer, musst du wissen.«

 

Nein, Ungeheuer spielen dem Gehirn anderer Leute keine Streiche, dachte Feucht. Zumindest nicht, solange sie sich noch innerhalb des Kopfes befinden ...

 

»Ahm, was Eulrich betrifft, ich hatte nicht die Absicht...«, begann er, doch Vetinari hob die Hand.

 

»Ich weiß nicht, wovon du redest, Herr Lipwig. Eigentlich habe ich dich nur in deiner Eigenschaft als Quasi-Stellvertreter des Direktors der Königlichen Bank zu einem Gespräch mit mir eingeladen. Ich möchte, dass du mir - das heißt, der Stadt - eine halbe Million Dollar zu zwei Prozent leihst. Natürlich steht es dir frei, mir diese Bitte abzuschlagen.«

 

So viele Gedanken hetzten zum Notausgang in Feuchts Gehirn, dass schließlich nur noch ein einziger übrig blieb.

 

Wir brauchen dringend größere Scheine ...

 

Feucht eilte zur Bank und geradewegs zur kleinen Tür unter der Treppe. Normalerweise hielt er sich gern in der Krypta auf. Dort war es kühl und ruhig, abgesehen vom Gurgeln des Bluppers und den Schreien.

 

Mit dem letzten Punkt stimmte etwas nicht, oder?

 

Das rosafarbene Gift unfreiwilliger Schlaflosigkeit schwappte in seinem Kopf herum, als er ein weiteres Mal schneller lief.

 

Der ehemalige Eulrich saß auf einem Stuhl und schien glatt rasiert zu sein, abgesehen von einem kleinen Spitzbart. Auf seinem Kopf war so etwas wie ein Metallhelm befestigt worden, von dem Drähte zu einem leuchtenden und klickenden Apparat hinunterführten, für den nur ein Igor das nötige Verständnis aufbringen würde. Die Luft roch nach Gewitter.

 

»Was tust du diesem armen Mann an?«, schrie Feucht.

 

»Ich verändere fein Bewufftfein, Herr«, sagte Igor und zog einen großen Hebel herunter.

 

Der Helm summte. Klemme blinzelte. »Es kitzelt«, sagte er. »Und aus irgendeinem Grund schmeckt es nach Erdbeeren.«

 

»Du jagst ihm einen Blitz in den Kopf!«, rief Feucht. »Das ist barbarisch!«

 

»Nein, Herr. Barbaren find pfu fo etwaf gar nicht fähig«, sagte Igor ruhig. »Ich nehme aufflieflich die flimmen Erinnerungen herauf und fpeichere fie ...« Damit zog er ein Tuch beiseite, das einen großen Behälter mit grüner Flüssigkeit verborgen hatte, in der sich etwas Rundes befand, an dem weitere Drähte befestigt waren. »... hier drinnen.«

 

»Du überträgst seinen Verstand in eine ... Zuckerrübe?«

 

»Ef handelt fich um eine Fteckrübe, Herr«, sagte Igor.

 

»Es ist erstaunlich, wozu sie in der Lage sind, nicht wahr?«, sagte eine Stimme neben Feuchts Ellbogen. Er schaute hinunter.

 

Herr Klemme, nun ohne Helm, blickte freudestrahlend zu ihm auf. Er wirkte wie neu und hellwach, wie ein Schuhverkäufer der gehobenen Klasse. Igor war sogar eine Transplantation des Anzugs gelungen.

 

»Geht es dir gut?«, fragte Feucht.

 

»Bestens!«

 

»Wie hat... es sich angefühlt?«

 

»Schwer zu beschreiben«, sagte Klemme. »Aber es klang wie der Geruch von Himbeergeschmack.«

 

»Tatsächlich? Na gut, dann wird wohl alles in Ordnung sein. Und es geht dir wirklich gut? Auch tief drinnen?«, fragte Feucht und wartete auf den grausamen Rückschlag. Er musste einfach kommen. Aber Eulr..., äh, Exorbit sah glücklich und zufrieden aus und schien voller Schwung zu sein, bereit, dem entgegenzutreten, was das Leben ihm vor die Füße warf, und es mit einem Tritt aus dem Weg zu räumen.

 

Als Igor seine Drähte aufwickelte, hatte er einen sehr selbstgefälligen Ausdruck auf dem, was unter all den Narben vermutlich sein Gesicht war.

 

Feucht verspürte schmerzhafte Gewissensbisse. Er war ein Junge aus Überwald, er war wie jeder andere den Vilinus-Pass heruntergekommen, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen - beziehungsweise, um vom Verdienst anderer Leute zu leben -, und er hatte kein Recht, die beliebten Vorurteile der Tieflandbewohner gegen die Sippe der Igors zu übernehmen. Schließlich setzten sie doch nur in die Tat um, woran viele Priester angeblich glaubten: dass der Körper lediglich ein recht schwerer Anzug aus billigem Stoff war, der als Bekleidung für die unsichtbare, unvergängliche Seele diente, und deshalb konnte es doch nicht schlimm sein, einzelne Stücke wie Ersatzteile auszutauschen, jedenfalls nicht schlimmer, als ein Geschäft für gebrauchte Kleidung zu führen. Für die Igors war es immer wieder erstaunlich und verletzend, dass die Leute nicht erkannten, wie vernünftig und vorausschauend so etwas war, zumindest bis zu dem Moment, wenn ihnen mal die Axt ausrutschte und sie jemanden brauchten, der ihnen ganz schnell eine Hand reichte. In solchen Momenten war sogar ein Igor attraktiv.

 

Ansonsten waren Igors meist bloß ... nützlich. Mit ihrer Unempfindlichkeit gegen Schmerz, ihren wunderbaren Mitteln zur Wundheilung und der faszinierenden Fähigkeit, sich selbst mit Hilfe eines Handspiegels zu operieren, waren sie sehr wohl etwas anderes als ein untersetzter Butler, den man einen Monat lang im Regen hatte stehen lassen. Igorinas sahen ausnahmslos hinreißend aus, aber es gab unvermeidlich das eine oder andere Detail — eine hübsch geschwungene Narbe unter einem Auge, einen dekorativen Ring aus genähten Stichen rund um das Handgelenk -, das sie unverwechselbar machte. Das konnte irritierend sein, aber ein Igor hatte sein Herz immer am rechten Fleck. Oder zumindest ein Herz.

 

»Äh, nun ja ... gut gemacht, Igor«, stieß Feucht mit Mühe hervor. »Bist du also bereit, es jetzt mit der Dollarnote zu probieren, Herr ... äh ... Klemme?«

 

Das Lächeln von Herrn Klemme war wie Sonnenstrahlen. »Schon fertig!«, verkündete er. »Hab sie heute Früh gezeichnet!«

 

»Unmöglich!«

 

»Aber sicher! Komm her und sieh selbst!« Der kleine Mann ging zu einem Tisch hinüber und nahm ein Blatt Papier in die Hand.

 

Die Banknote schimmerte in Purpur und Gold. Sie verstrahlte geradezu Geld. Es schien wie ein kleiner Zauberteppich über dem Papier zu schweben. Es raunte von Reichtum und Geheimnis und Tradition ...

 

»Wir werden haufenweise Geld machen!«, sagte Feucht. Und zwar schnellstens, fügte er in Gedanken hinzu. Wir müssen mindestens 600 000 davon drucken, sofern ich keine größeren Einheiten einführen kann.

 

Aber da war sie, so schön, dass man hätte weinen können, dass man möglichst viele davon haben und sich in die Brieftasche stecken wollte.

 

»Wie hast du das so schnell geschafft?«

 

»Also, ein Großteil ist einfach nur Geometrie«, sagte Herr Klemme. »Herr Igor war so freundlich, mir ein kleines Gerät zu bauen, das mir sehr geholfen hat. Natürlich ist der Entwurf noch nicht fertig, und mit der Rückseite habe ich noch gar nicht angefangen. Ich glaube, das werde ich jetzt machen, solange ich noch frisch bin.«

 

»Du meinst, du kannst es noch besser machen?«, sagte Feucht voller Ehrfurcht in Gegenwart eines Genies.

 

»Ich fühle mich so energiegeladen!«, sagte Klemme.

 

»Das dürfte am elektrischen Fluidum liegen, würde ich meinen«, sagte Feucht.

 

»Nein, ich meine, dass ich ganz deutlich sehe, was noch getan werden muss! Vorher war alles nur eine schreckliche Last, die ich stemmen musste, aber nun ist alles klar und leicht!«

 

»Es freut mich, das zu hören«, sagte Feucht, obwohl er sich nicht ganz sicher war, ob das stimmte. »Entschuldige mich bitte, ich muss jetzt meine Bank führen.«

 

Er eilte unter den Bögen hindurch und betrat den Hauptsaal durch die unauffällige Tür gerade rechtzeitig, um beinahe mit Beuge zusammenzustoßen.

 

»Ach, Herr Lipwig, ich hatte mich schon gefragt, wo du bist ...«

 

»Geht es um etwas Wichtiges, Herr Beuge?«

 

Der Hauptkassierer wirkte beleidigt - als würde er Feucht jemals mit Dingen belästigen, die nicht wichtig waren.

 

»Vor dem Münzamt stehen viele Männer«, sagte er. »Mit Trollen und Karren. Sie behaupten, du hättest den Auftrag gegeben« - Beuge erschauderte - »dort eine Druckmaschine aufzubauen!«

 

»Richtig«, sagte Feucht. »Sie sind von Wimmler und Rolle. Wir müssen das Geld hier drucken. Das sieht offizieller aus, und wir können kontrollieren, was durch die Türen nach draußen geht.«

 

»Herr Lipwig! Du verwandelst diese Bank in einen ... einen Zirkus!«

 

»Tja, ich bin der Mann mit dem Zylinder, Herr Beuge, also bin ich wohl der Zirkusdirektor!« Er sagte es lachend, um für etwas bessere Laune zu sorgen, aber Beuges Gesicht verdunkelte sich plötzlich wie durch eine Gewitterwolke.

 

»Tatsächlich, Herr Lipwig? Wer hat dir erzählt, dass der Zirkus dem Zirkusdirektor gehört? Du befindest dich im Irrtum, Herr! Warum schließt du die anderen Anteilseigner von allen Entscheidungen aus?«

 

»Weil sie nicht wissen, worum es bei einer Bank geht. Komm mit mir zur Münze, ja?« Er durchquerte den Hauptsaal, wobei er den Schlangen ausweichen oder sich hindurchwinden musste.

 

»Aber du weißt, worum es bei einer Bank geht, Herr?«, sagte Beuge, während er ihm mit seinen ruckhaften Flamingoschritten folgte.

 

»Ich lerne es gerade. Warum steht vor jedem Angestellten eine Schlange?«, wollte er wissen. »Das bedeutet, dass die ganze Schlange warten muss, wenn ein Kunde sehr viel Zeit beansprucht. Die Leute werden seitwärts von einer Schlange in die andere wechseln, und als Nächstes haben wir hier jemanden mit einer bösen Kopfwunde. Lass sie eine große Schlange bilden und sag den Leuten, dass sie zum nächsten freien Schalter gehen sollen. Die Leute haben kein Problem mit einer langen Schlange, solange sie sehen, dass sie in Bewegung bleibt - Entschuldigung, Herr!«

 

Das sagte er zu einem Kunden, den er versehentlich angerempelt hatte. Der Mann fand das Gleichgewicht wieder, sah Feucht grinsend an und sagte mit einer Stimme aus der Vergangenheit, die eigentlich hätte begraben bleiben sollen: »Na so was! Wenn das nicht mein alter Freund Albert ist! Du hast dich richtig gut durchgemogelt, was?« Der Fremde spuckte die Worte durch schlecht sitzende Zähne aus. »Du in deinem glitschernden Antschug!«

 

Feuchts ganzes Leben zog vor seinem inneren Auge vorbei. Dazu musste er sich nicht einmal der Mühe des Sterbens unterziehen, obwohl er sich fühlte, als würde er es tun.

 

Es war Krippling! Es konnte nur Krippling sein!

 

Feuchts Erinnerungen versetzten ihm einen Schlag nach dem anderen. Die Zähne! Diese verdammten falschen Zähne! Sie waren der ganze Stolz dieses Mannes. Er hatte sie aus dem Mund eines Greises gerissen, den er ausgeraubt hatte, während der arme Teufel am Boden lag und vor Angst starb! Er hatte gescherzt, dass sie ihren eigenen Willen hatten! Und sie schlotterten und schlürften und sprangen heraus und passten so schlecht, dass sie sich einmal in seinem Mund umgedreht und ihm in den Schlund gebissen hatten! Er nahm sie immer wieder heraus und redete mit ihnen! Und, aaargh, die fleckigen Zähne waren furchtbar alt und aus Walrosselfenbein geschnitzt worden, und die Feder war so stark, dass sie manchmal seinen Kopf zurückdrückte und man ihm in die Nase schauen konnte!!

 

Alles kam ihm wieder hoch wie eine schlechte Auster.

 

Er war einfach nur Krippling. Niemand kannte seinen Vornamen. Feucht hatte sich einmal mit ihm zusammengetan, vor vielleicht zehn Jahren, und einen Winter lang hatten sie in Überwald die alte Schwindelnummer mit dem Erbe durchgezogen. Er war viel älter als Feucht und hatte immer noch das ernsthafte persönliche Problem, das bewirkte, dass er ständig nach Bananen roch.

 

Und er war ein übler Zeitgenosse. Profis hatten ihren Stolz. Es musste bestimmte Leute geben, die man nicht ausraubte, bestimmte Dinge, die man nicht stahl. Und man brauchte Stil. Wenn man keinen Stil hatte, schaffte man es nie.

 

Krippling hatte keinen Stil. Er war nur dann gewalttätig, wenn es wirklich keine andere Möglichkeit gab, aber der Mann hatte eine allgemeine, verdorbene, schmeichlerische Bösartigkeit an sich, die auf Feucht einen tiefen Eindruck gemacht hatte.

 

»Gibt es ein Problem, Herr Lipwig?«, sagte Beuge und sah Krippling böse an.

 

»Was? Oh ... nein ...«, sagte Feucht. Es ist eine Feuerprobe, dachte er. Das verdammte Bild in der Zeitung. Aber er kann nichts beweisen, er kann mir gar nichs nachweisen.

 

»Du befindest dich im Irrtum, Herr«, sagte Feucht und blickte sich um. Die Schlangen bewegten sich, und niemand achtete auf sie.

 

Krippling legte den Kopf schief und sah Feucht mit amüsiertem Blick an. »Irrtum, Herr? Könnte sein. Ich könnte mich irren. Das Leben auf der Straße, jeden Tag neue Kumpels kennen lernen, du weißt schon - na gut, du weißt es nicht, weil du ja gar nicht Albert Schpangler bist. Aber es ist schon komisch, weil du sein Lächeln hast, Herr. Ist schwierig, ein Lächeln zu ändern, und das Lächeln trägt man schotschuschagen vor dem Gesicht mit sich herum, als würde man von hinten durchgucken schlürf. Genauso wie das Lächeln des jungen Albert. Ein helles Köpfchen war er, und sehr, sehr schnell. Ich habe ihm alles beigebracht, was er weiß.«

 

... und das hat etwa zehn Minuten beansprucht, dachte Feucht, und ein Jahr, um einiges davon wieder zu vergessen. Du bist einer von den Leuten, wegen derer Kriminelle einen so schlechten Ruf haben ...

 

»Natürlich fragt man sich, Herr, ob die Katze das Mausen lassen kann. Kann dieser alte Schurke, den ich vor so vielen Jahren gekannt habe, aus dem Sumpf des Verbrechens auf den Pfad der Tugend gewechselt sein?« Er betrachtete Feucht und räumte ein: »Uppsch! Nein, natürlich kannst du das nicht, weil du mich ja noch nie zuvor gesehen hast. Aber ich wurde in Pseudopolis geschnappt, weißt du, wegen boshaften Herumlungerns in den Bau geworfen, und dort habe ich dann Om gefunden.«

 

»Warum? Was hat er getan?« Es war blöd, aber Feucht konnte es sich nicht verkneifen.

 

»Scherze nicht, Herr«, sagte Krippling ernst. »Ich bin ein anderer Mensch geworden. Es ist meine Aufgabe, die gute Nachricht weiterzugeben, Herr.« An dieser Stelle zog Krippling mit der Schnelligkeit einer Schlangenzunge eine zerbeulte Blechbüchse unter seiner schmuddeligen Jacke hervor. »Meine Verbrechen lasten wie Ketten aus heißem Eisen auf mir, Herr, wie Ketten, aber ich bin gewillt, mich davon zu entlasten, und zwar durch gute Taten und Bekenntnisse, wobei das letztere viel wichtiger ist. Ich muss mich noch von sehr viel entlasten, Herr, bevor ich wieder ruhig schlafen kann.« Er klapperte mit der Büchse. »Für die Kindchen, Herr?«

 

Das würde vielleicht besser funktionieren, wenn ich dich nicht schon früher bei dieser Masche beobachtet hätte, dachte Feucht. Der reumütige Dieb gehörte zweifellos zu den ältesten Schwindelnummern, die im Lehrbuch standen.

 

Er sagte: »Es freut mich, das zu hören, Herr Krippling. Es tut mir leid, dass ich nicht der alte Freund bin, den du erwartet hast. Ich möchte dir ein paar Dollar geben ... für die Kindchen.«

 

Die Münzen fielen klackernd auf den Boden der Büchse. »Vielen Dank, sehr freundlich von dir, Herr Spangler.«

 

Feucht ließ ein knappes Lächeln aufblitzen. »Ich erwähnte schon einmal, dass ich nicht Herr Spangler bin, Herr ...«

 

Ich habe ihn Krippling genannt! Gerade eben! Ich habe ihn Krippling genannt! Hat er mir seinen Namen gesagt? Hat er es gemerkt? Er muss es gemerkt haben!

 

»... Verzeihung, ich meinte, Ehrwürden«, stieß er hervor, und der durchschnittliche Zuhörer hätte niemals die winzige Pause und recht geschickte Rettung bemerkt. Aber Krippling war nicht durchschnittlich.

 

»Vielen Dank, Herr Lipwig«, sagte er, und Feucht hörte das langgezogene »Herr« und das süffisant abrupte »Lipwig«. Beides bedeutete »Erwischt!«.

 

Krippling zwinkerte Feucht zu und spazierte durch den Schaltersaal davon, begleitet vom Klappern seiner Büchse und den unterschiedlichsten grausamen Dentalgeräuschen.

 

»Wehe und dreimal wehe szss! dem Mann, der mit Worten schtiehlt, denn seine Zunge soll sich bis zum Gaumen schpalten tschock! Spendet ein paar Kupferlinge für die armen Waisenkinder schwisch! Brüder und Schweschtern! Jenen, die haben, tschwip! scholl gegeben werden, und tschwar groschtschügig ...«

 

»Ich werde die Wachen rufen«, sagte Herr Beuge entschieden. »Bettler sind in unserer Bank nicht erlaubt.«

 

Feucht hielt ihn am Arm fest. »Nein«, sagte er eindringlich, »nicht, wenn hier so viele Leute sind. Einen Mann des Glaubens abzuführen würde gar nicht gut aussehen. Ich glaube, er wird bald gehen.«

 

Nun lässt er mich schmoren, dachte Feucht, während sich Krippling nonchalant auf den Weg zur Tür machte. So ist er eben. Er wird es ausspielen. Dann wird er mich um Geld anhauen, immer und immer wieder.

 

Gut, aber was konnte Krippling beweisen? Andererseits ... war überhaupt ein Beweis nötig? Wenn er anfing, über Albert Spangler zu erzählen, konnte es schlimm werden. Würde Vetinari ihn den Wölfen zum Fraß vorwerfen? Durchaus möglich. Sogar recht wahrscheinlich. Man konnte seinen Hut darauf verwetten, dass er das Wiederauferstehungsspiel nicht ohne zahlreiche Notfallpläne durchzog.

 

Wenigstens blieb ihm noch etwas Zeit. Krippling würde sich nicht sofort auf seine Beute stürzen. Er sah seinem Opfer gern dabei zu, wie es sich vor Angst wand.

 

»Ist mit dir alles in Ordnung?«, fragte Beuge.

 

Feucht kehrte soeben in die Wirklichkeit zurück. »Was? Oh. Ja, alles klar«, sagte er.

 

»Du solltest solche Personen nicht ermutigen, sich hier aufzuhalten, weißt du.«

 

Feucht schüttelte sich. »Da hast du allerdings Recht, Herr Beuge. Gehen wir jetzt zur Münze, ja?«

 

»Ja, Herr. Aber ich warne dich, Herr Lipwig, diese Männer werden sich nicht durch nette Worte gewinnen lassen!«

 

»Inspektoren ...«, sagte Herr Schattig zehn Minuten später und bewegte das Wort wie ein Bonbon im Mund herum.

 

»Ich brauche Leute, die Respekt vor den großen Traditionen der Münze haben«, sagte Feucht und fügte nicht hinzu: der Tradition, die Münzen sehr, sehr langsam zu machen und sich Arbeit mit nach Hause zu nehmen.

 

»Inspektoren«, sagte Herr Schattig wieder. Hinter ihm hielten die Männer aus den Verschlägen ihre Mützen in den Händen und beobachteten Feucht mit starrem Blick. Nur wenn Herr Schattig sprach, starrten sie auf das Genick dieses Mannes.

 

Sie alle befanden sich in Herrn Schattigs offiziellem Verschlag, der wie ein Schwalbennest hoch oben an der Wand errichtet worden war. Immer, wenn sich jemand bewegte, knirschte es.

 

»Und natürlich werden einige von euch weiterhin gebraucht, um die Heimarbeit zu überwachen«, fuhr Feucht fort, »aber im Wesentlichen wird eure Aufgabe darin bestehen, dafür zu sorgen, dass Herrn Rolles Männer rechtzeitig eintreffen, sich anständig benehmen und die Sicherheitsvorschriften beachten.«

 

»Sicherheitsvorschriften«, sagte Herr Schattig, als wollte er den Geschmack des Wortes prüfen. Feucht sah ein böses Licht in den Augen der Männer aufflackern. Es bedeutete: Diese Mistkerle werden unsere Münze übernehmen, aber sie müssen an uns vorbeikommen, wenn sie nach draußen wollen. Ho ho!

 

»Und natürlich könnt ihr die Verschläge behalten«, sagte Feucht. »Ich habe Pläne für Gedenkmünzen und andere Stücke, sodass eure Fähigkeiten keineswegs überflüssig geworden sind. Ist das ein faires Angebot?«

 

Herr Schattig schaute sich zu seinen Kollegen um und blickte dann wieder zu Feucht. »Darüber würden wir gerne reden«, sagte er.

 

Feucht nickte ihm und dann Beuge zu und führte sie über die knarrende und wankende Treppe zum Boden der Münze hinunter, wo bereits die Bauteile der neuen Druckerpresse gestapelt wurden. Beuge erschauerte leicht, als er das sah.

 

»Das werden sie nicht akzeptieren, weißt du«, sagte er mit einem unverhohlenen Unterton der Hoffnung. »Sie haben ihre Arbeit seit Jahrhunderten auf die gleiche Art und Weise gemacht! Und sie sind Handwerker!«

 

»Das waren auch die Leute, die ihre Messer aus Feuerstein hergestellt haben«, sagte Feucht. In Wirklichkeit war er über sich selbst erstaunt. Es musste an der Begegnung mit Krippling liegen. Die hatte sein Gehirn auf Hochtouren gebracht. »Weißt du, ich habe es nicht gern, wenn Fähigkeiten ungenutzt verkommen«, sagte er, »aber ich werde ihnen bessere Gehälter zahlen, ich biete ihnen anständige Arbeit, und sie dürfen weiter die Verschläge nutzen. Ein solches Angebot bekommen sie nur einmal in hundert Jahren ...«

 

Jemand kam die schwankende Treppe herunter. Feucht erkannte den Mann als Jung-Alf, der es erstaunlicherweise geschafft hatte, in der Münze angestellt zu werden, als er noch zu jung gewesen war, um sich zu rasieren, aber eindeutig schon alt genug, um Pickel zu haben.

 

»Äh, die Männer fragen, ob sie Dienstabzeichen kriegen«, sagte der Junge.

 

»Eigentlich hatte ich an Uniformen gedacht«, sagte Feucht. »Silberner Brustharnisch mit dem Wappen der Stadt und leichtes silbernes Kettenhemd, um Eindruck zu machen, wenn wir Besucher haben.«

 

Der Junge zog einen Zettel aus der Tasche und schaute darauf. »Was ist mit Klemmbrettern?«, fragte er.

 

»Gewiss«, sagte Feucht. »Und Trillerpfeifen.«

 

»Und, äh, das mit den Verschlägen ist definitiv?«

 

»Ich bin ein Mann, der zu seinem Wort steht«, sagte Feucht.

 

»Du bist ein Mann, der viele Worte spricht, Herr Lipwig«, sagte Beuge, als der Junge über die wacklige Treppe zurückhastete, »aber ich fürchte, dass sie uns in den Ruin treiben werden. Die Bank braucht Stabilität, Zuverlässigkeit... alles, was das Gold repräsentiert!«

 

Feucht fuhr herum. Es war kein guter Tag gewesen. Es war auch keine gute Nacht gewesen, wenn er es recht bedachte. »Herr Beuge, wenn dir nicht gefällt, was ich tue, darfst du gerne gehen. Du bekommst gute Zeugnisse und das gesamte Gehalt, das dir noch zusteht!«

 

Beuge sah aus, als habe man ihm eine Ohrfeige verpasst. »Gehen? Ich soll die Bank verlassen? Wie könnte ich so etwas tun? Wie kannst du es wagen?«

 

Über ihnen wurde eine Tür zugeschlagen. Sie blickten auf. Die Männer aus den Verschlägen kamen in feierlicher Prozession die Treppe hinuntergestiegen.

 

»Jetzt werden wir ja sehen«, zischte Beuge. »Das sind Männer von zuverlässigem Wert. Sie lassen sich niemals auf deine verrückten Angebote ein, Herr ... Zirkusdirektor!«

 

Die Männer hatten das Ende der Treppe erreicht. Schweigend blickten alle zu Herrn Schattig, der wiederum zu Feucht blickte.

 

»Die Verschläge bleiben, ja?«

 

»Ihr gebt nach?«, sagte Herr Beuge entgeistert. »Nach Hunderten von Jahren?«

 

»Al-so«, sagte Herr Schattig gedehnt, »die Jungs und ich haben uns ein bisschen unterhalten, und, nun ja, in Zeiten wie diesen muss man an seinen Verschlag denken. Und mit den Heimarbeitern bleibt alles, wie es ist, richtig?«

 

»Herr Schattig, für den Elim würde ich auf die Barrikaden steigen«, sagte Feucht.

 

»Und wir haben letzte Nacht mit den Leuten vom Postamt gesprochen, und sie sagen, wir können auf Herrn Lipwigs Wort vertrauen, weil er so geradeheraus wie ein Korkenzieher ist.«

 

»Ein Korkenzieher?«, sagte Beuge schockiert.

 

»Ja, darüber haben wir uns auch gewundert«, sagte Schattig. »Sie sagen, dass er sich manchmal ziemlich windet, aber das ist in Ordnung, weil er auf jeden Fall den Korken rauskriegt!«

 

Jeglicher Ausdruck wich aus Herrn Beuges Gesicht. »Oh«, sagte er. »Das ist offensichtlich ein Scherz, der das Urteilsvermögen trübt, und ich verstehe ihn nicht. Wenn ihr mich bitte entschuldigen würdet, ich habe noch sehr viel Arbeit zu erledigen.«

 

Herr Beuge hob und senkte die Füße, als würde er auf einer sich verschiebenden Treppe gehen, und entfernte sich in ruckhafter Eile.

 

»Nun gut, meine Herren, vielen Dank für eure Hilfsbereitschaft«, sagte Feucht, während er die sich entfernende Gestalt beobachtete. »Was mich betrifft, werde ich noch heute Nachmittag die Uniformen bestellen.«

 

»Du bist ein Mann der schnellen Taten, Meister«, sagte Herr Schattig.

 

»Wenn man stillsteht, wird man nur von seinen Sünden eingeholt!«, sagte Feucht. Die Männer lachten darüber, aber vor seinen Augen erhob sich das Gesicht von Krippling, und nur halb bewusst steckte er eine Hand in die Tasche und tastete nach dem Totschläger. Er würde noch lernen müssen, wie man ihn benutzte, weil eine Waffe, mit der man sich nicht auskannte, eine Waffe des Feindes war.

 

Warum hatte er ihn überhaupt gekauft? Weil das Ding genauso etwas wie die Dietriche war: ein Zeichen, mit dem er sich selbst beweisen wollte, dass er noch nicht aufgegeben hatte, nicht ganz, dass ein Teil von ihm immer noch frei war. Es war wie mit den vorgefertigten anderen Identitäten, den Fluchtplänen, den Depots mit Geld und Kleidung. Sie sagten ihm, dass er das alles hier jederzeit verlassen konnte, um in der Menge unterzutauchen und sich vom Papierkram und den Dienstplänen und der ewigen Sehnsucht zu verabschieden.

 

Sie sagten ihm, dass er es zu jedem beliebigen Zeitpunkt aufgeben konnte. Zu jeder Stunde, jeder Minute, jeder Sekunde. Und weil er es konnte, tat er es nicht... jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde. Dafür musste es einen Grund geben.

 

»Herr Lipwig! Herr Lipwig!« Ein junger Angestellter drängte sich durch die Menge in der Münze und blieb nach Luft schnappend vor Feucht stehen.

 

»Herr Lipwig, im Saal befindet sich eine Dame, die dich sprechen möchte, und wir haben ihr schon dreimal gedankt, dass sie nicht raucht, aber sie tut es trotzdem!«

 

Das Bild des vermaledeiten Krippling verflüchtigte sich und wurde durch ein viel hübscheres ersetzt.

 

Ach ja. Das war der Grund.

 

Fräulein Adora Belle Liebherz, von Feucht auch Spike genannt, stand mitten in der Schalterhalle. Er musste nur den Rauchzeichen folgen.

 

»Hallo, du«, sagte sie, und das war auch schon die ganze Begrüßung. »Könntest du mich von all dem hier befreien?« Sie gestikulierte mit der nichtrauchenden Hand. Das Personal hatte die hohen Messingaschenbecher mit dem weißen Sand um sie herum aufgestellt.

 

Feucht schob ein paar zur Seite und ließ sie heraus.

 

»Wie war ...?«, begann er, wurde jedoch sofort unterbrochen.

 

»Wir können unterwegs reden.«

 

»Wohin gehen wir?«, fragte Feucht hoffnungsvoll.

 

»Zur Unsichtbaren Universität«, sagte Adora Belle und machte sich auf den Weg zur Tür. Sie trug einen großen geflochtenen Beutel auf dem Rücken. Er schien mit Stroh vollgestopft zu sein.

 

»Also kein Mittagessen?«, fragte Feucht.

 

»Das Mittagessen kann warten. Das hier ist wichtiger.«

 

»Aha.«

 

An der Unsichtbaren Universität war es Mittagszeit, und dort war jede Mahlzeit wichtig. Es war schwierig, einen Zeitpunkt zu finden, an dem hier nicht irgendeine Mahlzeit im Gange war. Die Bibliothek war ungewöhnlich leer, und Adora Belle näherte sich dem nächsten Zauberer, der nicht seiner Erwerbstätigkeit nachging, und verlangte: »Ich will sofort die Kuriositätenkommode sehen!«

 

»Ich glaube nicht, dass wir etwas Derartiges haben«, sagte der Zauberer. »Wer soll dafür zuständig sein?«

 

»Bitte lüg mich nicht an. Mein Name ist Adora Belle Liebherz, also kannst du dir vorstellen, dass ich nicht sehr geduldig bin. Mein Vater hat mich einmal mitgenommen, als ihr ihn gebeten habt, vorbeizukommen und einen Blick auf die Kommode zu werfen. Das war vor etwa zwanzig Jahren. Ihr wolltet wissen, wie die Türen funktionieren. Jemand muss sich daran erinnern. Sie befand sich in einem sehr großen Raum. Und sie hatte jede Menge Schubladen. Und das Seltsame daran war ...«

 

Der Zauberer hob rasch die Hände, als wollte er weitere Worte abwehren. »Könntest du bitte eine Minute warten?«, bat er sie.

 

Sie warteten fünf. Gelegentlich lugte ein Kopf mit spitzem Hut um ein Bücherregal, um einen Blick auf sie zu werfen, und zog sich gleich darauf wieder zurück, wenn er glaubte, sie hätten ihn entdeckt.

 

Adora Bella zündete sich eine neue Zigarette an. Feucht zeigte auf ein Schild, auf dem stand: »Wenn du hier rauchst, danke uns für die Kopfnuss, die dich erwartet.«

 

»Damit wollen sie nur Eindruck schinden«, sagte Adora Belle und stieß einen Strahl aus blauem Rauch aus. »Alle Zauberer rauchen wie die Schlote.«

 

»Aber nicht hier drinnen, wie mir aufgefallen ist«, sagte Feucht, »und vielleicht liegt es an all den leicht entzündlichen Büchern. Es wäre möglicherweise eine gute Idee ...«

 

Er spürte den Luftzug und nahm einen Duft nach Regenwald wahr, als etwas Schweres über sie hinwegstrich und wieder im Zwielicht verschwand, wobei es nun eine Spur aus blauem Rauch hinter sich herzog.

 

»He, jemand hat meine ...«, begann Adora Belle, doch dann stieß Feucht sie zur Seite, als das Ding zurückschwang und ihm mit einer Banane den Hut vom Kopf stieß.

 

»Hier nehmen sie es mit einigen Sachen etwas genauer«, sagte er, während er seinen Hut aufhob. »Falls es dich tröstet, der Bibliothekar hatte vermutlich sogar die Absicht, mich zu treffen. Er kann ziemlich galant sein.«

 

»Ach, du bist Herr Lipwig. Ich erkenne den Anzug wieder!«, sagte ein älterer Zauberer, der offenbar gehofft hatte, den Eindruck zu erwecken, er wäre durch Zauber aus dem Nichts erschienen, doch in Wirklichkeit war er lediglich hinter einem Bücherregal hervorgetreten. »Ich weiß, dass ich der Leiter des Instituts für Unbestimmte Studien bin, was ich meinen Sünden zu verdanken habe. Und du, aha!, dürftest unter Anwendung des Ausschlussverfahrens Fräulein Liebherz sein, die sich an die Kuriositätenkommode erinnert!« Der Institutsleiter kam näher und musterte die Besucher mit verschwörerischer Miene. Dann senkte er die Stimme. »Ob ich dich wohl überzeugen kann, sie zu vergessen?«

 

»Keine Chance«, sagte Adora Belle.

 

»Wir bilden uns gerne ein, dass es sich um eins unserer besser gehüteten Geheimnisse handelt, weißt du ...«

 

»Gut. Ich werde euch helfen, es zu wahren«, sagte Adora Belle.

 

»Und es gibt nichts, was ich sagen könnte, womit du dich vielleicht umstimmen lässt?«

 

»Ich weiß nicht«, sagte Adora Belle. »Vielleicht Abrakadabra? Hast du dein Buch mit den Zaubersprüchen dabei?« Davon war Feucht sehr beeindruckt. Sie konnte so herrlich spitz sein.

 

»Ach ... SO eine Dame bist du«, sagte der Leiter des Instituts für Unbestimmte Studien matt. »Der moderne Typ. Na gut, dann wäre es vielleicht besser, wenn du mir folgst.«

 

»Worum geht es hier eigentlich?«, flüsterte Feucht ihr zu, während sie hinter dem Zauberer hergingen.

 

»Ich muss etwas übersetzen lassen«, sagte Adora Belle, »und zwar ganz schnell.«

 

»Freust du dich gar nicht, mich wiederzusehen?«

 

»Aber ja. Sehr sogar. Aber ich muss ganz schnell etwas übersetzen lassen.«

 

»Und diese Kommode kann dir dabei helfen?«

 

»Vielleicht.«

 

»Vielleicht? Ein >Vielleicht< hätte doch auch Zeit bis nach dem Mittagessen gehabt, oder? Wenn es ein >Ganz sicher< gewesen wäre, hätte ich ja eingesehen, dass ...«

 

»Ach du liebe Güte, ich fürchte, dass ich mich schon wieder verirrt habe, aber nicht durch meine Schuld, wie ich hinzufügen möchte«, brummte der Institutsleiter. »Ich fürchte, sie ändern ständig die Parameter, und leider sind sie sehr undicht. Ich weiß nicht, bei all diesem Hin und Her kann man heutzutage seine eigene Tür gar nicht mehr als seine eigene Tür bezeichnen ...«

 

»Welche Sünden hast du begangen?«, sagte Feucht, nachdem er es mit Adora Belle aufgegeben hatte.

 

»Wie bitte? Ach du liebe Güte, was hat dieser Fleck an der Decke zu bedeuten? Wahrscheinlich ist es besser, nichts darüber zu wissen ...«

 

»Durch welche Sünden bist du zum Leiter des Instituts für Unbestimmte Studien geworden?«

 

»Ach, ich sage das nur, um irgendetwas zu sagen«, antwortete der Zauberer, öffnete eine Tür und schlug sie ganz schnell wieder zu. »Aber im Augenblick neige ich zur Ansicht, dass ich wohl doch einige begangen haben muss, und zwar richtig deftige! Jetzt ist es natürlich nahezu unerträglich. Man sagt, dass praktisch alles im gesamten verdammten Universum unbestimmbar ist, aber was soll ich dagegen tun? Und natürlich richtet diese verdammte Kommode hier schon wieder großen Schaden an. Ich dachte, seit der Sache vor fünfzehn Jahren hätte sich das Problem erledigt... ach ja, passt auf den Tintenfisch auf, der stellt übrigens auch uns vor ein großes Rätsel... Ah, hier ist die richtige Tür.« Der Institutsleiter schniefte. »Und sie liegt fast zehn Meter von der Stelle entfernt, an der sie eigentlich sein sollte. Was habe ich euch gesagt...«

 

Die Tür öffnete sich, und dann ging es nur noch um die Frage, womit man anfangen sollte. Feucht entschied sich dafür, den Unterkiefer herunterklappen zu lassen, was wenigstens eine angemessene und einfache Reaktion war.

 

Der Raum war größer, als er sein sollte. Kein Raum sollte mehr als eine Meile durchmessen, vor allem, wenn es draußen im Korridor, der völlig normal zu sein schien, sofern man den Riesentintenfisch ignorierte, den Eindruck machte, als würden auf beiden Seiten ganz gewöhnliche Zimmer liegen. Er hätte auch keine Decke haben sollen, die so hoch war, dass man sie nicht sehen konnte. Der Raum hätte einfach nicht ins Gebäude passen dürfen.

 

»Im Grunde ist es recht einfach, so etwas zu machen«, sagte der Zauberer, während seine Besucher atemlos staunten. »Zumindest habe ich das mal gehört«, fügte er wehmütig hinzu. »Wenn man die Zeit zusammenstauchen kann, kann man offensichtlich auch den Raum expandieren.«

 

»Wie macht man so etwas?«, fragte Feucht, während er auf das ... Gebilde starrte, das die Kuriositätenkommode war.

 

»Ich darf voller Stolz behaupten, dass ich nicht die leiseste Ahnung habe«, sagte der Institutsleiter. »Offen gesagt, fürchte ich, dass ich mich seit der Zeit, als wir aufgehört haben, tröpfelnde Kerzen zu benutzen, nicht mehr zurechtfinde. Ich weiß, dass es theoretisch mein Fachgebiet ist, aber ich halte es für das Beste, sie einfach machen zu lassen. Allerdings bestehen sie darauf, immer wieder zu versuchen, Dinge zu erklären, was natürlich wenig Sinn hat...«

 

Feucht hatte - sofern er überhaupt irgendeine Vorstellung gehabt hatte — so etwas wie eine Kommode erwartet. Schließlich war das der Grund, warum man so etwas so bezeichnete, nicht wahr? Aber der größte Teil des unmöglichen Raums wurde von einem Baum ausgefüllt, der die allgemeine Form einer ausgewachsenen, ehrwürdigen Eiche hatte. Es war ein winterlicher Baum, denn er hatte keine Blätter. Und dann, nachdem der beschränkte Verstand eine vertraute, freundliche Metapher gefunden hatte, musste er mit der Tatsache zurechtkommen, dass der Baum aus Schubladenschränken bestand. Sie schienen aus Holz zu bestehen, was allerdings auch nicht gerade hilfreich war.

 

Hoch oben in den Bereichen, die man nur als Äste bezeichnen konnte, waren Zauberer auf Besenstielen mit sonst was beschäftigt. Sie wirkten wie Insekten.

 

»Es ist schon etwas schockierend, wenn man sie zum ersten Mal sieht, nicht wahr?«, sagte eine freundliche Stimme.

 

Feucht blickte sich zu einem jungen Zauberer um - zumindest war er nach Zauberermaßstäben jung. Er trug eine runde Brille, hatte ein Klemmbrett in der Hand und den strahlenden Gesichtsausdruck, der besagt: Wahrscheinlich weiß ich viel mehr, als du dir überhaupt vorstellen kannst, aber es bereitet mir trotzdem Freude, mit Menschen wie dir zu reden.

 

»Du bist Ponder Stibbons, nicht wahr?«, sagte Feucht. »Der Einzige, der an dieser Universität tatsächlich arbeitet.«

 

Bei diesen Worten drehten andere Zauberer die Köpfe, und Ponder errötete. »Das ist eher unwahr! Ich trage meine Bürde genauso wie jedes andere Mitglied der Fakultät«, sagte er, doch sein Blick deutete darauf hin, dass die anderen Mitglieder der Fakultät vielleicht mehr an der Bürde ihres Körpergewichts schleppten als an ihrer Arbeit. »Ich bin für das Kommodenprojekt verantwortlich, wegen meiner Sünden.«

 

»Warum? Was hast du getan?«, fragte Feucht. »Etwas Schlimmeres?«

 

»Äh, ich habe mich freiwillig gemeldet, die Verantwortung zu übernehmen«, sagte Ponder. »Und ich muss sagen, dass wir im vergangenen halben Jahr mehr gelernt haben als in den fünfundzwanzig Jahren davor. Die Kommode ist ein wahrlich erstaunliches Artefakt.«

 

»Wo habt ihr sie gefunden?«

 

»Auf dem Dachboden, wo jemand sie hinter die Sammlung ausgestopfter Frösche geschoben hat. Wir glauben, dass die Leute es vor vielen Jahren aufgegeben haben, sie zum Funktionieren zu bringen. Natürlich war das noch im Zeitalter der tröpfelnden Kerzen«, sagte Ponder, was der Leiter des Instituts für Unbestimmte Studien mit einem Schnaufen quittierte. »Moderne Technomantie ist da durchaus etwas nützlicher.«

 

»Also gut«, sagte Feucht, »was macht sie?«

 

»Wir wissen es nicht.«

 

»Wie funktioniert es?«

»Wir wissen es nicht.«

 

»Woher kommt es?«

 

»Wir wissen es nicht.«

 

»Damit scheinen alle Fragen erschöpfend beantwortet zu sein«, sagte Feucht sarkastisch. »Ach nein, eine letzte noch: Was ist es? Und ich möchte dir sagen, dass ich sehr gespannt bin.«

 

»Das ist möglicherweise die falsche Frage«, sagte Ponder kopfschüttelnd. »In praktischer Hinsicht scheint es eine klassische Wundertüte zu sein, aber mit n Öffnungen, wobei n die Anzahl der Gegenstände in einem elfdimensionalen Universum bezeichnet, die gegenwärtig nicht leben, nicht rosa sind und in eine kubische Schublade mit der Seitenlänge 14,14 Zoll geteilt durch P passen.«

 

»Was ist P?«

 

»Auch das ist möglicherweise die falsche Frage.«

 

»Als ich als kleines Mädchen hier war, war es nur ein Zauberkasten«, warf Adora Belle mit verträumter Stimme ein. »Es befand sich in einem viel kleineren Raum, und als es sich ein paarmal entfaltete, war da eine Schachtel, in der sich der Fuß eines Golems befand.«

 

»Ach ja, in der dritten Sequenz«, sagte Ponder. »In jenen Tagen kam man damit noch nicht wesentlich weiter. Heute haben wir natürlich kontrollierte Rekursion und zielgerichtete Entfaltung, die die kollaterale Verschachtelung auf 0,13 Prozent reduziert. Das ist allein im Vergleich zum Vorjahr eine zwölffache Verbesserung!«

 

»Großartig!«, sagte Feucht, weil er das Gefühl hatte, dass es das Mindeste war, was er dazu sagen sollte.

 

»Möchte Fräulein Liebherz das Stück noch einmal sehen?«, fragte Ponder mit gesenkter Stimme. Adora Belle hatte immer noch diesen entrückten Blick.

 

»Ich glaube, ja«, sagte Feucht. »Sie ist ganz vernarrt in Golems.«

 

»Wir wollten für heute sowieso gerade zusammenklappen«, sagte Ponder. »Es kann nicht schaden, wenn wir den Fuß unterwegs auflesen.«

 

Er nahm ein großes Megaphon von einer Werkbank und hielt es sich vor den Mund.

 

»DIE KOMMODE SCHLIESST IN DREI MINUTEN, MEINE HERREN. AN ALLE FORSCHER INNERHALB DES SICHERHEITSBEREICHS: WER DANN NICHT RAUS IST, RAPPELT IN DER KISTE!«

 

»In der Kiste?«, fragte Feucht, als Ponder das Megaphon sinken ließ.

 

»Ach, vor ein paar Jahren hat jemand die Warnung ignoriert, und, ähm, als sich die Kommode zusammenfaltete, wurde er vorübergehend zu einer Kuriosität.«

 

»Du meinst, er endete innerhalb eines Würfels von vierzehn Zoll Seitenlänge?«

 

»Mehr oder weniger. Hört mal, wir wären wirklich sehr froh, wenn ihr niemandem etwas von der Kommode erzählen würdet, verbindlichsten Dank. Wir wissen, wie man sie benutzt, glauben wir zumindest, aber es könnte sein, dass sie nicht dazu gedacht war, so benutzt zu werden. Wir wissen nicht, wozu sie gut ist, wie du es formulieren würdest, oder wer sie gebaut hat oder ob das vielleicht sogar die völlig falschen Fragen sind. Nichts darin ist größer als etwa vierzehn Zoll im Quadrat, aber wir wissen nicht, warum das so ist oder wer entscheidet, dass es Kuriositäten sind, oder warum, und wir wissen auf gar keinen Fall, warum es nichts Rosafarbenes enthält. Das ist alles ziemlich peinlich. Ich bin überzeugt, dass du ein Geheimnis für dich behalten kannst, Herr Lipwig!«

 

»Du würdest staunen.«

 

»Ach. Warum?«

 

»Das war eindeutig die falsche Frage.«

 

»Aber ihr wisst etwas sehr Wichtiges über die Kommode«, sagte Adora Belle, die offenbar wieder aufgewacht war. »Ihr wisst, dass sie nicht für ein oder von einem Mädchen zwischen dem Alter von vier und, sagen wir, elf Jahren gebaut wurde.«

 

»Warum wissen wir das?«

 

»Kein Rosa. Glaub mir, kein Mädchen in diesem Alter würde Rosa ausschließen.«

 

»Bist du dir sicher? Das ist ja wunderbar!«, sagte Ponder und machte sich eine Notiz auf seinem Klemmbrett. »Das ist auf jeden Fall eine wichtige Erkenntnis. Also holen wir jetzt den Fuß, ja?«

 

Inzwischen hatten alle Zauberer mit ihren Besenstielen den Boden erreicht. Ponder räusperte sich und hob erneut das Megaphon an: »SIND ALLE UNTEN? WUNDERBAR. HEX, SEI DOCH SO GUT UND FALTE, BITTE!«

 

Einen Moment lang war es still, dann wurde immer deutlicher ein fernes Klappern hörbar, das von der Decke kam. Es klang, als würden die Götter Spielkarten aus Holz mischen, die ungefähr eine Meile groß waren.

 

»Hex ist unsere Denkmaschine«, sagte Ponder. »Ohne ihn wären wir kaum in der Lage, die Kiste zu erkunden.«

 

Das Klappern wurde immer lauter und schneller.

 

»Es könnte sein, dass euch die Ohren wehtun«, sagte Ponder mit erhobener Stimme. »Hex versucht die Geschwindigkeit zu kontrollieren, aber die Ventilatoren brauchen eine gewisse Zeit, um die Luft in den Raum zurückzubefördern. DAS VOLUMEN DER KOMMODE ÄNDERT SICH SEHR SCHNELL, WISST IHR!«

 

Diese Worte brüllte er im Getöse der kollabierenden Schubladen. Sie klappten so schnell zusammen, dass das menschliche Auge den Bewegungen nicht mehr folgen konnte, während das Gebilde schrumpfte und sich faltete und verschob und klapperte, bis es erst Hausgröße und dann Hüttengröße erreicht hatte, bis schließlich mitten im riesigen Raum - sofern es nicht eine Art von Zeit war - ein kleiner Holzschrank stand, etwa einen halben Meter tief und mit vier hübsch gedrechselten Beinen.

 

Die Türen der Kommode schlossen sich klackend.

 

»Entfalte langsam auf Gegenstand 1109«, sagte Ponder in der ohrenbetäubenden Stille.

 

Die Türen öffneten sich wieder. Eine tiefe Schublade glitt heraus.

 

Sie glitt weiter und weiter.

 

»Folgt mir einfach«, sagte Ponder und lief auf den Schrank zu. »Jetzt ist es einigermaßen sicher.«

 

»Äh, eine Schublade von etwa hundert Metern Länge hat sich gerade aus einem Kasten geschoben, der nur vierzehn Zoll tief ist«, sagte Feucht, nur für den Fall, dass er der Einzige war, der es bemerkt hatte.

 

»Ja. Das ist der Punkt«, sagte Ponder, während sich die Schublade etwa zur Hälfte wieder schloss. An der Seite sah Feucht eine Reihe von weiteren Schubladen. Also öffneten sich Schubladen ... aus Schubladen. Allerdings, so dachte Feucht, musste man sich die Sache im elfdimensionalen Raum sicherlich anders vorstellen.

 

»Es ist ein Schiebepuzzle«, sagte Adora Belle, »aber die Teile lassen sich in viel mehr Richtungen als sonst verschieben.«

 

»Das ist eine sehr anschauliche Analogie, die äußerst hilfreich ist, die Angelegenheit zu verstehen, während sie streng genommen in jeder denkbaren Hinsicht falsch ist«, sagte Ponder.

 

Adora Belle kniff leicht die Augen zusammen. Sie hatte schon seit zehn Minuten keine Zigarette mehr geraucht.

 

Aus der langen Schublade kam im rechten Winkel eine weitere Schublade. Überall an den Seiten befanden sich, ja, weitere Schubladen. Eine davon schob sich langsam heraus.

 

Feucht wagte es dagegenzuklopfen, aber es schien völlig normales Holz zu sein. Zumindest das Geräusch klang völlig normal. »Sollte ich mir Sorgen machen, weil ich gerade gesehen habe, wie sich eine Schublade durch eine zweite schiebt?«, fragte er.

 

»Nein«, sagte Ponder. »Die Kommode versucht, Dinge vierdimensional umzusetzen, die sich eigentlich in elf oder möglicherweise zehn Dimensionen abspielen.«

 

»Sie versucht? Soll das heißen, dass sie lebt?«

 

»Aha! Das ist mal eine richtige Frage!«

 

»Aber ich wette, dass du auch darauf keine Antwort weißt.«

 

»Völlig richtig. Aber du musst zugeben, dass sie für eine Frage, die wir nicht beantworten können, eine sehr interessante Frage ist. Und hier haben wir auch schon den Fuß. Anhalten und kollabieren, bitte, Hex.«

 

Mit einer Abfolge krachender Geräusche falteten sich die Schubladen wieder zusammen, was allerdings viel schneller und weniger dramatisch ablief als zuvor. Danach sah der Schrank recht bescheiden, alt und etwas o-beinig aus. Die Füße waren wie kleine Tatzen gestaltet, eine Marotte von Möbeltischlern, über die sich Feucht schon immer ein wenig geärgert hatte. Glaubten sie, dass die Dinger in der Nacht heimlich herumspazieren? Aber vielleicht tat es ein solcher Schrank wirklich.

 

Und nun waren die Türen der Kommode geöffnet. Darin lag ein Golemfuß, der gerade so hineinpasste.

 

Früher waren Golems sehr hübsch gewesen. Damals schienen sich die besten Bildhauer Mühe gegeben zu haben, mit den schönsten Statuen zu konkurrieren. Doch seitdem hatte es zu viele Pfuscher gegeben, die mit ungelenken Fingern kaum eine Schlange aus Ton formen konnten. Sie hatten festgestellt, dass die Dinger genauso gut funktionierten, wenn man das Zeug bloß in die Form großer ungehobelter Lebkuchenmänner knetete.

 

Dieser Fuß war einer vom früheren Typ. Er bestand aus Ton, der wie weißes Porzellan war, mit winzigen erhabenen Mustern in Gelb, Schwarz und Rot verziert. Auf dem kleinen Messingschild davor stand auf Überwaldisch: »Golemfuß aus Ähm, Mittlere Epoche.«

 

»Aha! Wer diesen Schrank gebaut hat, stammt aus ...«

 

»Jeder, der dieses Schild betrachtet, sieht die Inschrift in seiner Muttersprache«, erklärte Ponder geduldig. »Die Muster scheinen darauf hinzudeuten, dass der Fuß tatsächlich aus der Stadt Ähm kommt, wie der verstorbene Professor Flett ausgeführt hat.«

 

»Ähm?«, sagte Feucht. »Ähm was? Wussten die Leute nicht genau, wie sie die Stadt nennen sollten?«

 

»Nur Ähm«, sagte Ponder. »Sie ist sehr alt. Etwa sechzigtausend Jahre, glaube ich. Irgendwann in der Tonzeit.«

 

»Die ersten Golemschöpfer«, sagte Adora Belle. Sie nahm den Beutel von der Schulter, öffnete ihn und wühlte im Stroh.

 

Feucht tippte gegen den Fuß. Er wirkte eierschalendünn.

 

»Es ist irgendeine Art von Keramik«, sagte Ponder. »Niemand weiß, wie sie das Zeug hergestellt haben. Die Ähmianer haben sogar Schiffe daraus gebrannt.«

 

»Waren sie tatsächlich benutzbar?«

 

»Bis zu einem gewissen Punkt«, sagte Ponder. »Auf jeden Fall wurde die Stadt beim ersten Krieg gegen die Eisriesen völlig verwüstet. Jetzt gibt es dort nichts mehr. Wir glauben, dass der Fuß schon vor sehr langer Zeit in die Kommode gelegt wurde.«

 

»Oder wird er vielleicht erst in der Zukunft ausgegraben?«, fragte Feucht.

 

»Das wäre natürlich durchaus möglich«, sagte Ponder ernsthaft.

 

»Wäre dieser Fall nicht etwas problematisch? Ich meine, kann sich der Fuß gleichzeitig unter der Erde und in der Kommode befinden?«

 

»Das, Herr Lipwig, ist eine ...«

 

»Falsche Frage?«

 

»Ja. Der Kasten existiert in zehn oder vielleicht elf Dimensionen. Das bedeutet, dass theoretisch alles möglich ist.«

 

»Warum nur elf Dimensionen?«

 

»Wir wissen es nicht«, sagte Ponder. »Es könnte sein, dass mehr einfach Unsinn wären.«

 

»Könntest du den Fuß bitte herausnehmen?«, sagte Adora Belle, die mittlerweile das Stroh von einem länglichen Paket abzupfte.

 

Ponder nickte, hob das Relikt mit großer Sorgfalt heraus und legte es behutsam auf die Werkbank hinter ihnen.

 

»Was wäre passiert, wenn du ihn fallen gelassen ...«, begann Feucht.

 

»Falsche Frage, Herr Lipwig!«

 

Adora Belle legte das Paket neben den Fuß und wickelte es vorsichtig aus. Es enthielt ein Stück eines Golemarms von etwa einem halben Meter Länge.

 

»Ich wusste es! Die Muster sind gleich!«, sagte sie. »Und auf meinem Stück sind noch viel mehr. Kannst du das übersetzen?«

 

»Ich? Nein«, sagte Ponder. »Die Geisteswissenschaften sind nicht mein Terrain«, fügte er hinzu, in einem Tonfall, der andeutete, dass sein Terrain ein viel besseres mit viel schöneren Blumen war. »Das wäre Professor Fletts Aufgabe.« »Du meinst den verstorbenen?«, fragte Feucht.

 

»Er ist derzeit verstorben, aber ich bin mir sicher, mein Kollege Dr. Hicks kann es im Interesse der Diskretion arrangieren, dass ihr nach der Mittagspause mit dem Professor redet.«

 

»Weil er nach dem Essen nicht mehr so tot sein wird?«, fragte Feucht.

 

»Da er, wie gesagt, tot ist, isst Professor Flett nicht mehr«, erklärte Ponder geduldig. »Er wird sich freuen, wenn er Besuch bekommt, vor allem von Fräulein Liebherz. Er ist der größte Experte der Welt für Ähmianisch. Jedes Wort hat Hunderte verschiedener Bedeutungen, wie ich gehört habe.«

 

»Kann ich den Fuß mitnehmen?«, fragte Adora Belle.

 

»Nein«, sagte Ponder. »Er gehört uns.«

 

»Das war die falsche Antwort«, sagte Adora Belle und nahm den Fuß an sich. »Im Namen der Golem-Stiftung konfisziere ich diesen Golem. Wenn ihr euch als rechtmäßige Besitzer ausweisen könnt, werden wir euch dafür eine Entschädigung zahlen.«

 

»Wenn es doch nur so einfach wäre«, sagte Ponder, der ihr den Fuß höflich wieder abnahm. »Aber du musst wissen, wenn eine Kuriosität länger als vierzehn Stunden und vierzehn Sekunden aus dem Kommodenraum entfernt wird, funktioniert die Kommode nicht mehr. Beim letzten Mal haben wir drei Monate gebraucht, um sie wieder in Betrieb zu nehmen. Aber du kannst jederzeit vorbeischauen und dich, äh, überzeugen, dass wir ihn nicht misshandeln.«

 

Feucht legte eine Hand auf Adora Belles Arm, um einen Zwischenfall zu verhindern.

 

»Wenn es um Golems geht, kann sie sehr leidenschaftlich werden«, sagte er. »Die Stiftung gräbt ständig welche aus.«

 

»Das ist sehr lobenswert«, sagte Ponder. »Ich werde mit Dr. Hicks reden. Er ist der Leiter des Instituts für Postmortale Kommunikation.«

 

»Postmortale Kom...«, begann Feucht. »Ist das nicht dasselbe wie Nekroman ...?«

 

»Ich sprach vom Institut für Postmortale Kommunikation«, wiederholte Ponder mit Nachdruck. »Ich schlage vor, dass wir uns um drei Uhr Wiedersehen.«     

 

»Ist dir an diesem Gespräch irgendetwas normal vorgekommen?«, sagte Feucht, als sie ins Sonnenlicht hinaustraten.

 

»Ich fand, dass es eigentlich ziemlich gut gelaufen ist«, sagte Adora Belle.

 

»So hatte ich mir deine Rückkehr nicht vorgestellt«, sagte Feucht. »Wozu die Eile? Gibt es ein Problem?«

 

»Hör mal, bei der Ausgrabung haben wir vier Golems gefunden«, sagte Adora Belle.

 

»Das ist... gut, nicht wahr?«, sagte Feucht.

 

»Ja! Und weißt du auch, wie tief sie vergraben waren?«

 

»Das könnte ich niemals erraten.«

 

»Rate!«

 

»Ich weiß es nicht!«, sagte Feucht verwirrt über dieses seltsame Spiel. »Vielleicht fünfzig Meter? Das wäre mehr als ...«

 

»Eine halbe Meile!«

 

»Unmöglich! Das ist tiefer als Kohle!«

 

»Nicht so laut! Können wir irgendwo hingehen und reden?« »Wie wäre es mit... der Königlichen Bank von Ankh-Morpork? Dort gibt es ein privates Speisezimmer.«

 

»Und man wird uns dort etwas essen lassen, ja?«

 

»Sicher. Der Bankdirektor ist ein sehr guter Freund von mir«, sagte Feucht.

 

»Ist er das?«

 

»Ganz gewiss«, sagte Feucht. »Er hat mir erst heute Früh das Gesicht abgeleckt.«

 

Adora Bella hielt inne und starrte ihn an. »Wirklich?«, sagte sie. »Dann ist es wohl ganz gut, dass ich ausgerechnet jetzt zurückgekommen bin.«