Kapitel 3

Der Blupper - Ein wahrer Hubert - Eine sehr dicke Matratze - Einige Bemerkungen zum Tourismus - Gladys macht ein Sandwich - Das Blindbriefbüro Frau Üppigs Testament - Ein unheilvoller Brief - Fluchtplanung - Ein noch unheilvollerer Brief, auf jeden Fall noch unheilvoller als der erste - Herr Lipwig besteigt die falsche Kutsche

Feucht hatte mal gesehen, wie Glas geblasen wurde, und über das Geschick der Leute gestaunt, die es machten - wie nur jemand darüber staunen konnte, dessen einziges Geschick im Umgang mit Worten bestand. Wahrscheinlich hatten einige jener Genies hieran gearbeitet. Aber genauso hatten es ihre Pendants auf der hypothetischen Anderen Seite getan. Glasbläser, die ihre Seelen an einen geschmolzenen Gott verkauft hatten, um die Fähigkeit zu erwerben, Glas zu Spiralen und miteinander verbundenen Flaschen und Formen zu blasen, die sich sehr nahe zu sein schienen, aber gleichzeitig sehr weit voneinander entfernt waren. Wasser sprudelte, schwappte und, ja, bluppte durch Glasröhren. Es roch nach Salz.

Beuge stieß Feucht an, zeigte auf einen unmöglichen Garderobenständer aus Holz und reichte ihm wortlos einen langen Ölmantel und einen dazu passenden Südwester. Er selbst hatte bereits ähnliche Sachen angelegt und sich wie durch Zauberei von irgendwo einen Regenschirm beschafft.

Das ist wegen der Zahlungsbilanz«, sagte er, während Feucht sich in den Mantel zwängte. »Er kriegt es nie richtig hin.« Irgendwo krachte es, und Wassertropfen regneten auf sie herab. »Siehst Du?«, setzte Beuge hinzu.

»Was macht er?«, fragte Feucht.

Beuge verdrehte die Augen. »Das weiß der Teufel, und das mutmaßen die Götter«, sagte er, dann hob er die Stimme. »Hubert? Wir haben Besuch!«

Ein fernes Plätschern wurde lauter, und eine Gestalt tauchte am Rand des Glaskunstwerks auf.

Hubert ist, ob zu Recht oder zu Unrecht, einer jener Namen, von deren Träger man sogleich eine konkrete Vorstellung hat. Es mag durchaus große, schlanke Huberts geben, wie Feucht jederzeit eingeräumt hätte, aber dieser hatte die typische Gestalt eines wahren Hubert, nämlich untersetzt und rundlich. Er hatte rotes Haar, was nach Feuchts Erfahrung ungewöhnlich für die Hubert-Standardausführung war. Es wuchs dick und senkrecht von seinem Kopf empor und erinnerte an die Borsten einer Bürste. Bei etwa zwölf Zentimetern Länge schien es mittels einer Schere und einer Wasserwaage gekappt worden zu sein. Man hätte eine Tasse samt Untertasse darauf abstellen können.

»Besuch?«, sagte Hubert nervös. »Wunderbar! Das kommt hier unten nicht besonders oft vor!« Hubert trug einen langen weißen Mantel, dessen Brusttasche mit Schreibstiften vollgestopft war.

»Wirklich?«, sagte Feucht.

»Hubert, das ist Herr Lipwig«, sagte Beuge. »Er ist hier, um ... uns kennen zu lernen.«

»Du darfst mich Feucht nennen«, sagte Feucht und trat mit seinem schönsten Lächeln und einer ausgestreckten Hand vor.

»Oh, das tut mir leid. Wir hätten die Regenmäntel gleich neben die Tür hängen sollen«, sagte Hubert. Er blickte auf Feuchts Hand, als wäre sie ein interessanter Apparat, dann schüttelte er sie vorsichtig. »Bedauerlicherweise erlebst du uns heute nicht in Bestform, Herr Lipwig.«

»Wirklich?«, sagte Lipwig, immer noch lächelnd. Wie macht er es nur, dass sein Haar so hochsteht?, fragte er sich. Benutzt er Klebstoff oder was?

»Herr Lipwig ist der Postminister, Hubert«, sagte Beuge.

»Ist er das? Oh, ich komme in letzter Zeit nicht oft aus dem Keller heraus«, sagte Hubert.

»Wirklich?«, sagte Feucht, sein Lächeln wurde etwas glasiger.

»Nein, wir haben es schon fast bis zur Perfektion gebracht, musst du wissen«, sagte Hubert. »Ich glaube wirklich, dass wir es fast geschafft haben ...«

»Herr Hubert glaubt, dass diese ... Apparatur eine Art Kristallkugel ist, mit der man in die Zukunft blicken kann«, sagte Beuge und verdrehte die Augen.

»In mögliche Zukünfte. Möchte Herr Lipwig das Gerät in Betrieb sehen?«, fragte Hubert bebend vor Eifer und Begeisterung. Nur ein Mann mit einem Herzen aus Stein hätte Nein sagen können, also gab sich Feucht alle Mühe, den Eindruck zu erwecken, dass damit seine größten Träume Wirklichkeit wurden.

»Das würde ich sehr gerne«, sagte er, »aber was genau macht diese Maschine eigentlich?«

Zu spät, es ging bereits los. Hubert fasste sich mit beiden Händen ans Revers seines Jacketts, als wollte er eine Versammlung begrüßen, und platzte fast vor Drang zu kommunizieren - oder ausführlich zu monologisieren, in der festen Überzeugung, dass das das Gleiche war.

»Der Blupper, wie die Apparatur liebevoll bezeichnet wird, ist ein Gerät, das ich als Zitat Analogiemaschine Zitat Ende bezeichne. Sie löst Probleme nicht, indem sie sie als numerische Kalkulation behandelt, sondern indem sie sie tatsächlich in einer Form darstellt, die wir beeinflussen können. In diesem Fall handelt es sich um den Geldfluss und seine Auswirkungen innerhalb der Gesellschaft, repräsentiert durch Wasser, das durch eine Glasmatrix strömt - den Blupper. Durch die geometrische Form gewisser Gefäße, den Einsatz von Ventilen und die - ich bitte das Eigenlob zu entschuldigen - geniale Idee, Überlaufbehälter und Durchflusspropeller zu verwenden, ist der Blupper in der Lage, sehr komplexe Transaktionen zu simulieren. Wir können außerdem die Ausgangsbedingungen verändern, um mehr über die Regeln zu erfahren, die das System bestimmen. Zum Beispiel können wir feststellen, was geschieht, wenn man die verfügbaren Arbeitskräfte um die Hälfte reduziert. Dazu müssen wir nur an ein paar Ventilen drehen, statt auf die Straßen hinauszugehen und Stadtbewohner umzubringen.«

»Ein großer Fortschritt! Bravo!«, rief Feucht verzweifelt und klatschte.

Niemand stimmte in seinen Applaus ein. Also schob er die Hände in die Hosentaschen.

»Äh, vielleicht möchtest du eine weniger, äh, dramatische Vorführung sehen?«, sagte Hubert zögernd.

Feucht nickte. »Ja, gerne. Zeig mir ... zeig mir, was passiert, wenn die Leute genug von Banken haben.«

»Ach ja, ein sehr beliebtes Problem. Igor, stell Programm Fünf ein!«, rief Hubert einer unsichtbaren Gestalt in dem Wald aus Glasröhren zu. Man hörte, wie Schrauben quietschend gedreht wurden, und dann, wie Flüssigkeitsbehälter sich gluckernd füllten.

»Igor?«, sagte Feucht. »Du hast einen Igor?«

»Aber ja«, sagte Hubert. »So kriege ich dieses wunderbare Licht. Sie kennen das Geheimnis, wie man Licht in Gefäßen speichert! Aber lass dich dadurch nicht beunruhigen, Herr Lippspick. Nur weil ich einen Igor beschäftige und in einem Keller arbeite, bin ich noch lange kein Verrückter, ha ha ha!«

»Ha ha«, pflichtete Feucht ihm bei.

»Ha hah hah!«, sagte Hubert. »Hahahahahaha! Ahahahaha-hahhhhh!!!«

Beuge klopfte ihm auf den Rücken. Hubert hustete. »Entschuldigung. Das liegt an der Luft hier unten«, murmelte er.

»Er sieht auf jeden Fall sehr ... komplex aus, dein Apparat«, sagte Feucht im Bestreben, wieder Normalität einkehren zu lassen.

»Äh, ja«, sagte Hubert, der immer noch etwas neben sich stand. »Und wir sind ständig dabei, ihn zu verbessern. Zum Beispiel gibt es Schwimmer, die auf ausgeklügelte Weise mit gefederten Klappen an ganz anderen Stellen im Blupper verbunden sind, wodurch der Flüssigkeitsstand in einem Gefäß automatisch den Fluss in mehreren anderen Teilen des Systems reguliert...«

»Wozu ist das hier gut?«, fragte Feucht und zeigte wahllos auf eine runde Flasche, die mitten im Gewirr der Glasröhren hing.

»Das ist das Mondphasenventil«, sagte Hubert ohne Zögern.

»Der Mond beeinflusst, wohin Geld fließt?«

»Wir wissen es nicht. Aber es könnte sein. Auf jeden Fall tut es das Wetter.«

»Wirklich?«

»Aber gewiss!«, rief Hubert freudestrahlend. »Und wir fügen ständig neue Einflüsse hinzu. Ich werde erst zufrieden sein, wenn meine wunderbare Maschine auch noch das letzte Detail des Wirtschaftskreislaufs unserer großen Stadt imitiert!« Eine Klingel ertönte, dann rief er: »Danke, Igor! Es kann losgehen!«

Etwas klirrte, und farbiges Wasser schwappte schäumend durch die größeren Röhren. Hubert hob nicht nur die Stimme, sondern außerdem einen langen Zeigestock.

»Wenn wir also das öffentliche Vertrauen in das Banksystem verringern - gebt auf diese Röhre dort Acht -, seht ihr hier den Abfluss des Bargeldes von den Banken in Flasche Achtundzwanzig, umgangssprachlich auch als Alte-Socke-unter-der-Matratze bezeichnet. Nicht einmal reiche Leute möchten, dass sie keine Kontrolle mehr über ihr Geld haben. Seht ihr, wie die Matratze voller wird - oder sollte ich vielleicht sagen, dicker?«

»Das sind aber viele Matratzen«, stimmte Feucht ihm zu.

»Ich stelle es mir lieber als eine einzige Matratze von fünfhundert Metern Höhe vor.«

»Wirklich?«, sagte Feucht.

Schwapp! Irgendwo öffneten sich Ventile, und das Wasser strömte auf einem anderen Weg durch den Apparat.

»Jetzt könnt ihr sehen, wie sich das Kreditwesen der Banken reduziert, während das Geld in die Socke fließt.« Glucker! »Beobachtet Reservoir Elf da drüben. Das bedeutet, dass sich die wirtschaftliche Expansion verlangsamt ... immer weniger ... und weniger ...« Tropf! »Jetzt achtet auf Kübel Vierunddreißig. Er kippt... immer weiter ... da! Die Skala auf der linken Seite von Flasche Siebzehn zeigt übrigens, wie die kleineren und mittleren Wirtschaftsunternehmen verschwinden. Seht ihr, dass Flasche Neun immer voller wird? Das sind die Kündigungen von Hypotheken. Der Verlust von Arbeitsplätzen ist Flasche Sieben ... und da geht das Ventil von Flasche Achtundzwanzig auf, weil die Socken wieder hervorgezerrt werden.« Wusch!» Aber was gibt es noch zu kaufen? Hier drüben sehen wir, dass Flasche Elf auch schon fast leer ist...« Tropf.

Bis auf ein gelegentliches Gluckern kam die Wasseraktivität fast völlig zum Stillstand.

»Am Ende befinden wir uns in einer Situation, in der wir uns nicht mehr rühren können, weil wir sozusagen auf unseren Händen stehen«, sagte Hubert. »Arbeitsplätze verschwinden, Leute ohne Ersparnisse darben, die Löhne und Gehälter sind niedrig, Bauernhöfe werden von der Wildnis zurückerobert, randalierende Trolle kommen von den Bergen herunter ...«

»Sie sind bereits hier«, sagte Feucht. »Einige gehören sogar zur Wache.«

»Bist du dir ganz sicher?«, fragte Hubert.

»Ja, sie haben Helme und so weiter. Ich habe sie selbst gesehen.«

»Dann vermute ich, dass sie zurückkehren, um in den Bergen zu randalieren«, sagte Hubert. »Jedenfalls würde ich es tun, wenn ich an ihrer Stelle wäre.«

»Du glaubst, dass all das wirklich geschehen könnte?«, fragte Feucht. »Das erkennst du an einem Haufen Röhren und Kübeln?«

»Die Korrelation zu den realen Ereignissen ist sehr genau austariert, Herr Lippschwick«, sagte Hubert und zog dabei ein beleidigtes Gesicht. »Die Korrelation ist das A und O. Wusstest du, dass es eine erwiesene Tatsache ist, dass Rocksäume in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit nach oben wandern?«

»Du meinst... ?«, begann Feucht, der keine Ahnung hatte, wie der Satz weitergehen sollte.

»Die Röcke der Frauen werden kürzer«, sagte Hubert.

»Und dadurch wird eine Wirtschaftskrise ausgelöst? Wirklich? Wie kurz werden die Röcke denn?«

Herr Beuge hustete bleiern. »Ich glaube, wir sollten jetzt lieber gehen, Herr Lipwig«, sagte er. »Wenn du alles gesehen hast, was du sehen wolltest, möchtest du vermutlich keinen Augenblick länger als nötig hier bleiben.« Seine Worte hatten etwas Drängendes.

»Was? Oh ... ja, sicher«, sagte Feucht. »Wahrscheinlich sollte ich mich jetzt auf den Weg machen. Vielen Dank, Hubert. Es war wirklich sehr lehrreich, so viel steht fest.«

»Ich schaffe es bloß nicht, die Lecks in den Griff zu bekommen«, sagte der kleine Mann geknickt. »Ich schwöre, dass jede Verbindung wasserdicht ist, aber am Ende ist die Wassermenge immer geringer als zu Anfang.«

»Natürlich, Hubert«, sagte Feucht und klopfte ihm auf die Schulter. »Das liegt daran, dass du das Gerät schon fast perfektioniert hast!«

»Habe ich das?«, fragte Hubert mit weit aufgerissenen Augen.

»Aber gewiss. Jeder weiß, dass man am Ende der Woche nie so viel Geld hat, wie man eigentlich haben müsste. Das ist eine allgemein bekannte Tatsache.«

Der Sonnenaufgang der Freude erhellte Huberts Gesicht. Tüppi hat Recht, sagte sich Feucht. Ich kann einfach gut mit Leuten umgehen!

»Was nun durch den Blupper demonstriert wird!«, hauchte Hubert. »Ich werde einen Aufsatz darüber verfassen!«

»Tu das!«, sagte Feucht und schüttelte ihm herzlich die Hand. »Also gut, Herr Beuge, dann wollen wir uns mal losreißen!«

Als sie die Haupttreppe hinaufstiegen, sagte Feucht: »In welchem Verwandtschaftsverhältnis steht Hubert zur derzeitigen Direktorin?«

»Er ist ihr Neffe«, sagte Beuge. »Wie hast du ... ?«

»Ich habe mich schon immer für Menschen interessiert«, sagte Feucht still lächelnd. »Und natürlich wegen der roten Haare. Warum hat Frau Üppig zwei Armbrüste auf ihrem Schreibtisch?«

»Familienerbstücke, Herr«, schwindelte Beuge. Das war eine dreiste Lüge, und er schien gar keinen Hehl daraus machen zu wollen. Familienerbstücke! Und sie schlief in ihrem Büro. Nun gut, sie war gebrechlich, aber normalerweise taten Leute so etwas zu Hause.

Sie hat nicht die Absicht, das Zimmer zu verlassen. Sie ist auf der Hut. Und sie achtet sehr genau darauf, wen sie hereinlässt.

»Hast du irgendwelche Interessen, Herr Beuge?«

»Ich erledige meine Arbeit mit Sorgfalt und Aufmerksamkeit, Herr.«

»Ja, aber was machst du an den Abenden?«

»Ich überprüfe noch einmal die Gesamtabrechnungen des Tages in meinem Büro, Herr. Ich finde das Rechnen sehr ... befriedigend.«

»Du bist sehr gut darin, nicht wahr?«

»Besser, als du dir vorstellen kannst, Herr.«

»Wenn ich also dreiundneunzig Dollar und siebenundvierzig Cent pro Jahr sieben Jahre lang zu einem Zinssatz von zwei ein viertel Prozent spare, mit Zinseszins, versteht sich, wie viel... ?«

»Achthundertfünfunddreißig Dollar dreizehn bei einmaliger Berechnung pro Jahr, Herr«, sagte Beuge ganz ruhig.

Ja, und zweimal konntest du die genaue Uhrzeit nennen, dachte Feucht. Ohne auf eine Uhr zu schauen. Du kannst wirklich sehr gut mit Zahlen umgehen. Vielleicht sogar unmenschlich gut...

»Kein Urlaub?«, sagte er laut.

»Letzten Sommer habe ich eine Wanderung durch Überwald gemacht und die größeren Bankhäuser besucht, Herr. Es war höchst lehrreich.«

»Das muss Wochen gedauert haben. Es freut mich, dass du in der Lage warst, dich wieder davon loszureißen.«

»Ach, das war einfach, Herr. Fräulein Gardinia, unsere leitende Buchhalterin, hat mir täglich nach Feierabend verschlüsselte Klackernachrichten mit den Geschäftsergebnissen des Tages an meine jeweilige Unterkunft geschickt. Ich konnte sie mir nach dem Abendessen beim Nachtisch ansehen und sofort mit Ratschlägen und Anweisungen reagieren.«

»Ist Fräulein Gardinia eine nützliche Mitarbeiterin?«

»Aber sicher. Sie erfüllt ihre Pflichten mit Sorgfalt und Eifer.« Er hielt kurz inne. Sie hatten das obere Ende der Treppe erreicht. Beuge drehte sich um und sah Feucht direkt in die Augen. »Ich habe mein ganzes Leben lang hier gearbeitet, Herr Lipwig. Nimm dich vor der Familie Üppig in Acht. Frau Üppig ist noch die Beste von allen, eine wundervolle Frau. Die anderen ... sind daran gewöhnt, ihren Willen zu bekommen.«

Alte Familie, altes Geld. So eine Familie ist das also. Feucht verspürte einen fernen Ruf, wie das Lied einer Lerche. Er hörte ihn immer wieder, zum Beispiel, wenn er auf den Straßen der Stadt einen Fremden mit Stadtplan und verwirrtem Gesichtsausdruck sah, jemand, der danach schrie, auf irgendeine hilfreiche und nur schwer nachvollziehbare Weise um sein Geld erleichtert zu werden.

»Sind sie gefährlich?«, fragte er.

Beuge reagierte leicht beleidigt auf diese Unverblümtheit. »Sie neigen nicht dazu, sich der Enttäuschung hinzugeben, Herr. Sie haben versucht, Frau Üppig für verrückt erklären zu lassen.«

»Wirklich?«, sagte Feucht. »Im Vergleich zu wem?«

Der Wind wehte durch die Stadt Großer Kohlkopf, die sich selbst gerne als das Grüne Herz der Ebenen bezeichnete.

Sie wurde Großer Kohlkopf genannt, weil hier der Größte Kohl der Welt wuchs, und die Bewohner der Stadt waren nicht sehr einfallsreich, wenn es um Namen ging. Die Leute reisten meilenweit, um dieses Wunder zu sehen, sie begaben sich in das Beton-Innere des Kohlkopfs und blickten durch die Fenster nach draußen, sie kauften Lesezeichen aus Kohlblättern, Kohltinte, Kohl-T-Shirts, Käpt’n-Kohl-Figuren, Spieluhren, die kunstvoll aus Kohlrabi und Blumenkohl zusammengesetzt waren und »Das Kohlesser-Lied« spielten, Kohlmarmelade, Grünkohlbier und grüne Zigarren, die aus einer neu gezüchteten Kohlart bestanden und auf den Schenkeln einheimischer Jungfrauen gerollt wurden, vermutlich weil sie großen Spaß daran hatten.

Dann gab es auch noch die Sensationen der BrassicaWelt, wo sich sehr kleine Kinder erschrecken und schreien konnten, wenn sie den riesigen Kopf von Käpt’n Kohl erblickten, in Gesellschaft seiner Freunde, dem Blumenkohlclown und Billi Brokkoli. Für ältere Besucher gab es natürlich das Kohlforschungszentrum, über dem ständig eine grüne Dunstglocke hing und in dessen Umgebung sehr merkwürdige Pflanzen wuchsen, die sich manchmal umdrehten und einen beobachteten, wenn man vorbeiging.

Und dann ... wie ließ sich ein großartiger Tag besser einfangen als durch ein Bild, das der schwarz gekleidete Mann mit dem Ikonografen schoss. Er brachte die glückliche Familie in Pose und versprach ein gerahmtes, farbiges Abbild, das sofort an die Heimadresse geschickt wurde, für nur drei Dollar, inklusive Versandgebühren und einem Dollar für die Auslagen, wenn du so freundlich sein könntest, mein Herr, und darf ich sagen, wie wunderbar deine Kinder sind, meine Dame, darauf könnt ihr stolz sein, ach, und habe ich schon erwähnt, wenn ihr nicht absolut begeistert vom gerahmten Bild seid, schickt uns einfach kein Geld mehr, und ihr werdet nie wieder einen Ton von uns hören?

Das Grünkohlbier war im Allgemeinen recht gut, und Müttern konnte man gar nicht genug schmeicheln, und, nun ja, der Mann hatte ziemlich merkwürdige Zähne, die drauf und dran schienen, sich aus seinem Mund zu befreien, aber schließlich ist niemand von uns vollkommen, und was gibt es schon zu verlieren?

Was es zu verlieren gab, war ein Dollar, und am Ende kam ein Dollar zum anderen. Wer behauptete, dass man einen ehrlichen Mann nicht übers Ohr hauen konnte, war selber keiner.

Ungefähr bei der siebten Familie begann sich ein Wächter vage für die Angelegenheit zu interessieren, sodass der Mann im staubigen schwarzen Anzug nun theatralisch die letzte Adresse notierte und durch eine Gasse davonschlenderte. Er warf den kaputten Ikonografen zurück auf den Abfallhaufen, auf dem er ihn gefunden hatte - es war ein billiges Modell, und die Imps hatten sich schon vor langer Zeit daraus verflüchtigt -, und wollte sich gerade über die Felder davonmachen, als er die Zeitung sah, die vom Wind herangewirbelt wurde.

Für einen Mann, der sich mit Verstand und Einfallsreichtum durchs Leben schlug, war eine Zeitung ein sehr nützlicher Besitz. Wenn man sie sich unters Hemd steckte, konnte man sich vor dem kalten Wind schützen. Man konnte sie dazu verwenden, ein Feuer zu entzünden. Anspruchsvollen Zeitgenossen ersparte sie es, für gewisse Zwecke Tag für Tag auf Ampfer, Klette oder andere breitblättrige Pflanzen zurückgreifen zu müssen. Und zur Not konnte man sie sogar noch lesen.

An diesem Abend frischte der Wind auf. Der Mann überflog die Titelseite der Zeitung und steckte sie sich dann unters Unterhemd.

Seine Zähne versuchten ihm etwas zu sagen, aber er hörte nie auf sie. Man konnte im Wahnsinn enden, wenn man auf seine Zähne hörte.

Als er zum Postamt zurückgekehrt war, schlug Feucht die Familie Üppig im Wer mit wem nach. Sie gehörte tatsächlich dem alten Geldadel an, was bedeutete, dass sie vor so langer Zeit zu Geld gekommen war, dass die dunklen Machenschaften, mit denen sie ihre Geldsäcke gefüllt hatte, längst verjährt waren. Es war schon komisch: Wer einen Banditen als Vater hatte, kehrte ihn unter den Teppich, aber ein Pirat und Sklavenjäger als Urururgroßvater war etwas, womit man prahlte. Die Zeit verwandelte die bösen Verbrecher in Spitzbuben, und »Spitzbube« war ein Wort, das man mit einem Augenzwinkern sagte und wofür sich niemand schämte.

Sie waren schon seit vielen Jahrhunderten reich. Die Schlüsselfiguren in der aktuellen Üppig-Generation waren neben Tüppi zunächst ihr Schwager Marko Üppig und seine Frau Capricia, die Tochter eines berühmten Treuhandverwalters. Sie lebten in Gennua, so weit wie möglich von den anderen Üppigs entfernt, was recht Üppig-typisch war. Dann gab es noch die Stiefkinder von Tüppi, die Zwillinge Cosmo und Pucci, die, wie man sich erzählte, sich gegenseitig mit den kleinen Händen die Kehle zudrückten, als sie auf die Welt kamen, ganz wie wahre Üppigs. Außerdem gab es noch zahlreiche weitere Cousins und Cousinen, Tanten und genetische Anhängsel, die sich alle gegenseitig wie Katzen belauerten. Nach dem, was er gehört hatte, tummelten sich die Familienmitglieder traditionell im Bankgeschäft, doch die jüngeren Generationen hatten sich auf dem komplexen Fundament langfristiger Investitionen und uralten Treuhandvermögens darauf verlegt, sich gegenseitig zu enterben und zu verklagen, offensichtlich mit großer Begeisterung und einem löblichen Mangel an Gnade. Er erinnerte sich an Bilder, die er auf den Klatschseiten der Times gesehen hatte, wie sie schnittige schwarze Kutschen bestiegen oder ihnen entstiegen, ohne allzu viel zu lächeln, damit sich das Geld nicht davonmachen konnte.

Tüppis Familienzweig wurde nicht erwähnt. Offenbar war der Name Dylea nicht groß genug, um ins Wer mit Wem auf genommen zu werden. Tüppi Dylea ... irgendwie klang das eher nach Variete, und Feucht konnte sich das sogar recht gut vorstellen.

Feuchts Eingangskorb hatte sich während seiner Abwesenheit gut gefüllt. Alles ziemlich unwichtiges Zeug, und er musste sich um kaum etwas wirklich kümmern, aber an dem ganzen Ärger war nur dieses neumodische Kohlepapier schuld. Er bekam Kopien von allem Möglichen, und das beanspruchte seine Zeit.

Nicht, dass er Probleme mit dem Delegieren hatte. Darin war er sogar ziemlich gut. Doch damit diese Fähigkeit tatsächlich etwas nützte, mussten sich am anderen Ende der Kette Leute befinden, die dazu taugten, dass man etwas an sie delegierte. Was sie aber nicht taten. Das Postamt hatte etwas an sich, das eigenständiges Denken verhinderte. Die Briefe gehörten in die Schlitze, alles klar? Hier war kein Platz für Leute, die damit experimentieren wollten, sie sich ins Ohr zu stecken oder in den Schornstein oder in den Abort. Es wäre gut für sie, wenn sie ...

Zwischen dem übrigen Zeug entdeckte er die dünnen rosafarbenen Blätter mit Klackerbotschaften und zog sie eilig hervor.

Die Nachricht kam von Spike!

Er las:
Erfolg. Kehre übermorgen zurück. Alles wird ans Licht kommen. S.

Feucht legte sie vorsichtig auf den Schreibtisch. Offenbar vermisste sie ihn sehr und wollte ihn unbedingt Wiedersehen, aber sie war sehr knauserig, wenn es darum ging, Geld der Golem-Stiftung auszugeben. Und wahrscheinlich waren ihr auch die Zigaretten ausgegangen.

Feucht trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Vor einem Jahr hatte er Adora Belle Liebherz gefragt, ob sie seine Ehefrau werden wollte, und sie hatte ihm erklärt, dass er vielmehr ihr Ehemann sein würde.

Es würde noch ... ja, es würde bestimmt noch einige Zeit dauern, bis Frau Liebherz schließlich die Geduld mit dem übervollen Terminkalender ihrer Tochter verlor und selbst das Aufgebot bestellte.

Aber er war bereits ein fast verheirateter Mann, wie auch immer man es betrachten wollte. Und fast verheiratete Männer verkehrten nicht mit Angehörigen der Familie Üppig. Ein fast verheirateter Mann war standhaft und zuverlässig und jederzeit bereit, seiner Fast-Ehefrau einen Aschenbecher zu reichen. Er musste für seine dereinstigen Kinder da sein und dafür sorgen, dass sie in einem gut gelüfteten Kinderzimmer schliefen.

Er strich die Nachricht auf der Tischplatte glatt.

Und er würde auch mit den nächtlichen Klettertouren aufhören. War das vielleicht erwachsen? War das vernünftig? War er zum Werkzeug von Vetinari geworden? Nein!

Doch es regte sich eine Erinnerung. Feucht stand auf und ging zu seinem Aktenschrank hinüber, von dem er sich normalerweise um jeden Preis fernhielt.

Unter »Briefmarken« fand er den kleinen Bericht, den er vor zwei Monaten von Stanley Heuler bekommen hatte, dem Leiter der Abteilung Briefmarken. Darin wurde nebenbei erwähnt, dass sich die Ein- und Zwei-Dollar-Marken weiterhin sehr gut verkauften, und zwar viel besser, als selbst Stanley erwartet hatte. Vielleicht war das »Briefmarkengeld« schon weiter verbreitet, als er gedacht hatte. Schließlich war es von staatlicher Seite gedeckt, nicht wahr? Es ließ sich sogar leicht herumtragen. Er würde einmal überprüfen müssen, wie viel genau ...

Jemand klopfte zart an die Tür, und Gladys trat ein. Sie trug mit äußerster Vorsicht einen Teller mit Schinkensandwiches, die sehr, sehr dünn waren, wie nur Gladys sie machen konnte - und zwar, indem sie einen Schinken zwischen zwei Brotlaibe legte und das Ganze dann mit ihrer schaufelgroßen Hand plattschlug.

»Ich Dachte Mir, Dass Du Noch Nicht Zu Mittag Gegessen Hast, Postminister«, grollte sie.

»Danke, Gladys«, sagte Feucht und schüttelte sich im Geiste.

»Und Lord Vetinari Ist Unten«, fuhr Gladys fort. »Er Sagt, Es Hätte Keine Eile.«

Das Sandwich verharrte wenige Zentimeter vor Feuchts Lippen. »Er ist im Haus?«

»Ja, Herr Lipwig.«

»Und streift ganz allein herum?«, fragte Feucht mit zunehmendem Entsetzen.

»Gegenwärtig Hält Er Sich Im Blindbriefbüro Auf, Herr Lipwig.«

»Was macht er da?«

»Briefe Lesen, Herr Lipwig.«

Keine Eile, dachte Feucht verbittert. Alles klar. Ich werde jedenfalls zuerst die Sandwiches aufessen, die diese nette Golemdame für mich gemacht hat.

»Vielen Dank, Gladys«, sagte er.

Als sie gegangen war, holte Feucht eine Pinzette aus einer Schreibtischschublade hervor, öffnete das Sandwich und entfernte die Knochentrümmer, die Gladys’ Holzhammermethode hinterlassen hatte.

Es war etwas mehr als drei Minuten später, als der Golem erneut erschien und geduldig vor den Schreibtisch trat.

»Ja, Gladys?«, sagte Feucht.

»Seine Lordschaft Wünscht, Dass Ich Dir Mitteile, Dass Es Immer Noch Keine Eile Hat.«

Feucht lief nach unten, und Lord Vetinari saß in der Tat im Blindbriefbüro2 , die Stiefel auf einen Tisch gelegt, einen Stapel Briefe in der Hand und mit einem Lächeln auf dem Gesicht.

»Hallo, Lipwig«, sagte er und wedelte mit den schmuddeligen Umschlägen. »Wunderbare Sachen hier! Viel besser als Kreuzworträtsel! Dieser gefällt mir besonders: »Kehgsbegge gehngüba Abbedehke«. Ich habe die korrekte Adresse darunter geschrieben.« Er reichte den Brief an Feucht weiter.

Er hatte geschrieben: K. Pfeifer, Bäcker, Schweinestallhügel 3.

»Es gibt drei Bäckereien in der Stadt, von denen man sagen könnte, dass sie gegenüber einer Apotheke liegen«, erklärte Vetinari, »aber nur Pfeifer macht diese recht guten Spritzkekse, die bedauerlicherweise aussehen, als hätte gerade ein Hund sein Geschäft erledigt und es irgendwie geschafft, dabei einen Klecks Zuckerguss zu hinterlassen.«

»Sehr schön, Herr«, sagte Feucht matt.

Auf der anderen Seite des Raums saßen Frank und Dave, die ihre Zeit damit verbrachten, die unlesbaren, falsch geschriebenen, fehlgeleiteten oder einfach nur verrückten Briefe zu entziffern, die jeden Tag ins Blindbriefbüro schneiten. Sie beobachteten Vetinari voller Entsetzen und Ehrfurcht. In der Ecke schien Drumknott Tee zu kochen.

»Ich glaube, es geht nur darum, sich in den Schreibenden zu versetzen«, fuhr Vetinari fort und betrachtete einen Brief, der mit schmierigen Fingerabdrücken und etwas übersät war, das wie die Überreste eines Frühstücks aussah. »Ich kann mir vorstellen, dass das in manchen Fällen ein sehr weites Feld ist.«

»Frank und Dave schaffen es, fünf von sechs Fällen zu lösen«, sagte Feucht.

»Sie sind wahrhaftige Zauberer«, sagte Vetinari. Er drehte sich zu den Männern um, die nervös lächelten und zurückwichen, wobei sie ihr Lächeln wie einen Schutzschild in der Luft hängen ließen. Er setzte hinzu: »Aber ich glaube, es ist Zeit für ihre Teepause.«

Die beiden schauten zu Drumknott hinüber, der gerade Tee in zwei Tassen goss.

»Wollt ihr nicht woanders hingehen?«, schlug Vetinari vor.

Keine Expresszustellung hat sich je schneller bewegt als Frank und Dave. Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, fuhr Vetinari fort: »Du hast dich in der Bank umgesehen? Zu welchen Schlussfolgerungen bist du gelangt?«

»Ich glaube, ich würde meinen Daumen lieber in einen Fleischwolf stecken, als mit der Familie Üppig zu tun zu haben«, sagte Feucht. »Gut, ich könnte vielleicht ein paar Sachen machen, und das Münzamt müsste wirklich mal kräftig durchgeschüttelt werden. Aber die Bank sollte von jemandem geleitet werden, der etwas von Banken versteht.«

»Leute, die etwas von Banken verstehen, haben die Bank in die Lage gebracht, in der sie jetzt ist«, sagte Vetinari. »Und ich bin nicht zum Herrscher über Ankh-Morpork geworden, weil ich etwas von dieser Stadt verstehe. Genauso wie das Bankwesen ist die Stadt deprimierend einfach zu verstehen. Ich bin Herrscher geblieben, weil ich die Stadt dazu gebracht habe, mich zu verstehen.«

»Ich habe dich verstanden, Herr, als du etwas über Engel gesagt hast, weißt du noch? Jedenfalls hat es funktioniert. Ich bin eine geläuterte Persönlichkeit und werde mich weiter wie eine solche verhalten.«

»Sogar bis hin zur goldlichen Kette?«, fragte Vetinari, während Drumknott ihm eine Tasse Tee reichte.

»Darauf kannst du einen lassen!«

»Frau Üppig war sehr von dir beeindruckt.«

»Sie sagte, ich wäre ein ausgemachter Schurke!«

»Ein großes Lob, wenn es von Tüppi kommt«, sagte Vetinari und seufzte. »Natürlich kann ich eine geläuterte Persönlichkeit wie dich nicht dazu zwingen ...«Er hielt inne, als Drumknott sich zu ihm herabbeugte, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. »... nun, ich kann dich sicherlich zwingen, aber ich glaube nicht, dass ich es bei dieser Gelegenheit tun werde. Drumknott, schreib bitte Folgendes nieder: >Ich, Feucht von Lipwig, erkläre hiermit, dass ich weder den Wunsch noch die Absicht habe, irgendeine Bank in Ankh-Morpork zu führen oder an der Führung einer solchen beteiligt zu sein. Stattdessen widme ich meine ganze Kraft der weiteren Verbesserung des Postamts und des Klackersystems.< Lass Platz für das Datum und Herrn Lipwigs Unterschrift. Und dann ...«

»Moment mal, warum ist es nötig ...?«, begann Feucht.

»... fahre wie folgt fort: >Ich, Havelock Vetinari, etc., bestätige, dass ich mit Herrn Lipwig über die Zukunft des Bankwesens von Ankh-Morpork diskutiert habe und uneingeschränkt seinen Wunsch respektiere, die gute Arbeit fortzusetzen, die er für das Postamt geleistet hat, völlig frei und ohne Behinderung oder Strafen Platz für Unterschrift etc. Vielen Dank, Herr Drumknott.«

»Was soll das Ganze?«, fragte Feucht verwirrt.

»Die Times scheint zu glauben, dass ich die Königliche Bank verstaatlichen möchte«, sagte Vetinari.

»Verstaatlichen?«, fragte Feucht.

»Stehlen«, übersetzte Vetinari. »Ich weiß nicht, wie es zu solchen Gerüchten kommen konnte.«

»Vielleicht, weil sogar Tyrannen Feinde haben?«, sagte Feucht.

»Wie stets treffend auf den Punkt gebracht, Herr Lipwig«, sagte Vetinari und bedachte ihn mit einem strengen Blick. »Gib ihm das Memorandum zur Unterschrift, Drumknott.«

Drumknott tat es und legte großen Wert darauf, dass er danach seinen Stift zurückbekam, wobei er Lipwig mit süffisantem Blick ansah. Dann erhob sich Vetinari und klopfte sein Gewand ab.

»Ich erinnere mich sehr gut an unser interessantes Gespräch über Engel, Herr Lipwig, und ich erinnere mich, dir gesagt zu haben, dass man immer nur einen bekommt«, sagte er etwas steif. «Vergiss das nicht.«

»Wie es scheint, kann die Katze das Mausen doch nicht lassen, Herr«, sinnierte Drumknott, als der Abendnebel hüfthoch über die Straßen trieb.

»So scheint es in der Tat. Aber Feucht von Lipwig ist ein Mann des Anscheins. Ich bin überzeugt, dass er alles glaubt, was er gesagt hat, aber man muss hinter die Fassade schauen und den Lipwig darunter erkennen, eine ehrliche Seele mit einem vorzüglichen kriminellen Verstand.«

»Etwas Ähnliches hast du schon einmal gesagt, Herr«, erwiderte der Sekretär, als er die Kutschentür aufhielt, »aber wie es scheint, hat seine Ehrlichkeit nun die Oberhand gewonnen.«

Vetinari zögerte, nachdem er bereits einen Fuß auf das Trittbrett gestellt hatte. »In der Tat, Drumknott, aber der Umstand, dass er dir schon wieder den Schreibstift gestohlen hat, macht mir Hoffnung.«

»Das hat er nicht, Herr, denn diesmal habe ich darauf geachtet, ihn wieder in meine Tasche zu stecken!«, erwiderte Drumknott triumphierend.

»Ja«, sagte Vetinari fröhlich und ließ sich auf die knarrenden Ledersitze sinken, während Drumknott mit zunehmender Verzweiflung seine Taschen abklopfte. »Ich weiß.«

In der Nacht hielten sich Wachen in der Bank auf. Sie liefen entspannt ihre Runden in den Korridoren, pfiffen leise vor sich hin und beruhigten sich mit der Gewissheit, dass die Bösewichter durch die allerbesten Schlösser draußen gehalten wurden. Außerdem war das gesamte Erdgeschoss mit Marmor gefliest, auf dem in den langen, stillen Stunden der Nacht jeder Schritt wie ein Donnerschlag hallte. Manche Wächter dösten im Stehen mit halb geöffneten Augen.

Aber jemand ignorierte die Schlösser aus Eisen, überwand die Riegel aus Messing, schritt lautlos über die Bodenfliesen und spazierte vor der Nase der dösenden Männer entlang. Doch als die Gestalt durch die großen Türflügel in das Büro der Direktorin trat, sausten zwei Armbrustbolzen durch sie hindurch und ließen das schöne Holz der Tür zersplittern.

»Na gut, du kannst es mir nicht verübeln, dass ich es versucht habe«, sagte Frau Üppig.

ICH BIN ES GEWOHNT, NICHT AUF DIE FREUNDLICHSTE WEISE BEGRÜSST ZU WERDEN, FRAU TÜPPI ÜPPIG, sagte Tod.

»Du sprichst mir aus der Seele!«, seufzte Tüppi. »Aber was rede ich? Mit Seelen kennst du dich ja aus.«

DER TAG DER ABRECHNUNG IST GEKOMMEN, FRAU ÜPPIG. DAS GESCHÄFTSBUCH WIRD GESCHLOSSEN.

»Drückst du dich bei solchen Gelegenheiten immer mit Anspielungen aus dem Bankwesen aus?«, sagte Tüppi und stand auf. Jemand anderer blieb erschlafft im Sessel zurück, aber es war nicht mehr Frau Üppig.

ICH VERSUCHE MICH AUF DIE SITUATION EINZUSTELLEN, FRAU ÜPPIG.

»Vom >Bilanzabschluss< zu sprechen, würde auch nicht schlecht klingen.«

VIELEN DANK. DAS WERDE ICH MIR MERKEN. WENN DU MIR JETZT BITTE FOLGEN WÜRDEST...

»Offenbar habe ich mein Testament gerade noch rechtzeitig gemacht«, sagte Tüppi und öffnete ihr weißes Haar.

ES IST IMMER GUT, WENN MAN SEINE NACHKOMMENSCHAFT VERSORGT WEISS, FRAU ÜPPIG.

»Meine Nachkommenschaft? Die Üppigs können mir mal den Hintern abknutschen, Herr! Ich habe es ihnen heimgezahlt! Und was kommt jetzt, Gevatter Tod?«

JETZT?, SAGTE TOD. MAN KÖNNTE ES SO AUSDRÜCKEN, DASS JETZT DIE BUCHPRÜFUNG KOMMT.

»Oh! Es gibt tatsächlich eine? Na gut, es gibt nichts, wofür ich mich schämen müsste.«

NUR DAS ZÄHLT.

»Gut so«, sagte Tüppi.

Sie nahm Tods Arm und folgte ihm durch die Tür und weiter in die schwarze Wüste unter der endlosen Nacht.

Nach einiger Zeit setzte sich Herr Quengler auf und begann zu winseln.

Am nächsten Morgen stand in der Times ein kleiner Artikel über die Lage der Banken. Darin kam ziemlich häufig das Wort »Krise« vor.

Ach, dachte Feucht, als er den vierten Absatz las, da kommt es. Beziehungsweise, da komme ich.

»Lord Vetinari vertraute der Times an: >Es ist wahr, dass ich mit Erlaubnis der Bankdirektorin ein Gespräch mit dem Postminister geführt habe. Darin ging es um die Möglichkeit, dass er der Königlichen Bank in diesen schwierigen Zeiten zur Seite steht. Er hat abgelehnt, und damit ist die Sache für mich erledigt. Die Regierung ist nicht dafür zuständig, Banken zu führen. Die Zukunft der Königlichen Bank von Ankh-Morpork liegt allein in den Händen ihrer Direktoren und Anteilseignern«

Und der Götter, dachte Feucht.

Er stürzte sich voller Eifer auf den Eingangskorb. Er widmete sich ganz seiner Arbeit, überprüfte Zahlen, korrigierte Schreibfehler und summte vor sich hin, um die innere Stimme der Versuchung zu übertönen.

Es wurde Mittag, und Gladys kam mit einem Teller, auf dem dreißig Zentimeter breite Käsesandwiches lagen sowie ein Exemplar der Mittagsausgabe der Times.

Frau Üppig war vergangene Nacht verstorben. Feucht starrte auf die Meldung. Es hieß, dass sie nach langer Krankheit still im Schlaf dahingeschieden war.

Er ließ die Zeitung fallen und starrte die Wand an. Die Frau hatte den Eindruck gemacht, dass sie nur noch durch Mumm und Gin zusammengehalten wurde. Aber diese Vitalität, dieser Lebenswille ... dennoch konnte sie nicht auf ewig bei der Stange bleiben. Was würde jetzt geschehen? Er dankte den Göttern, dass er heil aus der Sache herausgekommen war!

Und heute war vermutlich kein guter Tag, wenn man Herr Quengler war. Feucht hatte den Eindruck gewonnen, dass er ein eher schwerfälliger Hund war, also sollte er lieber lernen, sehr schnell zu laufen.

Die letzte Post, die Gladys ihm heraufgebracht hatte, enthielt einen langen und bereits mehrfach benutzten Briefumschlag, der in dicken schwarzen Lettern »pesöhnlich« an ihn adressiert war. Er schlitzte ihn mit dem Brieföffner auf und schüttelte ihn vorsichtshalber über dem Papierkorb aus.

Darin befand sich eine zusammengefaltete Zeitung. Es war, wie sich herausstellte, die gestrige Times, und auf der ersten Seite war Feucht von Lipwig abgebildet. Er war eingekreist.

Feucht drehte die Zeitung um. Auf der Rückseite standen in winziger, ordentlicher Handschrift die Worte:

Sehr geehrter Herr, ich habe Vorkehrungen getroffen und verschiedene aidesstattliche Erklärungen bei vertrauenswürdigen Partnern hinterlegt. Du wirst wieder von mir hörn.

Ein Freund

Keine Panik, immer mit der Ruhe ... Das kann nicht von einem Freund sein. Alle, die ich für meine Freunde halte, beherrschen die Rechtschreibung. Das kann nur irgendein Schabernack sein, nicht wahr? Aber er wusste nicht, welche Leichen er im Keller haben sollte ...

Nun gut, wenn man es penibel genau nahm, waren es schon einige, vielleicht sogar genug, um eine große Krypta zu füllen, und vielleicht blieben sogar einige übrig, um ein Gruselkabinett auf dem Jahrmarkt mit Skeletten auszustatten und daraus ein paar Aschenbecher als makabren Partyspaß herzustellen. Aber man hatte sie nie mit dem Namen Lipwig in Verbindung bringen können. Darauf hatte er stets großen Wert gelegt. Seine Verbrechen waren mit Albert Spangler gestorben. Ein guter Henker wusste genau, wie stark das Seil sein musste, und er hatte ihn mit großem handwerklichen Geschick von einem Leben in ein anderes befördert.

Konnte irgendwer ihn wiedererkannt haben? Aber er war doch der am wenigsten wiedererkennbare Mann der Welt, wenn er nicht seinen goldenen Anzug trug! Als er noch ein Kind gewesen war, hatte seine Mutter häufig den falschen Jungen von der Schule abgeholt!

Und wenn er den Anzug trug, erkannten die Leute den Anzug wieder. Er versteckte sich durch seine Unauffälligkeit...

Es konnte nur irgendein böser Scherz sein. Ja, das war es. Die alte Nummer mit dem »dunklen Geheimnis«. Wahrscheinlich konnte sich niemand in eine höhere Position hinaufarbeiten, ohne dass es in seiner Vergangenheit ein paar Dinge gab, die er lieber nicht öffentlich machen wollte. Aber das mit den eidesstattlichen Erklärungen war ein netter Zug. Damit brachte man jeden, der zur Nervosität neigte, ins Grübeln. Es deutete an, dass der Absender etwas wusste, das so gefährlich war, dass der Empfänger versuchen könnte, ihn zum Schweigen zu bringen, aber der Absender war durchaus imstande, seinem Gegner die Anwälte an den Hals zu schicken.

Ha! Und man ließ ihm noch etwas Zeit, in der er wahrscheinlich im eigenen Saft schmoren sollte. Er! Feucht von Lipwig! Dann würde der Unbekannte eben erfahren, wie heiß so ein Schmorbraten werden kann! Vorläufig deponierte er den Brief in der untersten Schublade. Ha!

Es klopfte an der Tür.

»Herein, Gladys«, sagte er und kramte weiter im Eingangskorb.

Die Tür öffnete sich, und dahinter erschien das besorgte, blasse Gesicht von Stanley Heuler.

»Ich bin es, Herr. Stanley, Herr«, sagte das Gesicht.

»Ja, Stanley?«

»Der Leiter der Abteilung Briefmarken des Postamts, Herr«, fügte Stanley hinzu, falls seine erste Identifikation nicht hinreichend eindeutig war.

»Ja, Stanley, ich kenne dich«, sagte Feucht nachsichtig. »Wir sehen uns jeden Tag. Was möchtest du von mir?«

»Nichts, Herr«, sagte Stanley. Es folgte eine Pause, in der Feucht seinen Verstand darauf abstimmte, wie sich die Welt im Gehirn von Stanley Heuler darstellte. Stanley war sehr ... pedantisch. Und so geduldig wie ein Grab.

»Was ist der Grund, der dich veranlasst hat, an diesem Tag hierher zu mir zu kommen, Stanley?«, fragte Feucht, wobei er sich bemühte, den Satz möglichst deutlich zu artikulieren und zu gliedern.

»Unten ist ein Anwalt, Herr«, verkündete Stanley.

»Aber ich habe doch gerade erst den Drohb...«, begann Feucht, doch dann entspannte er sich wieder. »Ein Anwalt? Hat er gesagt, weswegen?«

»Er sprach von einer sehr wichtigen Angelegenheit, Herr. Bei ihm sind zwei Wächter. Und ein Hund.«

»Wirklich?«, sagte Feucht ruhig. »Gut, dann solltest du sie vielleicht zu mir führen.«

Er blickte auf die Uhr.

Also ... gut... Gar nicht gut!

Der Lancre-Express würde in fünfundvierzig Sekunden abfahren. Er wusste, dass er in elf Sekunden die verdammte Regenrinne hinuntergeklettert sein konnte. Stanley war auf dem Weg nach unten, um sie hinaufzuführen, was vielleicht dreißig Sekunden dauerte. Hauptsache, sie hielten sich nicht mehr im Erdgeschoss auf. Hinten auf die Kutsche klettern und wieder abspringen, wenn sie am Mittwärtigen Tor langsamer wurde, sich den Blechkasten schnappen, die er in den Balken des alten Stalls am Hohen Schlag versteckt hatte, sich umziehen und seinen Gesichtsausdruck anpassen, durch die Stadt schlendern und einen Kaffee in diesem Laden in der Nähe des Hauptwachhauses trinken, eine Zeit lang das Treiben der Klacker im Auge behalten, dann zum Henne-und-Küken-Feld hinüberspazieren, wo er eine weitere Kiste bei Ich-weiß-nichts-Jack deponiert hatte, sich umziehen, mit der kleinen Tasche und seiner Tweedmütze aufbrechen (die er in irgendeiner Gasse gegen die alte braune Melone in der Tasche austauschen würde, nur für den Fall, dass Jack plötzlich sein Gedächtnis wiederfand, was mit einer größeren Geldsumme als Anreiz durchaus geschehen mochte), dann würde er sich zum Schlachthausviertel hinunterschleichen, die Rolle von Jeff dem Viehtreiber annehmen und in der riesigen stinkenden Bar namens »Schlachtadler« abhängen, wo die Viehtreiber traditionell den Straßenstaub hinunterspülten. Neuerdings gab es einen Vampir in der Wache und schon seit Jahren außerdem einen Werwolf. Sollten diese grandiosen feinen Nasen doch den gut durchgerührten Cocktail aus Gestank nach Dung, Angst, Schweiß, Abfall und Urin aufnehmen! Mal sehen, wie er ihnen schmeckte! Und das betraf lediglich die Bar - in den Schlachthäusern war es noch viel schlimmer.

Dann würde er vielleicht bis zum Abend warten, um eine Mitfahrgelegenheit auf den dampfenden Dungkarren zu nutzen, die die Stadt verließen, zusammen mit den anderen betrunkenen Viehtreibern. Die Torwachen machten sich nie die Mühe, diese Fuhren zu überprüfen. Falls sein sechster Sinn sich dann immer noch melden sollte, würde er mit irgendeinem Betrunkenen das Fingerhutspiel durchziehen, bis er genug zusammen hatte, um sich eine Flasche Parfüm und einen billigen, aber ansehnlichen Anzug aus dritter Hand bei einem Trödler zu kaufen, sich anschließend zu Frau Eucrasia Arkanums Pension für respektable arbeitende Leute begeben, wo er mit Hut und Drahtbrille Herr Unbefug Schlüpf-hahn sein würde, ein Wollhändler, der immer dort übernachtete, wenn seine Geschäfte ihn in die Stadt führten, und der jedes Mal ein kleines Geschenk mitbrachte, das für eine Witwe ihres Alters angemessen war - zumindest des Alters, in dem sie zu sein vorgab. Ja, das war die bessere Idee. Bei Frau Arkanum war das Essen gehaltvoll, die Betten waren gut, und sie mussten selten mit jemandem geteilt werden.

Dann konnte er konkretere Pläne schmieden.

Diese Ausweichroute spulte sich blitzschnell vor seinem inneren Auge ab. Der Blick seiner äußeren Augen fiel auf etwas weniger Angenehmes. Auf dem Hof befand sich ein Polizist, der mit einigen Kutschern sprach. Feucht erkannte Feldwebel Fred Colon, dessen Hauptaufgabe darin zu bestehen schien, durch die Stadt zu schlendern und mit Männern von gleichem Alter und Auftreten wie er selbst zu plaudern.

Der Wächter entdeckte Feucht am Fenster und winkte ihm zu.

Nein, alles wurde viel zu kompliziert und chaotisch, wenn er wegrannte. Er würde sich hier oben aus der Sache rausreden müssen. Schließlich hatte er, wenn man es genau nahm, gar nichts Falsches getan. Der Brief hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht, das war alles.

Feucht saß an seinem Schreibtisch und machte einen beschäftigten Eindruck, als Stanley zurückkehrte und Herrn Schräg herein führte, den bekanntesten und - mit 351 Jahren - wahrscheinlich auch ältesten Rechtsanwalt der Stadt. Er wurde begleitet von Feldwebel Angua und Korporal Nobbs, von dem Gerüchte behaupteten, dass er der geheime Werwolf der Wache war. Korporal Nobbs führte einen großen Weidenkorb mit sich, und Feldwebel Angua hielt einen quietschenden Gummiknochen in der Hand, den sie gelegentlich geistesabwesend quietschen ließ. Die Lage schien sich gebessert zu haben, aber merkwürdig zu bleiben.

Sie tauschten Nettigkeiten aus, die gar nicht besonders nett waren, wenn er Nobby Nobbs und dem Anwalt, der nach Balsamieröl roch, so nahe war, doch als sie damit fertig waren, sagte Herr Schräg: »Ich glaube, du warst gestern zu Besuch bei Frau Tüppi Üppig, Herr Lipwig.«

»Oh ja. Äh, als sie noch lebte«, sagte Feucht und verfluchte sich selbst und den unbekannten Schreiber des Briefes. Er war dabei, es zu verpatzen, daran gab es keinen Zweifel.

»Wir ermitteln nicht in einem Mordfall, Herr«, sagte Feldwebel Angua ruhig.

»Bist du dir sicher? In Anbetracht der Umstände ...«

»Es ist unsere Aufgabe, ganz sicher zu gehen, Herr«, sagte Angua, »in Anbetracht der Umstände.«

»Also glaubt ihr nicht, dass es die Familie war?«

»Nein, Herr. Und du warst es auch nicht.«

»Ich?« Feucht reagierte mit angemessen erstaunt aufgerissenem Mund.

»Es war bekannt, dass Frau Üppig sehr krank war«, sagte Herr Schräg. »Und wie es scheint, war sie sehr von dir angetan, Herr Lipwig. Sie hat dir ihren kleinen Hund vermacht, Herrn Quengler.«

»Und dazu eine Tasche mit Spielzeug, Teppichen, Karojäckchen, Stiefelchen, acht Halsbändern, einschließlich eines mit Diamanten besetzten, und, ach, eine riesige Menge anderes Zeug«, sagte Feldwebel Angua. Wieder quietschte sie mit dem Gummiknochen.

Feucht schloss den Mund. »Den Hund«, sagte er mit tonloser Stimme. »Nur den Hund? Und sein Spielzeug?«

»Hast du mehr erwartet?«, fragte Angua.

»Ich hatte nicht einmal das erwartet!« Feucht blickte auf den Korb. Er war verdächtig still.

»Ich habe ihm eine von seinen kleinen blauen Pillen gegeben«, erklärte Nobby Nobbs. »Sie lassen ihn eine Weile schlafen. Funktioniert allerdings nicht bei Menschen. Sie schmecken nach Anis.«

»All das ist doch ein bisschen ... seltsam, nicht wahr?«, sagte Feucht. »Warum ist die Wache hier? Wieso das Diamanthalsband? Jedenfalls hätte ich gedacht, dass der letzte Wille erst nach der Beerdigung verlesen wird ...«

Herr Schräg hustete. Dabei flog eine Motte aus seinem Mund. »Grundsätzlich ja. Aber da ich den Inhalt ihres Testaments kenne, hielt ich es für umsichtig, zur Königlichen Bank zu eilen und unverzüglich die wichtigsten ...«

Es folgte eine sehr lange Pause. Für einen Untoten ist das ganze Leben eine einzige Pause, aber offenbar brauchte er so lange, um nach dem richtigen Wort zu suchen.

»... problematischen Nachlassangelegenheiten zu regeln«, vervollständigte er den Satz.

»Ja, ich kann mir vorstellen, dass das Hündchen gefüttert werden muss«, sagte Feucht, »aber ich hätte nicht gedacht, dass ...«

»Das ... Problem, wenn man es so bezeichnen möchte, ist in diesem Fall der Papierkram«, sagte Herr Schräg und zog eine dünne braune Brieftasche aus der Jacke hervor.

»Ein falscher Stammbaum?«, fragte Feucht.

»Es geht nicht um seinen Stammbaum«, sagte Herr Schräg. »Dir ist vielleicht bekannt, dass der verstorbene Sir Joshua Herrn Quengler einen Anteil an der Bank in Höhe von einem Prozent vermacht hat.«

Ein kalter, schwarzer Wind wehte plötzlich durch Feuchts Hirn.

»Ja«, sagte er. »Das ist mir bekannt.«

Die verstorbene Frau Üppig hat ihm weitere fünfzig Prozent vermacht. Nach den Richtlinien der Bank bedeutet das, dass er der neue Direktor ist, Herr Lipwig. Und er gehört jetzt dir.«

Moment mal, ein Tier kann doch nicht der Besitzer ...«

»Aber sicher, Herr Lipwig, aber sicher!«, sagte Schräg mit der Schadenfreude, die nur Anwälte an den Tag legen können. »Es gibt eine große Anzahl von Präzedenzfällen. Es gab sogar schon einen Esel, der zum Priester geweiht, und eine Schildkröte, der das Richteramt übertragen wurde. Offenbar sind die etwas schwierigeren Branchen nicht so stark vertreten. Bislang war zum Beispiel noch kein Pferd im Beruf des Zimmermanns tätig. Aber ein Hund in leitender Position ist durchaus nichts Ungewöhnliches.«

»Das ist doch völlig absurd! Sie hat mich kaum gekannt!« Doch eine Stimme in seinem Hinterkopf rief: Oh, doch, das hat sie! Sie hat dich mit einem einzigen Blick durchschaut!

Das Testament wurde mir gestern Abend diktiert, Herr Lipwig, in Anwesenheit zweier Zeugen und des Arztes von Frau Üppig, der ihr zwar keine körperliche, aber völlige geistige Gesundheit attestierte.« Herr Schräg erhob sich. »Kurz gesagt, das Testament ist rechtsgültig. Absurditäten sind kein juristisches Ausschlusskriterium.«

»Aber wie soll er, nun ja, den Vorsitz über eine Versammlung übernehmen? Er kann doch höchstens Sitz machen!«

»Ich gehe davon aus, dass du in seinem Namen den Vorsitz ausübst«, sagte der Anwalt. Von Feldwebel Angua kam wieder ein Quietschen.

»Und was passiert, wenn er stirbt?«, fragte Feucht.

»Oh, danke, dass du mich daran erinnert hast«, sagte Herr Schräg und entnahm seiner Brieftasche ein Dokument. »Ja, hier steht es. Die Anteile werden unter den noch lebenden Familienmitgliedern aufgeteilt.«

»Den noch lebenden Familienmitgliedern? Von seiner Familie? Ich glaube nicht, dass er allzu viel Gelegenheit hatte, eine zu gründen!«

»Nein, Herr Lipwig«, sagte Schräg, »von der Familie Üppig.«

Feucht spürte, wie der Wind noch kälter wurde. »Wie lange lebt ein Hund?«

»Ein gewöhnlicher Hund?«, sagte Nobby Nobbs. »Oder einer, der zwischen einer Horde Üppigs und noch mehr Vermögen steht?«

»Korporal Nobbs, das war eine sehr unpassende Bemerkung!«, fuhr Feldwebel Angua ihn an.

»Entschuldigung.«

»Ähem.« Ein Hüsteln von Herrn Schräg entließ eine weitere Motte in die Freiheit. »Herr Quengler ist es gewohnt, im Direktorenzimmer der Bank zu nächtigen, Herr Lipwig«, sagte er. »Auch du wirst dort schlafen. Diese Bedingung ist an den letzten Willen geknüpft.«

Feucht stand auf. »Das muss ich mir nicht antun!«, protestierte er. »Es ist ja nicht so, dass ich ein Verbrechen begangen hätte! Man kann doch nicht aus dem Grab über das Leben anderer Leute ... na gut, du kannst es, Herr, nichts für ungut, aber sie kann doch nicht einfach ...«

Ein weiterer Umschlag wurde der Brieftasche entnommen. Herr Schräg lächelte, was kein gutes Zeichen sein konnte.

»Frau Üppig hat außerdem diesen sehr persönlichen, von Herzen kommenden Bittbrief an dich geschrieben«, sagte er. »Und nun, Feldwebel, denke ich, dass wir Herrn Lipwig allein lassen sollten.«

Sie gingen hinaus, obwohl Feldwebel Angua schon nach wenigen Sekunden zurückkehrte und ohne ein Wort oder einen Blick in seine Richtung zur Tasche mit dem Spielzeug hinüberging und den quietschenden Gummiknochen hineinwarf.

Feucht trat zum Korb und hob den Deckel. Herr Quengler schaute zu ihm auf, gähnte und richtete sich dann bettelnd auf dem Kissen auf. Sein Schwanz klopfte ein- oder zweimal unsicher auf den Stoff, und in seinen großen Augen stand Hoffnung.

»Schau mich nicht so an, Kleiner«, sagte Feucht und wandte ihm den Rücken zu.

Frau Üppigs Brief war mit Lavendelwasser getränkt und mit einer leichten Gin-Duftnote gewürzt. In sehr ordentlicher Alte-Damen-Handschrift hatte sie geschrieben:

Lieber Herr Lipwig!

Ich bin davon überzeugt, dass du ein lieber, herzlicher Mann bist, der sich um meinen kleinen Herrn Quengler kümmern wird. Bitte sei freundlich zu ihm. Er war in schwierigen Zeiten mein einziger Freund. Geld ist in diesem Zusammenhang ein unschönes Thema, aber du wirst die Summe von $20.000 pro Jahr (in Raten) erhalten, um diese Aufgabe zu erfüllen, worum ich dich inständig bitte.

Wenn du es nicht tust oder Herr Quengler eines unnatürlichen Todes stirbt, gehört dein Arsch der Assassinengilde.

$100.000 sind bei Lord Witwenmacher hinterlegt, und seine jungen Herren werden dich jagen und dich ausweiden, wie du es verdient hast. Kluger Junge!

Mögen die Götter dich für die Freundlichkeit segnen, die du einer Witwe in Not erweist.

Feucht war beeindruckt. Zuckerbrot und Peitsche. Vetinari benutzte nur die Peitsche - oder teilte auch mit dem Zuckerbrot schmerzhafte Schläge aus.

Vetinari! Wenn es einen Mann gab, der ein paar Fragen zu beantworten hatte, dann war er es!

Feuchts Nackenhaare, die nach Jahrzehnten der Vorsicht und zusätzlich durch Frau Üppigs Worte, die ihm immer noch im Kopf herumgingen, sensibilisiert waren, sträubten sich in Panik. Etwas kam durch das Fenster und krachte mit einem dumpfen Knall gelten die Wand. Aber Feucht hechtete bereits zu Boden, als das Glas zerbrach.

In der Tür steckte zitternd ein schwarzer Pfeil.

Feucht kroch über den Teppich, griff nach dem Pfeil und ging sofort wieder in Deckung.

In sauberen weißen Buchstaben, wie die Inschrift auf einem uralten Ring, standen darauf die Worte: ASSASSINENGILDE »WENN STIL GEFRAGT IST«.

Das war bestimmt nur ein Warnschuss. Ein i-Tüpfelchen. Zur Unterstreichung. Nur für alle Fälle ...

Herr Quengler nutzte die Gelegenheit, aus seinem Korb zu springen und Feucht das Gesicht abzulecken. Dem Hündchen war es gleichgültig, wer er war oder was er getan hatte. Er wollte nur sein Freund sein.

»Ich glaube«, gab Feucht ihm nach, »dass wir beide mal dringend Gassi gehen sollten.«

Herr Quengler stieß ein aufgeregtes leises Fiepen aus und zerrte an der Tasche mit den Sachen, bis sie umfiel. Mit hektisch wedelndem Schwanz stürmte er hinein, und als er wieder herauskam, zerrte er einen kleinen roten Hundemantel aus Samt mit sich, auf den das Wort »Dienstag« gestickt war.

»Gut geraten, Kleiner«, sagte Feucht, während er ihm das Jäckchen umschnallte. Es war jedoch nicht einfach, weil er dabei die ganze Zeit mit Hundesabber gewaschen wurde.

»Äh, du weißt nicht zufällig, wo deine Leine ist?«, sagte Feucht und bemühte sich, nicht zu schlucken. Herr Quengler hoppelte zur Tasche und kehrte mit einer roten Leine zurück.

»Also ... gut«, sagte Feucht. »Das dürfte der schnellste Gassigang in der Geschichte der Gassigänge werden. Vielmehr dürfte es sogar auf ein Gassirennen hinauslaufen ...«

Als er nach der Türklinke greifen wollte, ging sie von selbst auf. Im nächsten Moment blickte Feucht auf zwei terrakottafarbene Beine, die so dick wie Baumstämme waren.

»Ich Hoffe, Du Guckst Mir Nicht Unters Kleid, Herr Lipwig!«, grollte Gladys hoch über ihm.

Um was zu sehen?, fragte sich Feucht. »Ach, Gladys«, sagte er. »Wärst du so nett und stellst dich kurz vor das Fenster? Danke!«

Ein plötzliches Tschick! war zu hören, und als Gladys sich umdrehte, hielt sie einen weiteren schwarzen Pfeil zwischen Daumen und Zeigefinger. Durch die plötzliche Verzögerung in Gladys’ Griff war er in Brand geraten.

»Jemand Hat Dir Einen Pfeil Geschickt, Herr Lipwig«, verkündete sie.

Wirklich? Puste ihn einfach aus und leg ihn in den Eingangskorb, ja?«, sagte Feucht, während er zur Tür hinauskroch. »Ich gehe nur jemanden fragen, wie ich auf den Hund gekommen bin.«

Er nahm Herrn Quengler unter den Arm und eilte die Treppe hinunter, durch die überfüllte Halle, über die steinernen Stufen nach draußen - und dort war auch schon die schwarze Kutsche, die soeben am Bordstein hielt. Der Mann war immer genau im richtigen Moment zur Stelle, nicht wahr?

Er riss die Tür auf, als die Kutsche zum Stehen gekommen war, warf sich auf einen unbesetzten Sitz, während Herr Quengler fröhlich in seinen Armen bellte, schaute quer über den Teppich und sagte:

»Oh! Entschuldigung ... ich dachte, dies wäre Lord Vetinaris Kutsche...«

Eine Hand streckte sich vor und schlug die Tür zu. Sie trug einen großen, schwarzen und sehr teuren Handschuh, der mit Jettperlen bestickt war. Feuchts Blick folgte dem Arm bis zum Gesicht, das sagte:

»Nein, Herr Lipwig. Mein Name ist Cosmo Üppig. Ich wollte dich gerade besuchen. Wie geht es dir?«