Kapitel 1

Im Dunkeln warten - Ein besiegelter Handel - Der Gehängte - Ein Golem im blauen Kleid - Verbrechen und Strafe - Eine Gelegenheit, richtig Geld zu machen - Die goldliche Kette - Herr Beuge gibt die Zeit an

Sie lagen im Dunkeln und wachten. Es gab keine Möglichkeit, die verstreichende Zeit zu messen, und es verspürte auch niemand die Neigung dazu. Es hatte eine Zeit gegeben, als sie noch nicht hier gewesen waren, und es würde wohl auch eine Zeit geben, in der sie nicht mehr hier wären. Dann wären sie woanders. Die Zeitspanne dazwischen war belanglos.

Aber einige waren zerbrochen, und einige andere, die Jüngeren, waren verstummt.
Die Last wurde schwerer.
Etwas musste geschehen.
Einer von ihnen stimmte einen Gesang an.

Es waren harte Verhandlungen. Aber für wen eigentlich? Das war die große Frage. Und Herr Blase, der Anwalt, bekam keine Antwort darauf. Dabei hätte er gerne eine gehabt. Wenn sich diverse Parteien für scheinbar uninteressantes Land interessieren, kann es sich für kleinere Parteien lohnen, Grundstücke in der Nachbarschaft aufzukaufen, nur für den Fall, dass die ersten Parteien vielleicht aufgrund irgendwelchen Party-Klatsches eine gute Partie darin wittern.

Aber es war schwer zu erkennen, was es in diesem Fall zu wittern gab.

Er bedachte die Frau auf der anderen Seite seines Schreibtischs mit einem angemessenen besorgten Lächeln.

»Dir ist sicherlich bekannt, Fräulein Liebherz, dass die Schürfrechte in dieser Region bei den Zwergen liegen. Das bedeutet, dass alles Metall und Metallerz dem Niederen König der Zwerge gehören. Für alles, was du von dort wegschaffst, wirst du erhebliche Förderabgaben an ihn abführen müssen. Nicht dass es dort viel zu holen gibt, wie ich hinzufügen sollte. Es heißt, dass es dort bis ganz unten nur Sand und Schlamm gibt, und zwar bis ziemlich weit nach unten.«

Er wartete, dass die Frau irgendeine Reaktion zeigte, aber sie starrte ihn nur an. Von ihrer Zigarette schlängelte sich blauer Rauch in Spiralen zur Decke des Büros.

»Dann wäre da noch die Sache mit den Antiquitäten«, sagte der Anwalt und beobachtete ihren Gesichtsausdruck, so gut es durch den Dunst ging. »Der Niedere König hat verfügt, dass sämtliche Schmuckstücke, Waffen, Rüstungen, uralte Gegenstände, die als Apparate klassifiziert sind, Töpfe, Schriftrollen oder Knochen, die du vom fraglichen Land fortschaffst, ebenfalls einer Steuer oder der Beschlagnahmung unterliegen.«

Fräulein Liebherz hielt inne, als würde sie die Litanei mit einer Liste in ihrem Kopf abgleichen, dann drückte sie die Zigarette aus und sagte: »Gibt es irgendeinen Anlass zu der Vermutung, dass sich irgendwelche von diesen Dingen dort befinden?«

»Nicht den geringsten«, sagte der Anwalt mit einem verschmitzten Lächeln. »Jeder weiß, dass wir es mit unfruchtbarem Ödland zu tun haben, aber der König möchte für den Fall Vorsorgen, dass dieses >Jeder weiß< nicht stimmt. Weil das recht häufig der Fall ist.«

»Er verlangt sehr viel Geld für eine sehr kurze Pachtzeit!«

»Und du bist bereit, diese Summe zu entrichten. So etwas macht Zwerge nervös, musst du wissen. Es ist sehr ungewöhnlich, dass ein Zwerg Land abtritt, selbst für ein paar Jahre. Ich vermute, dass er das Geld wegen dieser Sache im Koomtal braucht.«

»Ich bezahle die geforderte Summe!«

»Ganz recht, ganz recht. Aber ich ...«

»Wird er sich an den Vertrag halten?«

»Buchstabengetreu. Zumindest das steht fest. Zwerge sind in solchen Dingen sehr pingelig. Du musst nicht mehr tun, als zu unterschreiben und, auch wenn es bedauerlich ist, zu bezahlen.«

Fräulein Liebherz griff in ihre Tasche und zog ein dickes Stück Papier heraus, das sie auf den Tisch legte. »Das ist eine Bankanweisung über fünftausend Dollar, ausgestellt von der Königlichen Bank von Ankh-Morpork.«

Der Anwalt lächelte. »Ein Name, dem man vertrauen kann«, sagte er. »Zumindest hat er Tradition. Unterschreib bitte, wo ich die Kreuze gemacht habe, ja?«

Er sah aufmerksam zu, wie sie unterschrieb, und sie hatte den Eindruck, dass er dabei den Atem anhielt.

»So«, sagte sie und schob den Vertrag über den Schreibtisch zurück.

»Vielleicht könntest du meine Neugier befriedigen, Fräulein Liebherz«, sagte er. »Jetzt, wo die Tinte auf dem Papier trocknet.«

Fräulein Liebherz blickte sich mit Verschwörermiene im Zimmer um, als würden sich hinter den schweren alten Bücherregalen unzählige Ohren verbergen. »Kannst du ein Geheimnis bewahren, Herr Blase?«

»Aber sicher, Fräulein Liebherz. Aber sicher!«

Sie blickte sich noch einmal um. »Trotzdem sollte ich es sehr leise sagen«, flüsterte sie.

Er nickte hoffnungsvoll, beugte sich vor, und zum ersten Mal seit vielen Jahren spürte er den Atem einer Frau an seinem Ohr:

»Ich auch«, sagte sie.

Das war vor fast drei Wochen ...

Manches von dem, was man erleben kann, wenn man bei Nacht an einem Fallrohr hängt, ist äußerst überraschend. Zum Beispiel achtet man viel mehr auf leise Geräusche - das Klicken eines Fensterhakens, das Klirren eines Dietrichs - als auf laute, zum Beispiel, wie ein Ziegelstein auf die Straße fällt, oder vielleicht sogar (schließlich handelt es sich hier um Ankh-Morpork) einen Schrei.

Das waren die lauten Geräusche, die demnach öffentliche Geräusche waren, was wiederum bedeutete, dass sie alle angingen und nicht nur einen selbst. Aber leise Geräusche kamen aus nächster Nähe und verrieten irgendwelche heimlichen Aktivitäten, was bedeutete, dass sie beunruhigender und persönlicher waren.

Deshalb bemühte er sich, keine leisen Geräusche zu verursachen.

Unter ihm lag der Kutschenhof des Hauptpostamts, auf dem es wie in einem umgeworfenen Bienenstock wimmelte. Inzwischen hatten sie es geschafft, dass der regelmäßige Betrieb richtig gut lief. Die Nachtkutschen trafen ein, und der neue Fliegende Überwäldler glänzte im Licht der Lampen. Alles lief gut, was für den nächtlichen Kletterer bedeutete, dass es gar nicht gut lief.

Der Kletterer stieß einen Mauerhaken in weichen Mörtel, verlagerte sein Gewicht, bewegte den Fu...

Verdammte Taube! Sie flatterte erschrocken auf, er rutschte mit dem anderen Fuß ab, seine Finger verloren den Halt an dem Fallrohr, und als die Welt aufhörte, sich zu drehen, verdankte er den Aufschub einer unsanften Begegnung mit den Pflastersteinen tief unter ihm lediglich dem Halt, den ihm der Mauerhaken bot, der, wenn man es recht bedachte, letztlich nicht mehr als ein langer, flacher Nagel mit einem T-förmigen Griff war.

Und eine Wand kann man leider nicht austricksen, dachte er. Wenn er hin und her schwang, konnte es sein, dass er das Rohr mit einer Hand oder einem Fuß zu fassen bekam, aber es konnte auch sein, dass der Haken herausrutschte.

Also ... gut...

Er hatte noch mehr Haken und einen kleinen Hammer dabei. Konnte er einen einschlagen, ohne den Halt am anderen zu verlieren?

Über ihm gesellte sich die Taube zu ihren Kollegen auf einem höher gelegenen Sims.

Der Kletterer stieß den Haken mit gerade so viel Kraft, wie er einzusetzen wagte, in den Mörtel, zog den Hammer aus der Tasche, und während unter ihm der Fliegende Überwäldler ratternd und klingelnd abfuhr, verpasste er dem Nagel einen heftigen Schlag.

Er drang in die Mauer ein. Der Kletterer ließ den Hammer fallen und hoffte, dass der allgemeine Lärm den Aufprall übertönte, und griff nach dem neuen Halt, bevor der Hammer den Boden erreicht hatte.

Also ... gut. Und jetzt... hing er fest?

Das Rohr war weniger als einen Meter entfernt. Schön. Das würde klappen. Beide Hände zu dem neuen Haken bewegen, leicht hin und her schwingen, mit der linken Hand das Rohr zu fassen bekommen, und dann konnte er sich hinüberziehen. Dann wäre es nur noch ...

Die Taube war nervös. Allerdings war das eher der Normalzustand für eine Taube. Und sie wählte genau diesen Augenblick, um sich zu erleichtern.

Also ... gut. Korrektur: Zwei Hände klammerten sich nun um den plötzlich sehr glitschigen Nagel.

Verdammt!

Und in diesem Augenblick - denn Nervosität breitet sich unter Tauben schneller aus, als ein Blitzer durch ein Nonnenkloster rennen kann - setzte ein leises Pladdern ein.

Es gibt Momente, in denen einem der Gedanke »Besser kann’s nicht mehr werden« eher nicht in den Sinn kommt.

Und dann sagte eine Stimme von unten: »Wer ist da oben?«

Danke, Hammer. Sie können mich unmöglich sehen, dachte er. Wer vom gut ausgeleuchteten Hof nach oben schaute, konnte sein Nachtsichtvermögen vergessen. Aber was soll’s? Sie wissen jetzt, dass ich hier oben bin.

Also ... gut.

»Alles klar, hast mich voll erwischt, Boss«, rief er nach unten.

»Ein Dieb, was?«, sagte die Stimme von unten.

»Hab nichts angerührt, Boss. Könnte jemanden gebrauchen, der mir raufhilft, Boss.«

»Gehörst du zur Diebesgilde? Du sprichst in ihrem Jargon.«

»Ich doch nicht, Boss! Ich spreche jeden mit Boss an, Boss.«

Er konnte jetzt nicht mehr so ohne weiteres hinunterschauen, aber die Geräusche von unten deuteten darauf hin, dass Stallknechte und Kutscher außer Dienst herbeischlenderten. Das war nicht gerade hilfreich für ihn. Kutscher trafen Diebe meist auf einsamen Straßen, wo sich die Wegelagerer nur selten mit albernen Fragen wie »Geld oder Leben?« aufhielten. Wenn dann einer geschnappt wurde, gingen Recht und Rache meist eine fröhliche Verbindung in Form eines handlichen Bleirohrs ein.

Unter ihm war Gemurmel zu hören, und wie es schien, war man zu einer Übereinkunft gelangt.

»Also gut, Herr Posträuber«, rief eine gut gelaunte Stimme. »Wir werden es folgendermaßen machen, ja? Wir gehen ins Haus, und dann lassen wir dir ein Seil runter. Ich meine, das ist doch recht und billig, oder?«

»Völlig richtig, Boss.«

Es war die falsche Art von guter Laune. Es war eher die Art guter Laune in dem Wort »Kumpel« wie in »Was guckst du mich so an, Kumpel?«. Die Diebesgilde bezahlte eine Kopfgeldgebühr in Höhe von zwanzig Dollar für jeden nicht akkreditierten Dieb, den man ihr lebend brachte, und es gab sehr viele Möglichkeiten, wie man noch einigermaßen am Leben sein konnte, nachdem man ordentlich in die Mangel genommen worden war.

Er blickte hinauf. Das Fenster der Wohnung des Postministers befand sich genau über ihm.

Also ... gut.

Seine Hände und Arme waren taub geworden, aber gleichzeitig schmerzten sie. Er hörte das Rattern des großen Lastenaufzugs im Gebäude, den Knall einer aufgeworfenen Luke und Schritte auf dem Dach, dann spürte er, wie das Seil seinen Arm berührte.

»Halt fest oder stürz ab«, sagte eine Stimme, als er sich abstrampelte, um danach zu greifen. »Auf lange Sicht läuft es sowieso auf dasselbe hinaus.« In der Dunkelheit war Gelächter zu hören.

Die Männer zogen kräftig am Seil. Die Gestalt baumelte in der Luft, dann stieß sie sich von der Wand ab und schwang zurück. Glas zersplitterte knapp unter der Regenrinne. Das Seil kam hoch, aber es hing niemand mehr dran.

Die Retter blickten sich verdutzt an.

»Also gut, ihr beide zur Vorder- und zur Hintertür, schnell!«, sagte ein Kutscher, der nicht so schwer von Begriff war wie die anderen. »Schneidet ihm den Weg ab! Fahrt im Aufzug runter! Wir anderen durchkämmen Stockwerk um Stockwerk!«

Als sie die Treppe hinunterstürmten und durch die Flure rannten, steckte ein Mann im Morgenmantel den Kopf durch die Tür eines Zimmers und blickte sie voller Erstaunen an. »Wer zur Hölle seid ihr?«, blaffte er sie an. »Weiter, schnappt ihn euch!«

»Ach ja? Und wer bist du?«, fragte ein Stallknecht, während er langsamer wurde und ihn finster anfunkelte.

»Das ist Herr Feucht von Lippwick!«, rief ein Kutscher aus dem Hintergrund. »Der Postminister höchstpersönlich!«

»Jemand ist durch mein Fenster gekracht. Er landete genau zwischen ... ich meine, er wäre fast auf mir gelandet!«, empörte sich der Mann im Morgenmantel. »Er ist durch den Flur geflüchtet! Zehn Dollar für jeden von euch, wenn ihr ihn ergreift! Und übrigens heiße ich Lipwig!«

Damit hätte die Stampede wieder einsetzen müssen, aber dann sagte der Stallknecht in misstrauischem Tonfall: »Komm, sag doch mal das Wort >Boss<.«

»Worauf willst du hinaus?«, fragte der Kutscher.

»Er klingt fast wie dieser Kerl«, sagte der Stallknecht. »Und er ist ziemlich außer Atem!«

»Bist du blöde?«, sagte der Kutscher. »Das ist der Postminister! Er hat einen verdammten Schlüssel! Er hat alle Schlüssel! Warum sollte er in sein eigenes Postamt einbrechen?«

»Ich finde, wir sollten mal einen Blick in sein Zimmer werfen«, sagte der Stallknecht.

»Wirklich? Nun, ich finde, wenn Herr Lipwig in seinem eigenen Zimmer außer Atem gerät, ist das ganz allein seine Angelegenheit«, sagte der Kutscher und zwinkerte Feucht bedeutungsvoll zu. »Und ich finde, dass uns zehn Dollar pro Nase entgehen, nur weil du so ein Blödmann bist. Tut mir leid, Herr«, sagte er zu Lipwig, »er ist neu, und er hat keine Manieren. Wir lassen dich jetzt in Ruhe, Herr«, fügte er hinzu und tippte sich an die Schläfe. »Und nochmals Entschuldigung, falls wir dir Unannehmlichkeiten bereitet haben. Jetzt macht, dass ihr weiterkommt, ihr Mistkerle!«

Als sie außer Sichtweite waren, kehrte Feucht in sein Zimmer zurück und verriegelte sorgfältig die Tür.

Wenigstens verfügte er über einige nützliche Fähigkeiten. Die leise Andeutung, dass sich eine Frau in seinem Zimmer befand, hatte eindeutig den Ausschlag gegeben. Auf jeden Fall war er wirklich der Postminister, und er hatte wirklich alle Schlüssel.

Es war nur noch eine Stunde bis Sonnenaufgang. Heute würde er sowieso keinen Schlaf mehr finden. Er konnte genauso gut offiziell aufstehen und an seinem Ruf arbeiten, fleißig zu sein.

Sie hätten mich durchaus von der Wand schießen können, dachte er, als er sich ein Hemd aussuchte. Sie hätten mich dort hängen lassen und Wetten abschließen können, wie lange es dauern würde, bis ich den Halt verliere. Das wäre typisch Ankh-Morpork gewesen. Er hatte einfach nur Glück gehabt, dass sie beschlossen hatten, ihm eine ordentliche Tracht Prügel zu verpassen, bevor sie ihn der Gilde durch den Briefschlitz zustellten. Und das Glück kommt nur zu denjenigen, die ihm einen Platz einräumen ...

Dann pochte es kräftig, aber doch irgendwie höflich an die Tür.

»Bist Du Salonfähig, Herr Lipwig?«, dröhnte eine laute Stimme.

Bedauerlicherweise ja, dachte Feucht, sagte aber: »Komm rein, Gladys.«

Die Fußbodendielen knarrten, und das Mobiliar auf der anderen Seite des Zimmers wackelte, als Gladys eintrat.

Gladys war ein Golem, ein Mann aus Ton (beziehungsweise, um einer komplizierten Diskussion vorzubeugen, eine Frau aus Ton) und über zwei Meter groß. Sie - nun ja, mit einem Namen wie »Gladys« war »es« undenkbar, und »er« passte einfach nicht - trug ein sehr großes blaues Kleid.

Feucht schüttelte den Kopf. Diese ganze alberne Angelegenheit war eigentlich nur eine Frage der Etikette gewesen. Fräulein Makkalariat, die mit einem Willen aus Stahl und einer Stimme aus Messing über die Schalter des Postamts regierte, hatte Anstoß daran genommen, dass ein männlicher Golem die Damentoiletten putzte. Wie Frau Makkalariat zur Schlussfolgerung gelangt war, dass Golems von Natur aus männlich waren und nicht bloß der Einfachheit halber so bezeichnet wurden, war ein faszinierendes Mysterium, aber es hatte keinen Sinn, mit einer Person wie ihr darüber zu diskutieren.

Doch durch die Ausstattung mit einem bedruckten Baumwollkleid in Übergröße wurde ein Golem weiblich genug, um von Frau Makkalariat als Frau anerkannt zu werden. Das Seltsame daran war, dass Gladys jetzt tatsächlich weiblich war, jedenfalls irgendwie. Es lag nicht nur am Kleid. Sie verbrachte viel Zeit mit den Schaltermädchen, die sie offenbar ungeachtet der Tatsache, dass sie eine halbe Tonne wog, in ihre weibliche Gemeinschaft aufgenommen hatten. Sie liehen Gladys sogar ihre Modezeitschriften aus, obwohl man sich nur schwer vorstellen konnte, was Hautpflegetipps für die Winterzeit für jemanden bedeuteten, der eintausend Jahre alt war und Augen hatte, die wie Löcher in einem Glutofen leuchteten.

Und nun fragte sie ihn, ob er salonfähig war. Wie wollte sie so etwas überhaupt beurteilen können?

Sie hatte ihm eine Tasse Tee und die Stadtausgabe der Times mitgebracht, noch feucht von der Druckerpresse. Beides wurde mit großer Sorgfalt auf dem Tisch platziert.

Und ... oh Götter, sie hatten sein Bild gedruckt! Ein richtiges Bild von ihm! Von ihm und Vetinari und diversen Honoratioren, wie sie gestern Abend zu dem neuen Kerzenleuchter emporgeschaut hatten! Es war ihm gelungen, sich ein wenig zu bewegen, sodass das Bild etwas verschwommen war, aber es war trotzdem das Gesicht, das ihm jeden Morgen aus dem Rasierspiegel entgegenblickte. Von hier bis Gennua gab es überall Leute, die von diesem Gesicht betrogen, beschwindelt, übertölpelt und angeschmiert worden waren. Das Einzige, was er noch nicht getan hatte, war, Leute zu behumsen, aber das lag nur daran, dass er noch nicht heraus gefunden hatte, wie das ging.

Nun gut, er hatte so etwas wie ein Allzweckgesicht, das einen an viele andere Gesichter erinnerte, aber es war schon ziemlich unangenehm, es unwiderruflich gedruckt zu sehen. Manche Leute glaubten, dass Bilder einem die Seele raubten, aber es war seine Freiheit, die Feucht in diesem Moment am Herzen lag.

Feucht von Lipwig, die Stütze der Gesellschaft. Ha!

Etwas veranlasste ihn, sich das Bild genauer anzusehen. Wer war der Mann hinter ihm? Er schien über Feuchts Schulter zu blicken. Feistes Gesicht, kleiner Bart, der fast wie der von Lord Vetinari aussah. Doch der Patrizier trug einen Spitzbart, wohingegen der des anderen Mannes wie das Ergebnis einer missglückten Rasur aussah. Sicherlich jemand von der Bank. An jenem Abend hatte es so viele Gesichter gegeben, so viele Hände, die geschüttelt werden mussten, und jeder hatte mit aufs Bild gewollt. Der Mann wirkte wie hypnotisiert, aber wenn jemand ein Bild von einem macht, konnte das leicht passieren. Nur irgendein Gast auf irgendeiner Veranstaltung ...

Außerdem hatte man das Bild nur deshalb auf Seite eins gebracht, weil jemand entschieden hatte, dass die Titelgeschichte, in der es um eine neue Bankenpleite und eine Menge wütender Kunden ging, die den Bankdirektor auf offener Straße hängen wollten, einer Illustration nicht würdig war. Hatte der Chefredakteur vielleicht den Anstand besessen, ein Bild dieses Ereignisses und etwas Glanz ins Leben der Leser zu bringen? Oh nein, es musste unbedingt ein Bild des unseligen Feucht von Lipwig sein!

Und wenn die Götter einmal entschieden hatten, jemanden in den Matsch zu werfen, konnten sie es sich nicht verkneifen, auch noch Blitz und Donner hinterherzuschicken. Etwas weiter unten auf der Titelseite stand die Schlagzeile BRIEFMARKENFÄLSCHER SOLL GEHÄNGT WERDEN. Man wollte Eulrich Janken hinrichten, und weswegen? Wegen Mordes? Nein, nur weil er ein paar hundert Briefmarkenbögen hergestellt hatte. Sogar in bester Qualität. Die Wache hätte ihm niemals etwas nachweisen können, wenn sie nicht auf seinen Dachboden gestürmt wären und dort ein halbes Dutzend Bögen mit roten Halb-Cent-Marken gefunden hätten, die er zum Trocknen aufgehängt hatte.

Und Feucht hatte deswegen sogar vor Gericht ausgesagt. Ihm war gar nichts anderes übrig geblieben. Es war seine Bürgerpflicht. Das Fälschen von Briefmarken galt als genauso schlimm wie das Fälschen von Münzen, und er hatte sich nicht davor drücken können. Schließlich war er der Postminister und damit eine angesehene Persönlichkeit der Gesellschaft. Er hätte sich ein klein wenig besser gefühlt, wenn der Mann geflucht oder ihn böse angestarrt hätte, aber er hatte nur auf der Anklagebank gesessen, ein kleiner Mann mit dünnem Bart, der einen verlorenen und verwirrten Eindruck machte.

Es war kaum zu glauben, aber er hatte Briefmarken zu einem halben Cent gedruckt! Es konnte einem wirklich das Herz brechen. Nun gut, er hatte auch höhere Werte gefälscht, aber wer würde all diese Widrigkeiten für einen halben Cent auf sich nehmen? Eulrich Janken hatte es getan, und nun hockte er in einer Todeszelle im Kittchen und konnte noch ein paar Tage lang über die Grausamkeit des Schicksals nachgrübeln, bevor man ihn hinausführte und aufhängte.

Alles schon selber erlebt, dachte Feucht. Alles wurde dunkel - und dann fing ein ganz neues Leben für mich an. Aber er hätte niemals gedacht, dass es so schlimm sein würde, ein rechtschaffener Bürger zu sein.

»Äh ... danke, Gladys«, sagte er zu der Gestalt, die in betont vornehmer Haltung über ihm aufragte.

»Du Hast Jetzt Einen Termin Mit Lord Vetinari«, sagte der Golem.

»Ich bin mir sicher, dass dem nicht so ist.«

»Draußen Stehen Zwei Wachen, Die Sich Sicher Sind, Dass Dem So Ist, Herr Lipwig«, grollte Gladys.

Ach, dachte Feucht. So eine Art Termin.

»Und diesen Termin scheine ich genau jetzt in diesem Augenblick zu haben?«

»Ja, Herr Lipwig.«

Feucht griff nach seiner Hose, und ein schwacher Rest seiner anständigen Erziehung ließ ihn zögern. Er blickte auf den Berg aus blauer Baumwolle, der vor ihm aufragte.

»Darf ich bitten?«, sagte er.

Gladys drehte sich um.

Sie besteht aus einer halben Tonne Ton, dachte Feucht bedrückt, während er sich in seine Kleidung kämpfte. Und Wahnsinn ist ansteckend.

Nachdem er sich fertig angezogen hatte, eilte er die Treppe hinunter und auf den Kutschenhof hinaus, der vor kurzem beinahe zu seiner vorletzten Ruhestätte geworden wäre. Die Postkutsche nach Quirm fuhr soeben los, und er sprang zum Kutscher hinauf, nickte dem Mann zu und saß während der Fahrt in seiner ganzen Pracht neben ihm. Sie ratterten den Entgegengesetzten Breiten Weg entlang, bis er vor dem Haupteingang des Palasts hinuntersprang.

Es wäre nett, dachte er, während er die Treppe hinaufeilte, wenn Seine Lordschaft gelegentlich in Erwägung ziehen würde, dass eine Verabredung etwas war, das von mehr als nur einer Person getroffen wurde. Aber schließlich war er ein Tyrann. Für irgendetwas musste dieser Beruf ja gut sein.

Drumknott, der Sekretär des Patriziers, wartete bereits vor der Tür zum Rechteckigen Büro und geleitete ihn eilig zum Stuhl vor dem Schreibtisch Seiner Lordschaft.

Nachdem er neun Sekunden lang emsig geschrieben hatte, blickte Lord Vetinari von den Papieren auf.

»Ach, Herr Lipwig«, sagte er. »Heute gar nicht im goldenen Anzug?«

»Er wird gerade gereinigt, Herr.«

»Ich hoffe, du hattest einen guten Tag. Das heißt, bis jetzt.«

Feucht blickte sich um und ging schnell die derzeitigen kleinen Probleme des Postamts durch. Abgesehen von Drumknott, der mit einer Miene respektvoller Wachsamkeit neben seinem Herrn und Meister stand, waren sie allein.

»Ich kann alles erklären, Herr«, sagte er.

Lord Vetinari zog eine Augenbraue hoch, und zwar mit dem Ausdruck von jemandem, der ein Stück Raupe in seinem Salat gefunden hat und nun unter die übrigen Blätter schaut.

»Bitte tu das«, sagte er und lehnte sich zurück.

»Wir sind vielleicht ein bisschen übers Ziel hinausgeschossen«, sagte Feucht. »Wir waren mit unseren Ideen etwas zu kreativ. Wir haben Mungos dazu gebracht, sich in den Postfächern einzunisten, um die Schlangen in Schach zu halten ...«

Lord Vetinari sagte nichts.

»Ah ... die wir zugegebenermaßen deshalb in den Postfächern ausgesetzt hatten, um die Anzahl der Kröten zu verringern ...«

Lord Vetinari wiederholte sich.

»Äh ... die das Personal, um die Wahrheit zu sagen, in die Briefkästen getan hat, um die Schnecken zu bändigen ...«

Lord Vetinari blieb weiterhin stumm.

»Äh ... und diese, wie ich gerechterweise erwähnen muss, sind von allein in die Postfächer gelangt, weil sie den Klebstoff von den Briefmarken fressen«, sagte Feucht, dem bewusst wurde, dass er zu schwafeln anfing.

»Nun denn, immerhin blieb euch die Mühe erspart, sie selbst hineinzusetzen«, sagte Lord Vetinari gut gelaunt. »Wie du bereits angedeutet hast, könnte dies einer jener Fälle sein, in dem kühle Logik durch gesunden Menschenverstand hätte ersetzt werden sollen - wobei auch schon ein gesunder Hühnerverstand genügt hätte. Aber das ist nicht der Grund, weswegen ich dich heute zu mir zitiert habe.«

»Wenn es um den Briefmarkenkleber mit Kohlgeschmack geht...«, begann Feucht.

Vetinari winkte ab. »Nicht mehr als ein amüsanter Zwischenfall. Und wie ich glaube, ist niemand daran gestorben.«

»Äh, dann vielleicht die Zweite Ausgabe der 50-Cent-Marke?«

»Die im Volksmund den Titel >Die Liebenden< trägt?«, fragte Vetinari. »Ja, die Anstandsliga hat sich deswegen bei mir beschwert, aber...«

»Unserem Künstler war nicht bewusst, was er da zeichnete! Er kennt sich nicht besonders gut mit der Landwirtschaft aus! Er dachte, das junge Paar würde Saatgut ausbringen!«

»Ähem«, sagte Vetinari. »Aber wie ich höre, lässt sich das Anstoß erregende Detail nur mit einem recht großen Vergrößerungsglas erkennen. Das heißt, wer daran Anstoß nimmt, hat es sich in erster Linie selbst zuzuschreiben.« Er zeigte sein typisches feines, ein wenig Furcht einflößendes Lächeln. »Wie ich weiterhin höre, kleben die wenigen Exemplare, die sich unter den Briefmarkensammlern im Umlauf befinden, auf einem neutralen braunen Umschlag.« Er blickte in Feuchts verständnisloses Gesicht und seufzte. »Sag mir, Herr Lipwig, möchtest du gerne richtig Geld machen?«

Feucht dachte einen Moment lang über diese Frage nach und sagte dann sehr vorsichtig: »Was würde mit mir geschehen, wenn ich Ja sagen würde?«

»Du hättest eine neue Karriere voller Herausforderungen und Abenteuer vor dir, Herr Lipwig.«

Feucht rutschte unbehaglich auf dem Stuhl hin und her. Er musste sich nicht umschauen, um zu wissen, dass inzwischen jemand an der Tür stand. Jemand mit schwerem, aber keineswegs groteskem Körperbau, in einem billigen schwarzen Anzug und ohne die geringste Spur von Humor.

»Und - nur rein hypothetisch gefragt - was würde geschehen, wenn ich Nein sage?«

»Du dürftest durch diese Tür dort hinausgehen, und das Thema würde nie wieder zur Sprache kommen.«

Er meinte offensichtlich eine andere Tür. Eine andere als die, durch die sein Besucher hereingekommen war.

»Diese Tür da drüben?« Feucht stand auf und zeigte darauf.

»In der Tat, Herr Lipwig.«

Feucht drehte sich zu Drumknott um. »Dürfte ich mir einen Stift von dir ausborgen, Herr Drumknott? Vielen Dank.« Er ging zur Tür hinüber und öffnete sie. Dann legte er theatralisch eine Hand ans Ohr und ließ mit der anderen den Stift fallen.

»Mal sehen, wie tie...«

Klick! Der Stift traf auf und rollte über recht belastungsfähig wirkende Fußbodendielen. Feucht hob ihn wieder auf und starrte ihn an. Dann kehrte er langsam zu seinem Stuhl zurück.

»War dort nicht letztes Mal eine tiefe Grube voller Spieße?«, fragte er.

»Ich kann mir nicht vorstellen, wie du auf eine solche Idee kommst«, sagte Lord Vetinari.

»Ich bin mir sicher, dass es so war«, beharrte Feucht.

»Kannst du dich erinnern, Drumknott, warum unser Herr Lipwig glaubt, dass sich irgendwann einmal eine tiefe Grube voller Spieße hinter dieser Tür befunden haben soll?«, fragte Vetinari.

»Ich kann mir nicht vorstellen, warum er so etwas glaubt, Euer Lordschaft«, murmelte Drumknott.

»Ich fühle mich im Postamt sehr wohl, weißt du«, sagte Feucht und wurde sich gleichzeitig bewusst, dass es wie eine Rechtfertigung klang.

»Davon bin ich überzeugt. Du gibst einen vorzüglichen Postminister ab«, sagte Vetinari. Dann wandte er sich an Drumknott. »Nachdem ich hiermit fertig bin, sollte ich mich lieber mit der Nachtpost aus Gennua beschäftigen.« Dabei faltete er den Brief sorgfältig zusammen und steckte ihn in einen Umschlag.

»Ja, Euer Lordschaft«, sagte Drumknott.

Der Tyrann von Ankh-Morpork beugte sich über seine Arbeit. Feucht sah verständnislos zu, wie Vetinari einen kleinen, aber recht schwer aussehenden Kasten aus einer Schublade des Schreibtischs nahm, daraus ein Stück schwarzes Siegelwachs hervorholte und eine kleine Pfütze aus Wachs auf den Umschlag tropfen ließ. Er ging so sehr in dieser Beschäftigung auf, dass Feucht beinahe wütend wurde.

»Wäre das alles?«, fragte er.

Vetinari blickte auf und schien überrascht zu sein, ihn immer noch in seinem Büro zu sehen. »Aber ja, Herr Lipwig. Du darfst gehen.« Er legte das Stück Siegelwachs zurück und entnahm dem Kasten einen schwarzen Siegelring.

»Ich meine, gibt es da vielleicht noch irgendein Problem?«

»Nein, nicht im Geringsten. Du bist zu einem vorbildlichen Bürger der Stadt geworden, Herr Lipwig«, sagte Vetinari und stempelte vorsichtig ein V in das abkühlende Wachs. »Du stehst jeden Morgen um acht auf, und du sitzt eine halbe Stunde später an deinem Schreibtisch. Du hast das Postamt, das zuvor eine Katastrophe war, in eine reibungslos laufende Maschine verwandelt. Du zahlst deine Steuern, und ein kleiner Vogel sagt mir, dass du als Kandidat für den Posten des Vorsitzenden der Kaufmannsgilde gehandelt wirst. Gut gemacht, Herr Lipwig!«

Feucht stand auf, um zu gehen, hielt jedoch noch einmal inne. »Was wäre so falsch daran, wenn ich Vorsitzender der Kaufmannsgilde würde?«

Betont langsam und umständlich legte Lord Vetinari den Siegelring in den Kasten zurück und stellte dann den Kasten wieder in die Schreibtischschublade. »Wie bitte? Ich kann dir nicht folgen, Herr Lipwig.«

»Ich frage nur, weil du es so gesagt hast, als wäre damit irgendetwas nicht in Ordnung«, sagte Feucht.

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Vetinari und sah seinen Sekretär an. »Habe ich diesen Satz in abfälligem Tonfall gesprochen, Drumknott?«

»Nein, Euer Lordschaft. Du hast bei vielen Gelegenheiten darauf hingewiesen, dass die Kaufmannsleute und Geschäftsbesitzer das Rückgrat der Stadt sind«, sagte Drumknott und überreichte ihm einen dicken Aktenordner.

»Ich werde eine goldliche Kette bekommen«, sagte Feucht.

»Er wird eine goldliche Kette bekommen, Drumknott«, stellte Vetinari fest und widmete sich einem neuen Brief.

»Und was ist daran so schlimm?«, verlangte Feucht zu wissen.

Erneut blickte Vetinari mit dem Ausdruck eindeutig gespielter Verwirrung auf. »Geht es dir wirklich gut, Herr Lipwig? Mit deinem Hörvermögen scheint etwas nicht zu stimmen. Jetzt geh! Das Hauptpostamt öffnet in zehn Minuten, und ich bin mir sicher, dass du deinem Personal ein gutes Vorbild sein möchtest.«

Als Feucht gegangen war, legte der Sekretär vorsichtig einen Ordner vor Vetinari auf den Schreibtisch. Er trug die Aufschrift »Albert Spangler/Feucht von Lipwig«.

»Vielen Dank, Drumknott, aber warum?«

»Das Todesurteil für Albert Spangler besteht weiterhin, Euer Lordschaft«, murmelte er.

»Ah, ich verstehe«, sagte Lord Vetinari. »Du glaubst, ich würde Herrn Lipwig darauf hinweisen, dass er unter seinem Schurkennamen Albert Spangier immer noch gehängt werden könnte? Du glaubst, ich könnte ihm gegenüber andeuten, dass ich lediglich die Zeitungen über mein Entsetzen informieren müsste, als ich herausfand, dass unser ehrenwerter Herr Lipwig kein anderer als der Meisterdieb, Fälscher und Hochstapler ist, der in vielen Jahren viele hunderttausend Dollar gestohlen, Banken ausgeraubt und ehrliche Geschäftsleute in die Armut getrieben hat? Glaubst du, ich würde ihm damit drohen, meine vertrauenswürdigsten Buchhalter zu ihm zu schicken, um die Kassen des Postamts zu prüfen, wobei sie, da bin ich mir sicher, Hinweise auf die eklatantesten Unterschlagungen finden werden? Glaubst du, sie würden beispielsweise feststellen, dass der komplette Pensionsfonds des Postamts verschwunden ist? Glaubst du, ich würde der Welt gegenüber meine Bestürzung darüber zum Ausdruck bringen, dass der Schuft Lipwig dem Strick des Henkers mit Unterstützung unbekannter Personen entkommen konnte? Glaubst du, um es zusammenzufassen, ich würde ihm erklären, wie leicht ich einen Mann so tief zu Boden stürzen lassen kann, dass seine ehemaligen Freunde in die Knie gehen müssen, wenn sie auf ihn spucken wollen? Ist es das, was du angenommen hast, Drumknott?«

Der Sekretär blickte zur Decke hinauf. Seine Lippen bewegten sich etwa zwanzig Sekunden lang, während Lord Vetinari mit seinem Papierkram weitermachte. Dann senkte er den Blick und sagte: »Ja, Euer Lordschaft. Das fasst es recht treffend zusammen, glaube ich.«

»Aber es gibt doch viel mehr als nur eine Möglichkeit, jemanden auf die Folterbank zu spannen, Drumknott.«

»Mit dem Gesicht nach oben oder nach unten, Euer Lordschaft?«

»Vielen Dank, Drumknott. Ich weiß deinen kultivierten Mangel an Phantasie sehr zu schätzen, wie du weißt.«

»Ja, Herr. Danke, Herr.«

»Am besten ist es, Drumknott, wenn man ihn dazu bringt, die Folterbank mit eigenen Händen zu bauen und selbst am Rad zu drehen.«

»Ich weiß nicht recht, ob ich dir folgen kann, Euer Lordschaft.«

Lord Vetinari legte den Schreibstift beiseite. »Du musst die individuelle Psyche des Betreffenden berücksichtigen, Drumknott. Jeder Mensch ist so etwas wie ein Schloss, zu dem es einen Schlüssel gibt. Ich setze große Hoffnung in Herrn Lipwig, wenn es demnächst zu Auseinandersetzungen kommt. Er verfügt immer noch über die guten Instinkte eines Verbrechers.«

»Woran erkennst du das, Herr?«

»Ach, es gibt jede Menge kleiner Hinweise, Drumknott. Aber ich glaube, ein ziemlich überzeugender Beweis ist, dass er vorhin deinen Schreibstift mitgenommen hat.«

Es gab Sitzungen. Es gab ständig Sitzungen. Und sie waren langweilig, was zum Teil der Grund war, warum es Sitzungen gab. Langweiler waren gern in Gesellschaft.

Es gab nicht mehr nur das Postamt, sondern Dienststellen, Niederlassungen und Filialen. Viele Filialen. Jetzt brauchte man für diese Filialen Personal, man brauchte Dienstpläne, Gehälter und Pensionen, man brauchte Leute, um die Gebäude instand zu halten, Putzkolonnen, die nachts kamen, und Zeitraster für die Briefkastenleerung und Disziplin und Investitionen und so weiter und so fort...

Feucht blickte niedergeschlagen auf einen Brief von einer gewissen Frau Estressa Teilwicht vom Komitee für gleiche Höhe. Offensichtlich beschäftigte das Postamt nicht genügend Zwerge. Feucht hatte, durchaus zu Recht, wie er fand, darauf hingewiesen, dass jeder dritte Mitarbeiter ein Zwerg war. Sie hatte erwidert, dass das an der Sache vorbeiging. Es ging darum, dass Zwerge durchschnittlich nur zwei Drittel der Körpergröße von Menschen erreichten, und deshalb sollte das Postamt als verantwortungsbewusste behördliche Autorität vier Drittel Zwerge für jeden menschlichen Angestellten beschäftigen. Das Postamt muss den Zwergen die Hand entgegenstrecken, meinte Frau Teilwicht.

Feucht nahm den Brief mit spitzen Fingern und ließ ihn zu Boden fallen. Nicht entgegen, Frau Teilwicht, sondern zu ihnen hinunter.

Im Brief hatte auch etwas über Grundwerte gestanden. Er seufzte. So weit war es schon gekommen. Er war eine verantwortungsbewusste Autorität, und die Leute konnten ihm ungestraft mit Begriffen wie »Grundwerte« kommen.

Trotzdem war Feucht gewillt, daran zu glauben, dass es Leute gab, die ein stilles Vergnügen dabei empfanden, Tabellen voller Zahlen zu studieren. Er zählte allerdings nicht zu ihnen.

Es war schon Wochen her, seit er seine letzte Briefmarke entworfen hatte! Und viel länger, seit er diesen Kitzel, das Kribbeln, das erhebende Gefühl empfunden hatte, weil eine Betrügerei langsam Wirkung zeigte und er jemanden übers Ohr hauen würde, der glaubte, ihn übers Ohr zu hauen.

Alles war so ... ehrenwert geworden. Und erstickend.

Dann dachte er an heute Morgen und lächelte. Nun gut, er hatte in der Klemme gesessen, aber die schattenhafte Bruderschaft für nächtliche Kletteraktionen erachtete das Postamt als besondere Herausforderung. Und er hatte sich geschickt aus den Schwierigkeiten herausgeredet. Alles in allem war es ein Triumph gewesen. Für eine gewisse Zeitspanne, irgendwann zwischen den Momenten des Schreckens, hatte er sich wieder lebendig gefühlt.

Schwere Schritte im Flur deuteten darauf hin, dass Gladys mit seinem Vormittagstee in Anmarsch war. Sie trat ein, das Haupt gebeugt, um dem Türsturz auszuweichen, und mit dem Geschick eines Kolosses, der über eine unglaubliche Koordinationsfähigkeit verfügt, stellte sie Tasse und Untertasse ab, ohne dass der Tee auch nur die kleinste Welle schlug. Sie sagte: »Lord Vetinaris Kutsche Wartet Draußen, Herr.«

Feucht war sich ganz sicher, dass Gladys’ Stimme neuerdings eine höhere Tonlage hatte.

»Aber ich habe mich doch erst vor einer Stunde mit ihm getroffen! Worauf wartet die Kutsche?«

»Auf dich, Herr.« Gladys machte einen Knicks, und wenn ein Golem so etwas tut, ist es nicht zu überhören.

Feucht blickte aus dem Fenster. Eine schwarze Kutsche parkte vor dem Postamt. Daneben stand der Kutscher und rauchte in aller Ruhe.

»Sagt er, dass ich eine Verabredung habe?«, fragte er.

»Der Kutscher Sagte, Ihm Wurde Befohlen Zu Warten«, sagte Gladys.

»Ha!«

Gladys knickste erneut, bevor sie hinausging.

Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, richtete Feucht seine Aufmerksamkeit wieder auf den Papierstapel in seinem Eingangskorb. Auf dem obersten Blatt stand »Protokoll der Tagung des Komitees für die Postfilialen«, aber es sah eher danach aus, als wäre es keine Tagung, sondern eine Wochung oder Monatung gewesen.

Er nahm seine Teetasse in die Hand. Darauf waren die Worte gedruckt: »Du musst nicht verrückt sein um hier zu arbeiten aber es hilft!« Er starrte eine Weile darauf, dann griff er geistesabwesend nach einem dicken schwarzen Schreibstift und fügte Kommas vor »um« und »aber« ein. Außerdem strich er das Ausrufungszeichen durch. Er hasste dieses Ausrufungszeichen, seine manischverzweifelte Fröhlichkeit. Der Spruch bedeutete eigentlich: »Du musst nicht verrückt sein, um hier zu arbeiten. Wir sorgen schon dafür, dass du es wirst!«

Er zwang sich dazu, das Protokoll zu lesen, bis ihm bewusst wurde, dass er in purer Notwehr ganze Absätze ausließ.

Dann widmete er sich den wöchentlichen Berichten der Bezirkspostämter. Danach breitete das Komitee für Arbeitsunfälle und medizinische Versorgung endlose Buchstabenwüsten aus.

Hin und wieder warf Feucht einen Blick auf die Teetasse.

Um neunundzwanzig nach elf machte der Wecker auf seinem Schreibtisch »Ping«. Feucht stand auf, schob seinen Stuhl unter den Schreibtisch, ging zur Tür, zählte bis drei, öffnete sie, sagte »Hallo, Tiddles«, während die betagte Katze des Postamts hereinmarschierte, zählte bis neunzehn, während die Katze einmal im Kreis durch das Zimmer spazierte, sagte »Tschüss, Tiddles«, während sie in den Korridor zurücktappte, schloss die Tür und begab sich wieder an seinen Schreibtisch.

Du hast gerade die Tür für eine alte Katze geöffnet, die nicht mehr versteht, dass man um Dinge herumgehen kann, sagte er sich, während er den Wecker wieder aufzog. Das tust du jeden Tag. Glaubst du, dass sich ein geistig normaler Mensch so verhält? Gut, es hatte etwas Trauriges mitanzusehen, wie Tiddles stundenlang vor einem Stuhl stand und den Kopf dagegendrückte, bis jemand ihn zur Seite rückte, aber nun springst du jeden Tag auf, um für ihn den Stuhl zu verrücken. Das ist verrückt. Das passiert, wenn man einer ehrlichen Arbeit nachgeht.

Ja, aber unehrliche Arbeit hätte mich fast an den Galgen gebracht!, protestierte er.

Na und? Hängen dauert nur ein paar Minuten. Das Komitee für die Pensionsfonds dauert ein Leben lang! Es ist alles so langweilig! Du bist mit goldlichen Ketten gefesselt!

Feucht fand sich in der Nähe des Fensters wieder. Der Kutscher aß gerade einen Keks. Als er Feucht sah, winkte er ihm freundlich zu.

Feucht wäre fast vom Fenster zurückgesprungen. Hastig nahm er wieder Platz und verbrachte die nächsten fünfzehn Minuten damit, FG/2-Antragsformulare gegenzuzeichnen. Dann trat er auf den Flur, der sich am weiter entfernten Ende zur großen Halle öffnete, und blickte nach unten.

Er hatte versprochen, die großen Kronleuchter zurückzuholen, und nun hingen beide wieder da und funkelten wie kleine Sternhaufen. Der große glänzende Postschalter schimmerte in polierter Pracht. Überall summte es vor zielstrebiger und im Großen und Ganzen effektiver Betriebsamkeit.

Er hatte das alles bewirkt. Und alles lief wie am Schnürchen. Dies war das Postamt. Und das alles machte überhaupt keinen Spaß mehr.

Er ging hinunter zu den Sortierräumen, er schaute im Aufenthaltsraum der Postboten vorbei, um eine gesellige Tasse teerähnlichen Tee zu trinken, er schlenderte auf dem Kutschenhof herum und stand Leuten im Weg, die versuchten, ihre Arbeit zu machen, und schließlich stapfte er zu seinem Büro zurück, gebeugt unter der Last der Stumpfsinnigkeit.

Zufällig schaute er aus dem Fenster, wie es schließlich jedem mal passieren kann. Der Kutscher verzehrte sein Mittagessen! Sein verdammtes Mittagessen! Er saß sogar auf einem kleinen Klappstuhl auf dem Straßenpflaster und hatte sein Mittagessen auf einem kleinen Klapptisch aufgebaut! Es handelte sich um eine große Fleischpastete und eine Flasche Bier! Er hatte sogar ein weißes Tischtuch ausgebreitet!

Feucht stürmte wie ein wütender Stepptänzer die Treppe hinunter und durch die große Doppeltür nach draußen. Während er auf die Kutsche zueilte, dauerte es nur einen vollgepackten Moment, bis Mahlzeit, Tisch, Tuch und Stuhl zusammengeklappt in einem unauffälligen Fach verstaut waren und der Mann neben der einladend geöffneten Tür stand.

»Was soll das alles?«, rief Feucht, nach Atem ringend. »Ich habe nicht den ganzen ...«

»Ah, Herr Lipwig«, antwortete Lord Vetinaris Stimme von drinnen, »steig doch bitte ein. Vielen Dank, Hausmann, Frau Üppig wird warten. Beeil dich, Herr Lipwig, ich werde dich nicht fressen. Ich hatte soeben ein durchaus schmackhaftes Käsesandwich.«

Was konnte es schaden, wenn er herausfand, was vor sich ging? Das war eine Frage, die im Laufe der Jahrhunderte viele blaue Flecken zur Folge gehabt hatte, noch viel mehr als »Es kann nicht schaden, wenn ich nur eine nehme« oder »Es ist kein Problem, wenn du es im Stehen machst«.

Feucht stieg in die düstere Kutsche. Die Tür fiel klickend hinter ihm zu, und er fuhr plötzlich herum.

»Also wirklich!«, sagte Lord Vetinari. »Die Tür ist nur geschlossen und nicht abgeschlossen, Herr Lipwig. Reiß dich bitte zusammen!« Neben ihm saß Drumknott mit einer großen Ledertasche auf dem Schoß.

»Was willst du von mir?«, fragte Feucht.

Lord Vetinari zog wieder die besagte Augenbraue hoch. »Ich? Gar nichts. Was willst du?«

»Was?«

»Schließlich bist du in meine Kutsche gestiegen, Herr Lipwig.«

»Ja, aber mir wurde gesagt, dass sie draußen wartet!«

»Und wenn man dir gesagt hätte, dass sie schwarz ist, hättest du es dann für nötig gehalten, deswegen etwas zu unternehmen? Dort ist die Tür, Herr Lipwig.«

»Aber du hast hier den ganzen Vormittag lang gewartet!«

»Es ist eine öffentliche Straße, mein Herr«, sagte Lord Vetinari. »Jetzt setz dich endlich! Gut.«

Die Kutsche fuhr mit einem Ruck an.

»Du bist sehr unruhig, Herr Lipwig«, sagte Vetinari. »Du bist unvorsichtig geworden. Das Leben hat seinen Reiz verloren, nicht wahr?«

Feucht sagte dazu nichts.

»Lass uns über Engel reden«, schlug Lord Vetinari vor.

»Oh ja, den kenne ich schon«, sagte Feucht verbittert. »Den habe ich schon mal gehört. Damit hast du mich gekriegt, nachdem ich gehängt wurde ...«

Vetinari zog eine Augenbraue hoch. »Nur größtenteils gehängt, wie dir aufgefallen sein dürfte. Haarscharf am Tod vorbei.«

»Wie auch immer! Ich wurde gehängt! Und das Schlimmste daran war, dass ich nur zwei Absätze im Kittchen-Kurier 1 bekommen habe! Nur zwei Absätze für ein Leben voller genialer, einfallsreicher und strikt gewaltloser Verbrechen? Ich hätte ein großes Vorbild für die Jugend sein können! Seite eins wurde ganz von dem legasthenischen Alphabetmörder in Beschlag genommen, und dabei hat er nur A und W geschafft!«

»Ich muss einräumen, dass der Chefredakteur zu glauben scheint, etwas sei kein richtiges Verbrechen, wenn das Opfer nicht auf mindestens drei verschiedenen Straßen gleichzeitig gefunden wird, aber das ist nun mal der Preis einer freien Presse. Außerdem kommt es doch uns beiden entgegen, dass Albert Spanglers Abgang aus dieser Welt keinen ... allzu großen Eindruck hinterlassen hat, nicht wahr?«

»Ja, aber mit einem solchen Leben nach dem Tode hatte ich nicht gerechnet! Muss ich jetzt für den Rest meines Lebens tun, was man mir sagt?«

»Ich korrigiere: für den Rest deines neuen Lebens. Grob gesagt könnte man es so ausdrücken, ja«, sagte Vetinari. »Trotzdem möchte ich es etwas umformulieren. Vor dir, Herr Lipwig, liegt ein Leben in ehrenhafter, stiller Zufriedenheit, in bürgerlicher Würde und zu gegebener Zeit natürlich auch im Genuss einer Pension. Ganz zu schweigen von der stolzen goldlichen Kette.«

Dabei zuckte Feucht zusammen. »Und wenn ich nicht tue, was du sagst?«

»Hmm? Oh, du hast mich missverstanden, Herr Lipwig. Das ist das Leben, das dich erwartet, wenn du mein Angebot ablehnst. Wenn du es annimmst, wirst du dein ganzes Geschick benötigen, um zu überleben, um dich gegen mächtige und gefährliche Feinde zur Wehr zu setzen, während du jeden Tag vor neuen Herausforderungen stehst. Manche werden vielleicht sogar versuchen, dich umzubringen.«

»Was? Warum?«

»Leute sind sauer auf dich. Zufällig gehört ein Hut zu diesem Beruf.«

»Und in diesem Beruf kann man richtig Geld machen?«

»Geld und sonst gar nichts, Herr Lipwig. Es handelt sich um den Posten des Direktors des Königlichen Münzamts.«

»Was? Ich soll den ganzen Tag lang Cents stanzen?«

»Kurz gefasst, ja. Aber der Posten ist traditionell mit dem Posten des Geschäftsführers der Königlichen Bank von Ankh-Morpork verbunden, was den größten Teil deines Arbeitstages in Anspruch nehmen wird. Geld scheffeln kannst du in deiner Freizeit.«

»Ein Bankier? Ich?«

»Ja, Herr Lipwig.«

»Aber ich habe keine Ahnung, wie man eine Bank führt!«

»Sehr gut. Dann kannst du vorurteilsfrei an die Sache herangehen.«

»Ich habe Banken ausgeraubt!«

»Famos! Du musst deine Aufgabe nur andersherum sehen«, sagte Lord Vetinari mit einem strahlenden Lächeln. »Das Geld sollte drinnen bleiben.«

Die Kutsche wurde langsamer und hielt an.

»Was soll das?«, fragte Feucht. »Worum geht es wirklich?«

»Als du das Postamt übernommen hast, Herr Lipwig, war es eine Strafe. Nun läuft der Betrieb. So effizient, dass es schon wieder langweilig ist. Aber ein junger Mann könnte feststellen, dass es viel aufregender ist, bei Nacht Wände hochzuklettern - oder Schlösser zu knacken oder sich dem Extremniesen hinzugeben. Woher hast du übrigens die Dietriche?«

Es war ein winzig kleiner Laden in einer winzig kleinen Gasse gewesen, wo sich niemand aufgehalten hatte außer der kleinen alten Dame, die ihm die Dietriche verkauft hatte. Er wusste immer noch nicht genau, warum er sie eigentlich gekauft hatte. Sie waren im Grunde nur geographisch gesehen illegal, aber für ihn war es ein gewisser Nervenkitzel zu wissen, dass sie sich in seiner Jacke befanden. Andererseits hatte es auch etwas Trauriges, ähnlich wie die Geschäftsleute, die in seriöser Kleidung zur Arbeit kamen, aber bunte Krawatten trugen, in dem verzweifelten Versuch, zum Ausdruck zu bringen, dass irgendwo tief drinnen doch so etwas wie ein freier Geist steckte.

Oh Götter, ich bin einer von ihnen geworden. Aber wenigstens scheint er nichts von dem Totschläger zu wissen.

»So schlimm bin ich gar nicht«, sagte er.

»Und der Totschläger? Ausgerechnet du, der nie jemanden geschlagen hat? Du kletterst auf Dächern herum und knackst die Schlösser an deinem eigenen Schreibtisch. Du bist wie ein Tier im Käfig, das vom Dschungel träumt! Ich würde dir gerne geben, wonach du dich sehnst. Ich möchte dich den Löwen vorwerfen.«

Feucht setzte zum Protest an, doch Vetinari hob die Hand.

»Wir können uns gar nicht mehr über das Postamt lustig machen, weil du es in ein seriöses Unternehmen verwandelt hast, Herr Lipwig. Aber die Banken von Ankh-Morpork sind eine ernste Sache. Diese Leute sind echte Esel, Herr Lipwig. Sie haben zu viele Fehler begangen. Sie stecken im Dreck, sie leben in der Vergangenheit, sie lassen sich von Glanz und Reichtum hypnotisieren, sie glauben, dass Gold von großer Bedeutung ist.«

»Äh ... ist es das nicht?«

»Nein. Als Dieb und Schwindler, der du bist, Entschuldigung, der du einst warst, weißt du das im Grunde deines Herzens auch. Für dich war es nur ein Mittel, um deinen Schnitt zu machen«, sagte Vetinari. »Was weiß Gold schon über wahre Werte? Schau aus dem Fenster und sag mir, was du siehst.«

»Ahm, einen kleinen verwahrlosten Hund, der zusieht, wie ein Mann in einer Gasse an die Wand pinkelt«, sagte Feucht. »Tut mir leid, aber du hast dir den falschen Moment ausgesucht.«

»Wenn du meine Frage nicht so wortwörtlich genommen hättest«, sagte Lord Vetinari und bedachte ihn mit so einem gewissen Blick, »hättest du eine große, geschäftige Stadt gesehen, in der lauter einfallsreiche Leute aus dem gewöhnlichen Dreck dieser Welt Reichtum machen. Sie entwerfen, bauen, schnitzen, backen, gießen, formen, schmieden und verwirklichen seltsame und phantasievolle Verbrechen. Aber sie bewahren ihr Geld in alten Socken auf. Sie vertrauen ihren Socken mehr als einer Bank. Hartgeld wird künstlich knapp gehalten, was der Grund ist, warum deine Briefmarken inzwischen zu einer inoffiziellen Währung geworden sind. Unser seriöses Bankwesen ist eine Katastrophe. Ein Witz.«

»Es wäre ein noch viel größerer Witz, wenn du mir diese Aufgabe anvertraust«, sagte Feucht.

Auf Vetinaris Gesicht zeigte sich ein flüchtiges Lächeln. »Findest du?«, sagte er. »Nun, wir alle brauchen gelegentlich etwas zum Lachen.«

Der Kutscher öffnete die Tür, und sie stiegen aus.

Warum Tempel?, dachte Feucht, als er zur Fassade der Königlichen Bank von Ankh-Morpork hinaufblickte. Warum werdenBanken immer so gebaut, dass sie wie Tempel aussehen, obwohl feststeht, dass mehrere größere Religionen a) strikt gegen das sind, was in einer Bank geschieht, und b) selber dort Konten haben.

Er hatte die Bank natürlich schon einige Male gesehen, aber er hatte sich bis jetzt nie die Mühe gemacht, sie tatsächlich anzusehen. Für einen Tempel des Geldes war dieser gar nicht so schlecht geraten. Der Architekt hatte zumindest gewusst, wie man eine anständige Säule designt, und er wusste auch, wann es genug war. Er hatte sich hartnäckig gegen jede Andeutung von Putten verwahrt, obgleich sich über den Säulen ein Fries befand, der etwas hochtrabend Allegorisches mit Jungfrauen und Steinkrügen zeigte. In den meisten Krügen, fiel Feucht auf, und in einigen Jungfrauen nisteten Vögel. Eine Taube blickte verärgert von einem steinernen Busen auf Feucht hinunter.

Feucht war schon viele Male an diesem Gebäude vorbeigegangen. Es hatte nie danach ausgesehen, als wäre hier allzu viel los. Und dahinter befand sich das Königliche Münzamt, dem niemals auch nur das geringste Lebenszeichen anzumerken war.

Es war schwierig, sich ein hässlicheres Gebäude vorzustellen, das keinen bedeutenden Architekturpreis gewonnen hatte. Die Münze war ein karger Block aus Ziegeln und Steinen, die Fenster waren hoch, schmal, zahlreich und mit Gittern versehen, und die Türen waren mit Fallgittern gesichert. Die gesamte Konstruktion gab der Welt zu verstehen: Denk nicht mal dran.

Bis jetzt hatte Feucht nicht mal dran gedacht. Es war eine Münzanstalt. An so einem Ort wurde man mit dem Kopf nach unten über einen Eimer gehalten und kräftig ausgeschüttelt, bevor man wieder nach draußen gelassen wurde. Eine derartige Institution hatte Wachen und Türen mit spitzen Stacheln.

Und Vetinari wollte ihn zu ihrem Direktor machen. In einem so großen Büschel Zuckerwatte musste eine sehr scharfe Glasscherbe versteckt sein.

»Sag mir noch eins«, begann er vorsichtig. »Was ist mit dem Mann passiert, der bisher diesen Posten innehatte?«

»Ich dachte mir, dass du danach fragen würdest, also habe ich noch einmal in den Büchern nachgesehen. Er starb im Alter von neunzig Jahren an Herzversagen.«

Das klang gar nicht so schlecht, aber Feucht war schlau genug, weiter nachzuhaken. »Ist in letzter Zeit sonst noch jemand gestorben?«

»Sir Joshua Üppig, der Direktor der Bank. Er starb vor sechs Monaten in seinem eigenen Bett, im Alter von achtzig Jahren.«

»Ein Mann kann auf sehr unangenehme Art und Weise in seinem eigenen Bett sterben«, gab Feucht zu bedenken.

»Das glaube ich gern«, sagte Lord Vetinari. »In diesem Fall jedoch geschah es in den Armen einer jungen Frau namens Honig nach einer sehr üppigen Mahlzeit aus überbackenen Austern. Wie unangenehm das war, werden wir wohl nie erfahren.«

»War sie seine Frau? Du sagtest, es wäre sein eigenes ...«

»Er hatte eine Wohnung in der Bank«, sagte Lord Vetinari. »Eine traditionelle Vergünstigung, die sich als sehr nützlich erweisen konnte, wenn er« - hier hielt er für einen Sekundenbruchteil inne - »länger arbeiten musste. Frau Üppig war zu diesem Zeitpunkt nicht anwesend.«

»Wenn er ein Sir war, müsste sie dann nicht eigentlich eine Lady sein?«, fragte Feucht.

»Es ist recht charakteristisch für Frau Üppig, dass sie keine Lady sein mag«, sagte Lord Vetinari. »Und ich beuge mich ihren Wünschen.«

»Musste er häufig länger >arbeiten<?«, fragte Feucht, wobei er vorsichtshalber das gleiche Wort benutzte wie Vetinari.

»Wie ich hörte, mit erstaunlicher Regelmäßigkeit, wenn man sein Alter bedenkt«, sagte Vetinari.

»Ach, wirklich? Ich glaube, ich habe den Nachruf in der Times gelesen. Aber daran erinnere ich mich nicht.«

»Ja, die Presse ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.«

Vetinari wandte sich um und betrachtete das Gebäude. »Von diesen beiden ziehe ich die Ehrlichkeit der Münze vor«, sagte er. »Sie knurrt die Welt an. Was meinst du, Herr Lipwig?«

»Was ist das für ein rundes Ding, das da aus dem Dach ragt?«, fragte Feucht. »Dadurch sieht es wie eine Sparbüchse mit einer großen Münze aus, die im Schlitz stecken geblieben ist.«

»Seltsamerweise ist es als Unglückscent bekannt«, sagte Vetinari. »Es handelt sich um eine sehr große Tretmühle, die die Münzpressen und alles andere mit Energie versorgt. Früher einmal wurde sie durch Strafgefangene angetrieben, als >Arbeit zum Wohl der Gemeinschaft< mehr als nur eine hohle Redewendung war. Allerdings wurde sie als grausame und ungewöhnliche Form der Bestrafung angesehen, was eher auf einen eklatanten Mangel an Phantasie hindeutet. Wollen wir hineingehen?«

»Was genau soll ich deiner Ansicht nach tun, Herr?«, fragte Feucht, als sie die Marmorstufen hinaufstiegen. »Ich weiß ein wenig über das Bankwesen, aber wie führt man eine Münzanstalt?«

Vetinari zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Leute bedienen Hebel, würde ich meinen. Jemand sagt ihnen, wie oft sie es tun und wann sie damit aufhören sollen.«

»Und warum sollte irgendjemand mich umbringen wollen?«

»Das kann ich nicht sagen, Herr Lipwig. Aber es gab mindestens einen Anschlag auf dein Leben, als du ganz unschuldig Briefe zugestellt hast, also rechne ich damit, dass deine Karriere als Bankier recht interessant werden könnte.«

Sie erreichten den obersten Treppenabsatz. Ein älterer Mann in einer Uniform, die aussah, als wäre er der General einer undisziplinierten Armee, hielt ihnen die Tür auf.

Lord Vetinari bedeutete Feucht, als Erster einzutreten.

»Ich schaue mich nur mal um, ja?«, sagte Feucht, während er zögernd durch den Eingang trat. »Ich hatte eigentlich noch gar keine Zeit, über all das hier nachzudenken.«

»Aber selbstverständlich«, sagte Vetinari.

»Ich verpflichte mich damit zu gar nichts, richtig?«

»Zu gar nichts«, bestätigte Vetinari. Er ging zu einem Ledersofa hinüber und setzte sich, dann forderte er Feucht auf, neben ihm Platz zu nehmen. Drumknott hielt sich, wachsam wie immer, hinter ihnen auf.

»Der Geruch einer Bank ist recht angenehm, findest du nicht auch?«, sagte Vetinari. »Eine Mischung aus Bohnerwachs, Tinte und Reichtum.«

»Und Wucher«, sagte Feucht.

»Wir wollen es doch nicht zu negativ formulieren. Und die Kirchen scheinen heutzutage gar nicht mehr so viel dagegen einzuwenden zu haben. Zufällig weiß nur der gegenwärtige Direktor dieser Bank über meine Absichten Bescheid. Für jeden anderen bist du lediglich jemand, der heute für mich eine kleine Inspektion durchführt. Insofern ist es ganz gut, dass du deinen berühmten goldenen Anzug nicht trägst.«

In der Bank ging es verhältnismäßig leise zu, hauptsächlich, weil die Decke so hoch war, dass sich jedes Geräusch in der Leere verlor, aber zum Teil auch, weil die Leute in der Nähe von so großen Geldsummen die Stimme senken. Es war viel roter Samt und Messing sichtbar. Überall hingen Bilder von ernsten Männern in Gehröcken. Gelegentlich hallten Schritte vom weißen Marmorfußboden wider, bis sie plötzlich verschluckt wurden, wenn ihr Urheber auf eine Teppichinsel trat. Und die großen Schreibtische waren mit graugrünem Leder bezogen. Schon seit seiner Kindheit hatte ein mit graugrünem Leder bezogener Schreibtisch für Feucht großen Reichtum bedeutet. Rotes Leder? Pah! Das war etwas für Emporkömmlinge und Wichtigtuer. Graugrün bedeutete, dass man es geschafft hatte und dass auch schon die eigenen Vorfahren es geschafft hatten. Es sollte ein wenig abgenutzt aussehen, um die beste Wirkung zu erzielen.

An der Wand über den Schaltern tickte eine große Uhr, die von Putten getragen wurde. Lord Vetinaris Anwesenheit machte sich in der Bank bemerkbar. Die Mitarbeiter stupsten sich gegenseitig an und warfen Blicke in ihre Richtung.

In Wirklichkeit, so wurde Feucht bewusst, waren sie beide nicht leicht wiederzuerkennen. Die Natur hatte ihn mit der Fähigkeit gesegnet, nicht mehr als ein Gesicht im Hintergrund zu sein, selbst wenn er gar nicht weit entfernt stand. Er war nicht besonders hässlich, er war nicht besonders attraktiv, sein Gesicht hinterließ so wenig Eindruck, dass er beim Rasieren manchmal selber überrascht reagierte. Und Vetinari trug Schwarz, was bekanntlich auch keine auffällige Farbe war, aber er hatte trotzdem eine Präsenz wie ein Bleigewicht auf einer Gummiplane. Sie dellte die Sphäre um ihn herum ein. Die Leute sahen ihn nicht sofort, aber sie spürten, dass er da war.

Nun flüsterten die Leute in Sprechrohre. Der Patrizier war in der Bank, und niemand hatte ihn in aller Förmlichkeit begrüßt! Das konnte nur Arger geben!

»Wie geht es Fräulein Liebherz?«, fragte Vetinari, der nichts von der zunehmenden Unruhe zu bemerken schien.

»Sie ist fort«, sagte Feucht unumwunden.

»Ach, die Stiftung hat sicherlich einen weiteren vergrabenen Golem entdeckt.«

»Ja.«

»Der immer noch versucht, Befehle auszuführen, die ihm vor Jahrtausenden erteilt wurden?«

»Wahrscheinlich. Er wurde irgendwo draußen in der Wildnis gefunden.«

»Sie ist unermüdlich«, sagte Vetinari zufrieden. »Solche Leute treiben nach ihrer Auferstehung aus der Dunkelheit die Räder des Geschäftslebens an, was der Gemeinschaft zugute kommt. Genauso wie du, Herr Lipwig. Sie erweist der Stadt einen großen Dienst. Und die Golem-Stiftung auch.«

»Ja«, sagte Feucht und ließ diese ganze Wiederauferstehungsangelegenheit auf sich beruhen.

»Aber dein Tonfall deutet etwas anderes an.«

»Nun ja ...« Feucht wusste, dass er sich wand, aber letztlich war es auch wieder egal. »Sie stürmt ständig los, weil man einen Golem in irgendeiner uralten Kloake oder so entdeckt hat...«

»Aber dir stürmt sie nicht hinterher, wie?«

»Und in diesem Fall ist sie schon seit Wochen unterwegs«, sagte Feucht, ohne auf die Bemerkung einzugehen, weil sie vermutlich zutreffend war. »Und sie will mir nicht sagen, worum es geht. Sie sagt nur, es wäre sehr wichtig. Etwas ganz Neues.«

»Ich glaube, sie schürft irgendwo«, sagte Vetinari. Er tippte bedächtig mit seinem Gehstock auf den Marmor, was ein hallendes Kläcken verursachte. »Ich habe gehört, dass Golems diesseits von Chimärien im Zwergenland Bergbau betreiben, in der Nähe der Kutschenstraße. Zum großen Nutzen der Zwerge, wie ich hinzufügen möchte. Der König hat das Land an die Stiftung verpachtet und sorgt dafür, dass er einen Blick auf das werfen kann, was ausgegraben wird.«

»Steckt sie in Schwierigkeiten?«

»Fräulein Liebherz? Nein. Wie ich sie kenne, dürfte eher der König der Zwerge Schwierigkeiten haben. Sie ist eine sehr ... aufgeräumte junge Dame, wie mir aufgefallen ist.«

»Ha! Du hast nicht den leisesten Schimmer!«

Feucht nahm sich vor, Adora Belle eine Nachricht zu schicken, sobald das hier vorbei war. Das Thema Golems spitzte sich derzeit wieder zu, weil sich die Gilden darüber beklagten, dass sie Arbeitsverhältnisse eingingen. Fräulein Liebherz wurde in der Stadt gebraucht - natürlich von den Golems.

Er wurde sich eines unterschwelligen Geräuschs bewusst. Es kam von unten und klang, als würde Luft durch Flüssigkeit blubbern oder wie Wasser mit dem üblichen Gluck-Gluck aus einer Flasche gegossen werden.

»Hörst du das?«, fragte er.

»Ja.«

»Weißt du, was das ist?«

»Die Zukunft der Wirtschaftsplanung, wie mir zu Ohren gekommen ist.« Lord Vetinari wirkte zwar nicht gerade besorgt, aber zumindest ungewöhnlich verwundert. »Etwas muss geschehen sein«, sagte er. »Normalerweise kommt Herr Beuge schon wenige Sekunden nach meinem Eintreten über den Boden geschleimt. Ich hoffe, ihm ist nichts Unerfreuliches zugestoßen.«

Die Türen eines großen Aufzugs am anderen Ende der Eingangshalle gingen auf, und ein Mann trat heraus. Für einen kurzen Moment - den vermutlich niemand bemerkt hätte, der seinen Lebensunterhalt nie damit bestreiten musste, Mienen zu deuten - war er aufgeregt und beunruhigt, aber das ging sehr schnell vorbei, als er seine Manschetten zurechtzupfte und seinem Gesicht das warme, wohlwollende Lächeln eines Mannes verlieh, der sich darauf freute, einem Geld abknöpfen zu können.

Herr Beuge war in jeder Hinsicht glatt und unzerknittert. Feucht hatte jemanden im traditionellen Gehrock eines Bankiers erwartet, aber stattdessen trug er ein gut sitzendes schwarzes Jackett über einer Nadelstreifenhose. Auch Herr Beuge verhielt sich leise. Seine Füße, die sogar auf Marmor lautlos auftraten, waren für einen so gepflegten Mann ungewöhnlich groß, aber die Schuhe - schwarz und spiegelblank auf Hochglanz poliert - waren von guter Qualität. Vielleicht wollte er damit angeben, denn er bewegte sich wie ein Dressurpferd. Bei jedem Schritt hob er den Fuß mit Bedacht, bevor er ihn wieder auf den Boden setzte. Abgesehen von diesem Missverhältnis wirkte Herr Beuge so, als würde er stumm in einem Schrank stehen, wenn er gerade nicht benötigt wurde.

»Lord Vetinari, es tut mir sooo leid!«, begann er. »Bedauerlicherweise gab es unerledigte Geschäfte, die ...«

Lord Vetinari erhob sich. »Herr Mavolio Beuge, erlaube, dass ich dir Herrn Feucht von Lipwig vorstelle«, sagte er. »Herr Beuge ist hier der Hauptkassierer.«

»Aha, der Erfinder der revolutionären ungedeckten Ein-Cent-Note?«, sagte Beuge und streckte eine dürre Hand aus. »Diese Kühnheit! Ich freue mich sehr, deine Bekanntschaft zu machen, Herr Lipwig.«

»Ein-Cent-Note?«, sagte Feucht verblüfft. Trotz seiner Beteuerung wirkte Herr Beuge ganz und gar nicht erfreut.

»Hast du nicht gehört, was ich vorhin sagte?«, warf Vetinari ein. »Deine Briefmarken, Herr Lipwig.«

»Sie sind eine inoffizielle Währung«, sagte Beuge, und da dämmerte es Feucht. Nun gut, das stimmte wirklich. Er hatte die Briefmarken dazu gedacht, dass man sie auf Briefe klebte, aber die Leute hatten in ihrer Unbekümmertheit entschieden, dass eine Cent-Marke im Prinzip dasselbe wie ein sehr leichter, staatlich anerkannter Cent war, und das Beste daran war, dass man sie in einen Umschlag tun konnte. Auf den Werbeseiten wimmelte es inzwischen von Geschäften, die im Gefolge der verführerisch einfach transferierbaren Postwertzeichen entstanden waren: »Erfahre die größten Geheimnisse des Kosmos! Schicke 8 Cent-Briefmarken, dann bekommst du eine Broschüre zugesandt!« Zahlreiche Marken nutzten sich als Geldersatz ab, ohne jemals das Innere eines Briefkastens gesehen zu haben.

Trotzdem hatte Beuges Lächeln etwas an sich, das Feucht verärgerte. Es wirkte nicht mehr ganz so freundlich, wenn man es aus der Nähe betrachtete. »Was meinst du mit >ungedeckt<?«, fragte er.

»Wie rechtfertigst du ihren angeblichen Wert von einem Cent?«

»Ah, wenn man sie auf einen Brief klebt, wird die Zustellung garantiert, die einen Cent wert ist?«, sagte Feucht. »Ich verstehe nicht, worauf du hinaus...«

»Herr Beuge gehört zu jenen, die an die Vorrangstellung des Goldes glauben, Herr Lipwig«, sagte Vetinari. »Ich bin mir sicher, dass ihr beide euch so gut wie ein Haus und Feuer verstehen werdet. Ich werde euch jetzt allein lassen und warte mit Spannung auf deine Entscheidung. Komm, Drumknott. Vielleicht möchtest du morgen kurz bei mir vorbeischauen, Herr Lipwig?«

Feucht und Beuge schauten ihnen nach. Dann warf Beuge Feucht einen zornigen Blick zu. »Ich schätze, ich soll dich jetzt herumführen ... Herr«, sagte er.

»Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir beide noch nicht so richtig auf einer Wellenlänge sind, Herr Beuge«, sagte Feucht.

Beuge zuckte mit den Schultern, was für seine ausgemergelte Gestalt ein beeindruckender körperlicher Akt war. Es war, als würde man ein Bügelbrett dabei beobachten, wie es sich selbst auseinanderzuklappen droht.

»Dir persönlich kann ich keinen Vorwurf machen, Herr Lipwig. Aber ich glaube, dass der Direktor und Lord Vetinari eine gefährliche Intrige im Schilde führen. Und du bist ihr Handlanger, Herr Lipwig, ihr Werkzeug.«

»Du meinst vermutlich den neuen Direktor.«

»Völlig richtig.«

»Ich hege eher nicht die Absicht, mich als Werkzeug benutzen Zu lassen«, sagte Feucht.

»Gut für dich, Herr. Aber es entfalten sich gewisse Ereignisse ...«

Von unten war das Krachen zersplitternden Glases zu hören, und eine gedämpfte Stimme rief: »Verdammt! Jetzt ist die Zahlungsbilanz hin!«

»Machen wir nun unseren Rundgang?«, fragte Feucht fröhlich. »Und fangen damit an zu klären, was das gerade war?«

»Mit dieser Abscheulichkeit?« Beuge erschauderte. »Ich denke, damit sollten wir warten, bis Hubert saubergemacht hat. Oh, jetzt schau dir das an! Das ist ja wirklich unverzeihlich ...«

Herr Beuge marschierte los, bis er unter der großen, ehrwürdigen Uhr stand. Er blickte mit finsterer Miene hinauf, als hätte sie ihn tödlich beleidigt, und schnippte mit den Fingern. Doch ein kleinerer Angestellter eilte bereits mit einer Trittleiter herbei. Herr Beuge stieg hinauf, öffnete die Uhr und rückte den Sekundenzeiger um zwei Sekunden vor. Er schloss die Uhr, stieg die Leiter hinunter, und dann kehrte der Hauptkassierer zu Feucht zurück, während er seine Manschetten zurechtzupfte.

Er musterte Feucht von oben bis unten. »Sie verliert pro Woche fast eine Minute. Bin ich der Einzige, der das skandalös findet? Leider sieht es ganz danach aus. Nun gut. Fangen wir mit dem Gold an?«

»Oh ja!«, sagte Feucht. »Fangen wir damit an!«