Warum Gott mein Fahrrad nicht repariert
Ich hatte als Junge ein Fahrrad. Ich hatte in den Sommerferien bei meinem Onkel damit das Radfahren gelernt. Doch kaum beherrschte ich es, mehr als zwanzig Meter auf meinem Gefährt zurückzulegen, ohne in den Straßengraben zu stürzen, brach eines der Pedale ab. Bei meiner Rückkehr zum Schrebergarten meines Onkels, zerbeult und mit einem Loch in der Hose, erwartete ich wüstes Geschimpfe durch meinen Vater. Doch es überraschte mich zu hören, dass sein Schimpfen nicht mir galt, sondern dem Hersteller des Fahrrads. Er tobte und erklärte, dass in unserem Land nur noch Schrott produziert wird und dass wir nur noch dem Namen nach eine führende Biernation seien.
Damals hatte ich das erstemal über Gott und Jesus gehört und dass dieser Mann Wunder tat und Wünsche erfüllen konnte, auch Tote wiedererwecken. Diese Dinge hatten in meiner Umgebung stets den Anstrich des Konspirativen und wurden wie geheime Informationen zwischen den Erwachsenen gereicht. Ich wuchs in einem offiziell atheistischen Staat, da Karl Marx irgendwann klar und deutlich gemacht hatte, wie ungünstig sich Religion in einem modernen Arbeiterstaat ausmacht. Die Wahrheit war natürlich eine andere: die Emporkömmlinge der Partei hatten so gar keine Lust, ihre Macht mit einem ominösen Übervater zu teilen, der auch noch durch eine Horde Priester im Ornat vertreten werden sollte. Zu meiner Zeit gab es nur einen Übervater und der hieß Leonid Breschnew.
Auf diese Weise hatte ich vom Beten erfahren. Ich verstand mit meinen neun Jahren das ganze als eine Art Zaubertrick, mit dessen Hilfe man auf übersinnliche Weise bestimmte Dinge erreichen konnte. Vorausgesetzt man wünschte es sich stark genug. Ich legte mir eine Theorie zurecht, die das erklärte. Jesus war der Typ, der das ein solches Wunder möglich machte. Er bekam seine Kraft von Gott. Aber ich konnte durch Beten mich an Jesus wenden und somit etwas von dieser Kraft abzapfen, so wie man mit einer Draht etwas von einer Stromleitung abführen konnte. In der Schrebersiedlung meines Onkels hatten es die beiden Familien Balog und die Balazsch auch so gemacht. Sie hängten einen langen Haken an die Stromleitung, die am Rande der Siedlung entlang führte und bezogen ihre Elektrizität umsonst.
Und so betete ich heimlich den ganzen Abend, damit Jesus durch mich mein Fahrrad repariert. Ich versuchte meine Gebete dadurch zu verstärken, in dem ich die Zähne fest zusammenbiss und meinen Unterkiefer anspannte. Ich konzentrierte mich auf mein Fahrrad und die Bruchstelle des Pedals. Ich versuchte mir Jesus vorzustellen und mit ihm telepathisch Kontakt aufzunehmen. Irgendwann schlief ich erschöpft ein.
Der nächste Morgen bereitete einen Schock für mich. Als ich mein Fahrrad in Augenschein nahm, war das Pedal wieder dran. Ich überlegte gar nicht erst und sprang auf den Sattel. Ich radelte los und stürzte nach zehn Metern bombastisch in den Staub. Erst später erfuhr ich, dass am selben Abend mein Vater und mein Onkel versucht hatten, das Pedal mit Hilfe eines ausgeliehenen Schweißgeräts wieder anzubringen. Doch es war nur ein Versuch. Das Pedal konnte an der Bruchstelle nicht mehr mein Gewicht halten.
In unserer Gegend war Fahrradzubehör rar. Erst wenn wir am Ende der Sommerferien wieder nach Prag fahren würden, gab es die Möglichkeit, ein neues Pedal zu kaufen, oder danach zumindest zu suchen.
Diese Erfahrung deprimierte mich. Da hatte ich ein Fahrrad und konnte es nicht fahren. Was für ein Sinn, was für Gerechtigkeit steckte denn dahinter? War meine Freude an dem Fahrrad ein Ausdruck von Eitelkeit, die Gott bestrafen wollte? Ich fragte meinen Onkel, doch der winkte nur ab und goss sich einen Wein in das kleine Gurkenglas.
„Ach was... Gott... Das sind alles Geschichten. Wenn Gott da wäre, hätte er doch längst den Kommantschen, die ihn doch am meisten hassen, in den Arsch getreten.“
Mein Vater, der immer der konservativere der beiden Brüder war, schubste ihn tadelnd mit dem Ellbogen.
Es war nicht gerade ein hochgeistiges theologisches Gespräch, doch es führte mir das Problem vor, das ich später als die Theodizee kennenlernen sollte. Ich begann zu begreifen, dass Gott entweder nicht existiert, oder wir seine Spielregeln vollkommen falsch verstehen.
Ich muss gestehen, dass mich diese religiöse Folklore noch lange im Griff behielt. Zehn Jahre später habe ich versucht mit der kombinierten Hilfe von Konzentration und Masturbation den Zustand meines Bankkontos zu verbessern, angestiftet durch irgendein okkultes Büchlein über Aleister Crowley, das mir damals Manzio zugesteckt hatte. Der Autor des Buchs saß inzwischen wegen Kinderschändung im Gefängnis. Natürlich, als frischer Erwachsener, war ich nicht mehr beseelt durch mündliche Erzählungen über das Christkind, sondern durch den ultra-rationalen Gedanken: „Man kanns ja mal versuchen; schadet ja nicht.“
Nach diesem letzten und vollkommen erfolglosen Experiment, brach ich die Auseinandersetzung mit Gott endgültig ab. Er hatte mir nichts zu bieten und offensichtlich hatte ich ihm noch weniger zu bieten.
Erst durch Paul Lichtmann, alias Adam Kadmon, kehrte Gott und die Theodizee auf meinen Tisch zurück.
Das Problem scheinen lediglich die Monotheisten zu kennen, denn die haben nur einen Gott, dazu noch einen allmächtigen, allwissenden und allgegenwärtigen, was in der Tat die Schöpfung etwas schlampig erscheinen lässt. Die alten Griechen machten sich solche Gedanken nur selten. Ihre Götter bekriegten sich gegenseitig, leisteten sich einen Schnitzer nach dem anderen und verstanden sich darauf, alles um sie herum zu sabotieren. Damit war das Problem gelöst, denn all die unangenehmen Dinge und all die Katastrophen und Desaster spiegelten sich in den uneinigen Unternehmungen der Götter und ihrer miesen Laune.
Doch sollte es nur einen Gott geben, bleibt für viele die Frage offen, weshalb er den Holocaust zulässt, den 11. September, besoffene Ehemänner, die ihre Frauen prügeln, grausame Autounfälle, bei den kleine Kinder sterben und den Abwurf von Atombomben.
Irgendwann in dem Morgengrauen des Christentums formulierte bereits Lactanius die Worte von Epikur um und beschrieb das göttliche Paradox folgendermaßen:
ENTWEDER WILL GOTT DIE ÜBEL BESEITIGEN UND KANN ES NICHT:
DANN IST GOTT SCHWACH, WAS AUF IHN NICHT ZUTRIFFT,
ODER ER KANN ES UND WILL ES NICHT:
DANN IST GOTT MISSGÜNSTIG, WAS IHM FREMD IST,
ODER ER WILL ES NICHT UND KANN ES NICHT:
DANN IST ER SCHWACH UND MISSGÜNSTIG ZUGLEICH, ALSO NICHT GOTT,
ODER ER WILL ES UND KANN ES, WAS ALLEIN FÜR GOTT ZIEMT:
WOHER KOMMEN DANN DIE ÜBEL
UND WARUM NIMMT ER SIE NICHT HINWEG?
Viele haben versucht eine Antwort darauf zu finden. Im Buch Sohar der Juden ist das Böse eine Restspur der vorangegangenen Schöpfung, die nicht gelungen war. Doch wenn eine Schöpfung misslingen konnte, war der Schöpfer doch unmöglich allwissend. Für Leibniz, den Vater des Begriffes Theodizee war das Böse eine Beraubung des Guten. Lediglich ein Vorstoß innerhalb einer Welt, die an sich gut ist. Was immer das heißen mag.
Doch so sehr die klügsten Köpfe unserer Zivilisation versuchten eine Konkordanz zwischen dem gütigen und schwer greifbaren Gott und dem allzu gegenwärtigen Bösen in der Welt zu stiften, so sehr stolperten ihre Ideen über das selbe Problem: die Allwissenheit, die Allmächtigkeit und die Allgütigkeit.
So oder so - der Alte da oben hätte das wissen müssen.
Dieses Problem ein Leben lang zu ignorieren, ist nichts schlimmes. Nicht über die Schöpfung nachzudenken, verspricht noch immer ein gutes, fruchtbares und kurzweiliges Leben.
Doch die Schöpfung falsch aufzufassen, ist stets der Anfang vom Ende. Ein Tunnel an dessen Neige Schlachthäuser stehen und Kacheln bespritzt mit Blut.
Wenn wir wollen, dass Gott kommt und für uns ein anderes Volk auslöscht, für uns einen Heiligen Krieg gewinnt, beginnen wir in unserem Geist diese Schlachthöfe der Gottesliebe möglich zu machen. Wenn wir wollen, dass Gott unsere Streitigkeiten reguliert, verdienen wir es nicht zu leben, zu existieren. Dann sollten wir ausgelöscht werden. Alle. Sofort. Ohne Ausnahme.
Paul Lichtmann ließ mich seine Einstellung gegenüber der Theodizee oft genug spüren. Mit kernigen Redewendungen wie „Gott ist kein Kumpel, denn Kumpels sind real“ versuchte er mir lange genug das personifizierte Schöpferbild auszutreiben.
„Das Gute und das Böse sind immer nur Worte der Empfindung und der Reaktion“, predigte er. „Wir können sie nicht abgrenzen und nicht genau definieren. Also sollten wir sie ganz sicher nicht Gott aufdrängen. Er hat sie auch nicht uns aufgedrängt. Er ist zuständig für den Akt der Schöpfung, nicht für das, was wir oder was die Engel und die Dämonen daraus machen. Er ist auch nicht dafür zuständig, sich zwischen uns und die Natur zu stellen, damit uns nicht zufällig bei irgendwas ein Fingernagel abbricht.“
Es ist nicht so schwierig, ihm darin recht zu geben. Es ist aber schwierig, diese Einstellung bis in die letzte Instanz zu verinnerlichen. Die Sentimentalität abzustreifen, um der Wahrheit ins Auge zu sehen. Um zu erkennen, dass alles nur ein System aus Mustern und dynamischer Interaktion ist und wir uns lediglich den Luxus leisten, durch die Welt zu gehen und zu behaupten der Kadaver eines faulenden Hundes sei hässlich, während eine Orchidee schön ist.
Ja, es ist schlimm, wenn unschuldige Menschen ums Leben kommen. Doch es ist nur deshalb schlimm, weil es in einer Welt vorkommt, in der die Unversehrtheit als ein Ideal stilisiert wurde. In einer Welt, in der die Idee von Gut und Böse etabliert wurde. Von Menschen. Mit Gott hat das nichts zu tun. Außer dass unsere Sentimentalität gegenüber dem Guten genauso ein Teil des Ganzen ist, wie die Kaltblütigkeit des Bösen es ist.
Gott ist das System, die Gesamtheit, das Alles und das Nichts. Er hat keine Lust Serienmörder zu bestrafen und er hat keine Lust vermeintliche Heilige zu belohnen. Denn er besitzt „Lust“ genauso wenig, wie er einen Werkzeugkasten besitzt, mit dem er mein Fahrrad reparieren kann.
Und darin liegt die religiöse Ironie des Menschen. Er kämpft ganze Kriege, um „seinen“ Gott auf den höchsten aller Throne zu setzen, über allen Dinge und allen Belangen erhaben. Doch während er das tut, erniedrigt er Gott durch seine menschliche Kleinkariertheit, Sentimentalität und seinen kollektiven Egoismus. Er schiebt ihm Verantwortung zu und projiziert auf ihn alles nur Erdenkliche, das er in seiner Kindheit vermisst haben mag oder im Gegenteil zu sehr erfuhr.
So oder so - der Mensch versagt vor Gott, denn er möchte Gott ständig in die Schöpfung hineinzerren, ihn zu einer aktiven Teilnahme an dem bereits Geschaffenen zu zwingen.
Doch das wird niemals gelingen.
Dieser Veranstalter kommt nie auf die eigenen Partys.
Der nächste Schritt ist naheliegend. Wer erkennt, dass es keine Brücken zwischen ihm und Gott gibt, außer jene, die er sich selbst herbeiwünscht und die stets nur dann unter ihm zusammenbrechen, wenn er sie betritt, der erkennt, dass es unwichtig ist, über Gott nachzudenken. Etwas das so perfekt isoliert ist von jeglicher Interaktion mit dem Menschen, steht jenseits der Frage von Existenz und Nichtexistenz. Lichtmann umschrieb das einmal äußerst prägnant: »Er ist da, wenn du an ihn glaubst. Und er ist nicht da, wenn du nicht an ihn glaubst. Aber zu glauben ist nur ein Wort und keine Wirklichkeit. Also trinke doch lieber einen Tee und lese ein gutes Buch.«