Archiv der Lux Aeterna

VERZEICHNIS ATHOS

INTERVIEW 1979 - 2/5

Historisches Dokument Nr. 4217.462

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Athos: Normalerweise erzähle ich meine Geschichte nur Menschen, die schwer krank sind und dem Tod entgegenblicken. Die sind wesentlich empfänglicher für alternative Weltbilder, als Sie im Augenblick. Meine Kindheit und Jugend erscheinen mir heute sehr fern und sind auch zu einem nicht erheblichen Teil von mir vergessen worden. Ich habe zu oft den Körper und damit das Gehirn gewechselt. Irgendetwas geht damit stets verloren. Doch ich erinnere mich daran, dass dies sehr unruhige Zeiten waren. Krieg war im Leben eines Menschen damals an der Tagesordnung. Nur wenige Jahre zuvor hatten die Russen und die Österreicher die Stadt geplündert, doch nun war eine Zeit des Wundenleckens. Der Siebenjährige Krieg war vorbei und der Alte Fritz predigte die Religionsfreiheit. Ich hatte die Schlachten bei Torgau und Prag natürlich nicht miterlebt, da ich zu jung war. Aber ich erinnere mich genau, wie ich Mühe hatte, meine neue Uniform sauber zu halten...


Björn Randow: In welchem Jahr sind Sie dann geboren?


Athos: 1749. Ich nehme an, Sie testen, wie gut ich mir meine Geschichte vorbereitet habe. Wissen Sie eigentlich, wer noch 1749 geboren wurde?


Björn Randow: Ich habe keine Ahnung...


Athos: Goethe.


Björn Randow: [Gelächter] Sie behaupten so alt zu sein, wie Goethe?


Athos: Nein, ich bin einige Monate älter.


Björn Randow: Wurden Sie in die Armee eingezogen?


Athos: Nein, die Wehrpflicht kam nach Preußen erst zwanzig Jahre später. Ich meldete mich freiwillig... Das war damals nicht ungewöhnlich. Auch Descartes hatte sich freiwillig zur Armee gemeldet. Lange vor meiner Zeit natürlich. Ich weiß nicht, was seine Motive waren, doch ich war einfach nur jung und arm. Manches ändert sich eben nie. Die Uniformen waren bunt und sexy. Man bekam Sold und man bekam Frauen. So stellte ich es mir wenigstens vor. In meiner sehr kurzen Karriere als Soldat erhielt ich dann aber weder viel Sold, noch bekam ich irgendwelche Frauen. Und meine Uniform kriegte ihres ab, als ich den Mann aus der Spree fischte. Ein schlicht gekleideter Kerl, schon etwas älter. Er hustete vor sich hin und sein Gesicht war ganz blau. Ich zog ihn auf die Steintreppe, die in die Uferböschung eingeschlagen war und dachte eigentlich, daß wir beide sicherlich erfrieren. Doch dann raffte ich mich auf und schleppte ihn zur Straße, um dort eine Kutsche anzuhalten. Ich brachte den halbtoten Mann zu meiner Tante und ärgerte mich insgeheim, daß dieser Spinner meinen einzigen freien Tag ruinierte. Doch alles sollte anders werden. Er sprach fließend, ja beinahe akzentfrei deutsch, doch es stellte sich heraus, daß er wohl Franzose war. Sein Bein war gebrochen und wäre nicht der Cousin meiner Tante Arzt gewesen, wäre vieles vielleicht anders verlaufen. So haben wir ihn bei uns behalten und gepflegt...


Björn Randow: Einfach so?


Athos: Einfach so?


Björn Randow: Er war ein Unbekannter...


Athos: Sie haben recht, er war ein Unbekannter. Aber der Unterschied zwischen den alten Zeiten und dem Heute besteht nicht darin, daß wir nun Telegraphen und Audiokassetten besitzen oder zum Mond fliegen. In Wirklichkeit hätte man damals fast jedem in zehn Minuten erklären können, wie ein Plattenspieler oder ein Aufnahmegerät funktioniert. Die Leute meiner Ära waren nicht immer gebildet, doch sie waren unter keinen Umständen dümmer als ihr heute. Ich würde sagen, es war in vielen Belangen genau umgekehrt. Damals bemühte sich der Mensch um Eloquenz und Metaphern. Es war die Zeit der Dichter, vergessen Sie das nicht. Verglichen mit damals, erscheint es mir heute, als würde ich mich unentwegt mit Halbaffen unterhalten. Doch eins macht den wahren Unterschied aus. Man versteckte nicht seine Ignoranz hinter dem ominösen Begriff einer Privatsphäre. Damals warf man nicht einen Menschen, dem man gerade erst das Leben gerettet hat, zurück auf die Straße. Das hätte im Widerspruch gestanden zu all den Geschichten, die man sich abends am Tisch erzählte. Eine solche Kälte hätte in den meisten Haushalten als unsittlich gegolten.


Björn Randow: Wie kam der Mann ins Wasser?


Athos: Man hatte ihn verfolgt und er hatte sich zwischen den Pfeilern einer Holzbrücke versteckt. Doch dann rutschte er aus und brach sich das Bein. Das Wasser trieb ihn einige Minuten mit. Er stellte sich mir als der Freiherr Reinhard Gemmingen-Guttenberg und Graf Tsarogy vor, was mich sogleich an reiche Verwandten des Unbekannten denken ließ.


Björn Randow: Sie dachten, er könnte Ihnen zu einem Vermögen verhelfen?


Athos: Nicht einem Vermögen, aber vielleicht etwas Bares. Die Gier nach Geld, gleichermaßen motiviert durch Reichtum und Armut, ist damals und heute unverändert geblieben. Es gab nur mehr Hunger in Europa. Doch der Edelmann hatte keine Verwandten, die man hätte benachrichtigen können und wohl auch keinen Reichtum. Wie es sich herausstellte, war der Graf selbst ziemlich pleite. Im Bezug auf seine Widersacher war er zwar nicht sehr mitteilsam, doch bevor er eines Tages wieder spurlos verschwand, überreichte er mir etwas, das er als das Geheimnis seines Lebens bezeichnete. Es war eine kleine Schachtel, quadratischer Form, eingewickelt in ein Tuch. Sie besaß eine kleine rechteckige Öffnung, die mit Glas ausgelegt war und eine große, runde Taste. Drückte man auf diese Taste, leuchtete das viereckige kleine Glas auf und das Gerät begann leise ein Geräusch zu erzeugen, das regelmäßig verstummte und wiederkam. Heute würde man wohl von einem Piepsen oder einem Signal sprechen. Der Graf Tsarogy erklärte mir, ihm selbst sei nicht klar, was dieses geheimnisvolle Gerät bewirke und er hätte sich auch nie getraut, es gewaltsam aufzubrechen, da er befürchtete, es damit zu beschädigen. Er mochte ein seltsamer Kauz sein, doch er erkannte ein wahres Geheimnis, wenn er es in der Hand hielt. Auf dem leuchtenden Glas waren Zeichen zu sehen, die weder er, noch ich entschlüsseln konnten. Der Graf erzählte mir, er hätte festgestellt, daß sich die Natur des Geräusches in zweierlei Hinsicht verändert. Zum einen klingt das Geräusch an einigen Orten dieser Welt leiser und an anderen lauter. In Paris sei es recht leise und in London und Spanien fast unhörbar, während es in Venedig, München und in Berlin recht laut sei. Das andere merkwürdige war, daß das Geräusch nicht zu jedem Zeitpunkt gleich schnell klang. Seine Schlußfolgerung, die er mit langjährigen Meßexperimenten zu belegen glaubte, war, daß die Beschleunigung des Signals etwas mit der Zeit zu tun hatte und auf einen Zeitpunkt hinwies. Mit anderen Worten: an einem bestimmten Ort, zu einem bestimmten vorgesehenen Zeitpunkt, würde das Geräusch am lautesten und am schnellsten sein. Der Graf vermutete, es würde sich dann zu einem anhaltenden Ton verbinden, oder in einem sehr schnellen Stakkato vibrieren.


Björn Randow: Weshalb würde er Ihnen etwas so wertvolles schenken?


Athos: Nun, ich dachte zuerst - aus Dankbarkeit. Der Gegenstand war seltsam, aber es war kein Edelstein und es war kein Gold. Wie können Sie etwas als wertvoll einschätzen, wenn Sie nicht verstehen, was Sie in der Hand halten? Erst später begriff ich, daß der Graf sich seines Lebens nicht sicher war und dieses Objekt lieber in meine Hände legte, als es seine Häscher finden zu lassen. Ich bin mir nicht sicher, ob es sich so verhielt, aber es ist die einzige Erklärung, die Sinn ergab.


Björn Randow: Was dachten Sie, daß es ist?


Athos: Ich konnte mir darauf keinen Reim machen. Noch nie zuvor hatte ich einen solchen Gegenstand gesehen und ein derartiges Material in meinen Händen gefühlt. Und auch wenn der Knopf nicht gedrückt wurde und ich lediglich mein Ohr gegen die schwarze Hülle presste, hörte ich gelegentlich ein leises, fast unhörbares Summen, während meine Wange die leichte Wärme spürte... Nun, ich mochte Abenteuergeschichten. Als der Graf dann eines Tages verschwunden war, ohne ein Wort des Abschieds und ich einen Marschbefehl in eine Kaserne in Schlesien bekam, wußte ich, daß meine Armeezeit zu Ende war...


Björn Randow: Aber was geschah mit dem Graf?


Athos: Erst viele Jahrzehnte später begriff ich, daß der Mann, der sich Graf Tsarogy nannte, einer der größten Hochstapler unserer Geschichte war. In Bayern und in Preußen tauchte er später noch öfter auf, unter den Namen Prinz Rakoczy II. von Transylvanien oder Graf Weldon, während er in Frankreich und Italien unter dem Namen Graf de Saint-Germain und in England als Count Welldone bekannt wurde. Er reiste mit einem kleinen Koffer voller Edelsteine und Gold, da es bei seiner seltsamen Profession nützlich war, mobil zu bleiben und ließ kaum eine Gelegenheit aus, den Leuten zu erzählen, er hätte das Gold und die Brillanten künstlich nach alten alchemistischen Rezepturen hergestellt. Als ich ihn traf, hatte er den Zenit seiner Karriere als der erfolgreichste Con Artist (wie es doch die Amerikaner nennen) des 18. Jahrhunderts bereits überschritten. Er schien die meiste Zeit auf der Flucht zu sein und die Anzahl der Leute, denen er ganze Vermögen schuldete und die ihm in aller Diskretion auf den Zahn fühlen wollten, mochte immens sein.


Björn Randow: [lacht] Sie meinen, Sie haben den Graf Saint-Germain getroffen?


Athos: Das ist richtig. Der Eindruck, den er auf mich machte, entsprach nicht jenen Lobpreisungen, die man im Rokoko auf ihn verfasste...


Björn Randow: Richard Chanfray erzählt da eine ähnliche Geschichte wie Sie...


Athos: Nun, ich halte Richard Chanfray für einen Hochstapler.


Björn Randow: Aber Sie behaupten ebenfalls, Saint-Germain getroffen zu haben.


Athos: Ja, aber Saint-Germain war auch nur ein Hochstapler. Außerdem behauptet Chanfray, er sei der Graf von Saint-Germain. Ich hingegen behaupte, ihm lediglich begegnet zu sein. Das behaupten Voltaire, Casanova und Robert Clive ebenfalls. Sind das für Sie Verrückte?


Björn Randow: Nein, aber dafür sind diese Leute seit 200 Jahren tot.


Athos: Sie würde mir also mehr Glauben schenken, wenn ich tot wäre?


[Unverständliches Gelächter im Raum]


Athos: Wie auch immer. Ich wurde ein Deserteur und das war in der Armee von Friedrich dem Großen ein entsetzliches Vergehen. Doch ich konnte nicht anders. Das kleine Gerät, das von nun an leise in meiner Reisetasche vor sich wimmerte, faszinierte und zog mich an. Wie ein Magnet. Saint-Germain hatte über einen Zeitraum von fünf Jahren das Geräusch mit Hilfe von Sanduhren gemessen und kam zu dem Schluß, daß der sich wiederholende Ton im Jahr 1767 das Ende seiner Sequenz erreichen würde. Deshalb kam der Graf nach Berlin, obwohl er wußte, daß er dort nicht besonders willkommen war. Er hatte versucht sich dem Zielort zu nähern. Er hatte ausgemessen, daß 1767 die immer kürzer werdende Pause zwischen den Signalen, die zu diesem Zeitpunkt nur noch zwei Sekunden dauerte, komplett verschwunden sein würde. Der Graf erzählte mir, daß die Pausen zwischen den Signalen neun Jahre zuvor, als er dieses Gerät von einem armenischen Händler erwarb, mindestens fünfzehn Sekunden lang waren. Vier Jahre waren dann vergangen, bis Saint-Germain zufällig bemerkt hatte, daß das Signal immer schneller wurde. Wenn seine Berechnungen stimmten, blieb mir nur noch ein Jahr Zeit übrig, um das Geheimnis zu lüften. Ein Plan, der so gar nicht im Einklang mit meiner Soldateska stand. Ich war für Jahre der preußischen Armee verschrieben. Doch immerhin stellte ich fest, daß durch den Marsch nach Schlesien das Geräusch ein wenig lauter wurde.



In den Spiegeln
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