2.07 Riss in der Zeit


Und dann sah ich sie.

Tina wohnte direkt neben mir und war mir doch all die Monate nie begegnet. Nachdem ich den Taxifahrer bezahlt hatte, traf ich sie unten am Hauseingang. Ich ließ ihr den Vortritt und rechnete damit, dass sie früher oder später in einem der Stockwerke abbiegen und zu ihrer Wohnung gehen würde. Doch sie marschierte mit mir bis in die vierte Etage, und ich konnte die ganze Zeit auf ihren aphroditischen Hintern starren, der in einer blauen Sporthose steckte. Sie blieb erst in meinem Stockwerk stehen und vor der Tür nebenan. Während wir beide mit unseren Schlüsseln an den Türen klapperten, trafen sich unsere Blicke und verschmolzen für Augenblicke zu einem seltsamen Riss in der Raumzeit. Wir hatten kein Wort gewechselt oder Grußformeln getauscht. Sie war beim Öffnen der Tür schneller als ich, und bevor ich mich versah, war sie in ihrer Wohnung verschwunden. Ich stand noch immer dort, wie festgefroren, mit der Hand am Türknauf und heilfroh, dass sie meine ausgefallene Kleidung unter dem zugeknöpften Mantel nicht hatte sehen können.

Am nächsten Morgen, während ich mir in der Küche Milch in meinen unverzichtbaren Morgenkaffee rührte, fiel mir mein dahinschwindendes Vermögen ein. Über die unangenehmen Dinge denkt man immer im trostlosen Morgengrauen, nicht in den ausgelassenen Abendstunden.

Die Töchter des Königs von Siam hatten mich gut erleichtert.

Ich öffnete mit der dampfenden Tasse in der Hand das Gefrierfach und nahm die Plastiktüte heraus. Das Päckchen fühlte sich recht schwer an.

Ich stellte die Tasse beiseite und wickelte mit einem nicht gerade intelligenten Gesichtsausdruck die Verpackung auf.

Jemand hatte den Stapel wieder aufgestockt. Ich zählte hastig die Scheine durch und kam auf Dreißigtausend.

Nachdenklich gab ich einen unartikulierten Laut von mir und taumelte ins Wohnzimmer, wo ich mich auf das Sofa fallen ließ.

Verdammter Kapitän Nemo. Ich hatte sie stellenweise vergessen. Doch sie waren da. Sie sind immer da gewesen.

Würden sie mich jemals ansprechen? Würden sie jemals erklären, was das eigentlich war, das meinem Leben komplett auf den Kopf stellte?

Wie viel hatte ich eigentlich noch zu tun, mit dem Kerl, der im Haus der Kraniche vor sich hinvegetierte?

An diesem Morgen waren es einfach einige Fragezeichen zu viel. Heute wollte ich einige Antworten.

Ich zog mir die Kapuze meines Hoodies über den Kopf und ging in ein Internetcafé mit dem Namen »T.C.N.«. Die Abkürzung stand für »Trance-Cyberian Network«, was auf einer protzigen silbernen Tapete zu lesen war, die über der gesamten Länge der Rückwand klebte. Der zuständige Betreuer oder Wirt, oder wie man diese zumeist gelangweilten Leute hinter dem Tresen eines Cybercafés nennen will, wippte abwesend auf einem Barhocker und sah sich in einem kleinen Fernseher Baywatch an. Das mit dem Kaffee nahm keiner so richtig ernst. Die Internetcafés waren damals ein sehr neues Phänomen, und viele Leute kamen hierher, nur um kurz ihre Emails zu checken.

Der plastische Klang des Fernsehers mit seinen lästigen, vorlauten Werbeblöcken mischte sich auf eine recht befremdliche Art und Weise mit der etwas kitschigen New-Age-Musik, die aus den Lautsprechern drang und den eigentlichen Hintergrundsound für die Kundschaft bilden sollte.

Zu dieser Stunde war hier nicht viel los. Nur drei Touristen — zwei Männer und eine Frau — saßen einzeln an drei von den insgesamt zehn oder fünfzehn Stationen. Die Frau rauchte und starrte verbissen auf ihren Monitor, als ob dort der Bericht ihres Scheidungsanwalts stünde. Der überfüllte Aschenbecher zu ihrer Linken zeigte, dass sie schon länger hier war. Ich suchte mir ein Terminal aus, das in der Ecke stand und dessen Monitor von niemandem gesehen werden konnte. Ich bestellte mir einen Milchkaffee, was der Wirt mit einem abfälligen Zucken des Mundwinkels quittierte, da es ihn von Pamela Anderson und David Hasselhoff abhielt. Dann rief ich die Webseite von Yahoo! auf. Ich gab den Namen »Paul Lichtmann« ein und erhielt verschiedene Resultate. Doch die Webseiten hatten alle mit anderen Lichtmanns zu tun.

Bis auf eine Referenz. Möglicherweise. Es gab zwar keinen konkreten Anlass für mich, anzunehmen, dass es sich hier um meinen Paul Lichtmann handelte, doch ich hatte da so ein seltsames Gefühl. Die Seite bot die Programmübersicht einer kleineren Konferenz, die auf dem Campus der Universität in Heidelberg stattgefunden hatte. Neben einem recht kleinen Foto von einem Mann mit Krawatte und penibel nach Hinten gekämmten ergrauten Haare, stand die Beschreibung: Dr. Paul Lichtmann referierte zu dem Thema: das Anthropische Prinzip und der Tod. Mehr gab es da nicht, und so betrachtete ich noch einige Augenblicke den älteren Mann, der auf diesem Schnappschuss vermutlich gerade ins Publikum blickte, seitlich ans Rednerpult gelehnt.

Es mochte aber auch eine komplette Sackgasse sein. Ich gab lieber den Begriff »Lux Aeterna« in das Suchfeld ein, doch damit verhielt es sich ähnlich. Es tauchten Texte zur Musik von György Ligeti oder dem Spielfilm »2001« von Stanley Kubrick auf. Erst als ich »Kerygma« eintippte, rieselten aus dem Bildschirm zaghaft Antworten, die eindeutig auf die richtige Fährte führten.

Vor mir baute sich eine schlichte TXT-Datei auf, die aus den unkontrollierbaren Tiefen des Usenets stammte. Es handelte sich um ein Interview, das ein gewisser Björn Randow mit einem Mann namens Paul Laurentius geführt hatte. Das Interview war nie veröf fentlicht worden. Dass sich hinter diesem Namen Paul Lichtmann verbergen konnte, war mir sofort klar.

Der Autor dieses Postings versicherte, der seltsame Text, der ihm hier in die Hände gefallen war, sei nur ein kurzer Abriss und es gäbe auch eine ungekürzte Version, die mindestens fünfzig Seiten lang sei. Leider gab es keinen Verweis auf die lange Version, also begann ich die vorhandene Ausgabe des Texts zu lesen.

Der Inhalt war recht verwirrend. Laurentius erzählte Björn Randow, dass die Kerygma eine Geheimloge sei, die sich aus Kapitalisten und »vormals progressiven, doch heute reaktionären und konservativen Unternehmern und machthungrigen Spekulanten« zusammensetzte. Sie besitzen traditionell zahlreiche Aktien bei privaten Stromversorgern, ihre Spieler seien in alle erdenklichen internationalen Energie-Konzerne und Kartelle eingeschleust. Das Kerygma beteilige sich vorrangig am Bergbaugeschäft und am Bau von Kraftwerken. Sogar bei politisch konkurrierenden energetischen Modellen wie Kohle- und Atomkraftwerken mische das Kerygma auf beiden Seiten mit.

Der Sinn und Zweck der Organisation diente ausschließlich einem Ziel: eine andere Gruppe mit dem Namen Lux Æterna zu jagen und zu vernichten. Dass sich diese Kampagne nicht gerade in einem rechtstaatlichen Rahmen abspielte, war offensichtlich. Der Konflikt zwischen Lux Æterna und Kerygma wurde in dem vorliegenden Text nicht tiefer erläutert, bis auf die Bemerkung, dass die Lux Æterna einen Ritus, der als »Aschewerdung« bezeichnet wurde, praktizierte, und das Kerygma die Anwendung dieser Zeremonie für verdammenswert hielt und bereit war, einen jeden auszulöschen, der damit in Berührung kam. Wenigstens so hatte ich den besagten Absatz verstanden. Für einen unbescholtenen Außenstehenden musste dieser ganze Text wie eine amüsante, moderne Fabel wirken. Ein Scherz, in den real anmutenden Rahmen eines Interviews gesetzt. Doch nach meinen Erfahrungen mit Rufus Mahr im Haus der Kraniche erschienen mir diese Zeilen keineswegs harmlos.

Plötzlich erinnerte ich mich an die Nachricht. Ich kramte nach meiner Brieftasche und fand den Zettel sofort. Neben dem Monitor befand sich ein silberfarbener Cannon-Scanner. Noch einmal sah ich auf die sinnlose Anhäufung von Buchstaben und legte das schmutzige Stück Papier auf das Scannerglas. Als ich fertig war, schickte ich eine leere Email an mich selbst und hängte den Scan an.

Das Papierröllchen verstaute ich wieder in meiner Brieftasche, wobei ich es mir nicht nehmen konnte, vorher noch einmal daran zu riechen. Doch der Duft aus Mottenkugeln und Mösensaft war verflogen.

Ich blickte von meinem Bildschirm hoch. Draußen fing es an, leicht zu nieseln und die kleinen Wassertropfen zerschlugen sich an den riesigen und exhibitionistisch anmutenden Schaufenstern des Cybercafés. Der Laden lag an einer Straßenecke, die ich durch mein Schlafzimmerfenster gerade noch am Ende der Straße sehen konnte. Ich dachte plötzlich daran, dass hier um acht Uhr morgens Banker und Versicherungskaufleute anhielten, um sich die Morgenzeitung von den Automaten zu holen. Nachmittags stand an dieser Ecke ein Zeuge Jehovas und hielt einen Wachturm hoch. Abends konnte man eine Gruppe Afrikaner sehen, die dort Gras, Koks und Amphetamine vercheckte. Das harmonische Zusammenleben des Gemeinwesens war eine Lüge, denn allein diese drei Bevölkerungsgruppen hassten sich gegenseitig wie die Pest. Es waren alles in Wirklichkeit nur Schichten, die in derselben Stadt übereinander gelegt wurden und kaum Schnittstellen besaßen (außer die Bankiers brauchten etwas Koks von den Afrikanern, was aber nicht zu einer gegenseitigen Wertschätzung beitrug).

Ich kehrte nach Hause zurück und erinnerte mich an die Frau in der Wohnung nebenan. Ich nahm das Kartonrohr einer leeren Klopapierrolle und presste es gegen die Wand meines Schlafzimmers. Ich lauschte durch das Röhrchen, im vollen Bewusstsein, dass ich abgefuckter war, als ich es mir bereits eingestand. Doch alles was ich hörte, mutete wie das Rauschen einer Meeresmuschel an. Erst am Nachmittag, als ich meinem recht armseligen Voyeurismus — oder viel mehr Audierismus — ein da capo gab, hörte ich befremdliche, gedämpfte Geräusche, die wie Peitschenschläge klangen.

Noch so eine? Es fiel mir schwer das zu fassen. Diese Stadt... Doch bald sollte ich meinen Irrtum erkennen.

Verwundert ging ich abends in die Stadt, um in einer Pizzeria Pasta zu essen. Auf dem Rückweg zu meiner Wohnung passierten mich die Ereignisse wie ein landendes Flugzeug.

Vielleicht zweihundert Meter von der Haustür entfernt sah ich die beiden Männer. Sie trugen kurze Motorradjacken und unterhielten sich. Einer von ihnen rauchte eine Zigarette. Sie verfolgten mich nicht etwa — im Gegenteil, ich kam auf sie zu. Als ich an ihnen vorbeikam, rührte sich da etwas in meinem Gehirn. Ein Gedanke, der erst mal diffus und unklar war — aber intensiv. Da war irgendein Detail. Etwas, das nicht stimmte. Oder im Gegenteil, etwas das zu sehr stimmte. Es dauerte jedoch noch weitere zwanzig Sekunden bevor ich es begriff. Einer der beiden Männer trug feinrasierte Bartkotletten. Keine buschigen Teppiche, sondern säuberliche, dünne Striche, die wie dunkle Rinnsale entlang seines Kiefers verliefen. Doch das verstörende war seine Hand, die ich im Vorbeigehen im Augenwinkel sah. Der kleine Finger war vermutlich amputiert und durch eine metallische kleine Prothese ersetzt. Ich hatte diese Hand bereits gesehen, jedoch nie bewusst daran gedacht. Tief in meinem Gedächtnis war ein Bild gespeichert und wartete auf die Erweckung durch ein neues Bild desselben Inhalts. Das Haus der Kraniche. Ich erinnerte mich plötzlich an einen der Söldner, der unten in der Halle des Hauptquartiers, unweit von Hausmeister Mahr stand, mit einer Maschinenpistole in den Händen. Sein Gesicht war mir nicht bekannt — vielleicht hatte er damals zu sehr im Schatten gestanden. Aber ich erinnerte mich, dass seine linke Hand eine Prothese trug.

Ich wollte gar nicht sehen, ob sie mir folgten. Es bestand eine gewisse Chance, dass diese Männer nicht wussten, wo ich lebte, und jene Straßenecke, an der sie mich abfingen, der äußerste Punkt war, bis zu dem sie mich in den vergangen Tagen bespitzelt hatten. Nun erwarteten sie wohl, dass ich sie zu meiner Wohnung führte, damit sie mich dort erledigen konnten. Ich hatte nicht vor, dem zu entsprechen.

Mit den Händen in den Taschen überquerte ich die Straße und schlug sofort eine andere Richtung ein. Ich wollte sie lieber auf die Reeperbahn locken, denn dort befanden sich unzählige Zeugen für alles, was geschehen mochte.

Als ich mich mit einem möglichst unauffälligen Kopfschwung umsah, stellte ich jedoch fest, dass mir niemand folgte. Ich stand allein in einer dunklen Seitenstraße, an deren Ende die grellen Lichter von St. Pauli pulsierten.

Doch dann quietschten plötzlich Reifen und ein Paar runder Scheinwerfer raste um die Ecke. Zu jenem Zeitpunkt, als die Gesamtheit meines Körpers begriff, dass es nun an der Zeit war, zu rennen, bremste der Wagen nur drei Meter vor mir. Die Türen waren aufgerissen und der Mann mit dem peniblen Bart sprang heraus. Der Fahrer folgte ihm. Ich streckte dem ersten Angreifer meine Hände entgegen, was eine außerordentlich schwache Abwehr darstellte. Dies wurde sofort mit einem trockenen, kurzen und über alle Maße eingeübt wirkenden Schlag auf meinen Brustkorb belohnt. Die Luft schoss aus meinen Lungen. Ich schlug im nächsten Moment auf dem Steinpflaster auf und versuchte panisch einzuatmen. Es gelang mir nicht. Mein Hals und meine Brust bebten bei dem Versuch, die Blockade in meinen Lungen zu lösen und einen Schluck Sauerstoff zu fassen. Während es mir endlich gelang einen tiefen Atemzug zu holen, blitzte in der Hand des anderen Fahrers etwas auf.

Inzwischen packte mich der Söldner am Ellbogen und zerrte mich recht erfolgreich hoch. Sie wollten mich in das Auto verfrachten.

Plötzlich glitt hinter den Rücken der Männer ein Schatten über die Motorhaube des Autos. Dann trat jemand gegen den Unterschenkel des Fahrers. Sein Knie krachte auf das Steinpflaster. Die fremde Gestalt schlug ihm mit dem Ellbogen ins Gesicht, gerade schnell genug, um dann den Faustschlag des zweiten Mannes abzufangen. Der Fahrer blieb bewusstlos liegen und ich sah das seltsame Objekt über den Asphalt rotieren. Es war kein Messer, sondern ein Gegenstand, der wie eine Kreuzung aus einer Pistole und einer Injektionsspritze aussah.

Der neue Spieler warf sich zurück und umkreiste nun den großen Schläger mit den Bartkotletten. Sie stießen zweimal wie Hirsche gegeneinander und wichen wieder zurück. Offensichtlich war der um einen Kopf größere Schläger mit dem Silberfinger stärker. In diesem Augenblick erkannte ich nicht nur, dass mein Retter eine Frau war — sondern auch, dass mein Retter die Frau aus der Nachbarwohnung war.

Der Killer trat nach ihr, verfehlte sie aber. Diesen Missgriff bezahlte er sofort mit einem Gegenangriff auf sein Standbein und einem spektakulären Sturz auf die Straße. Wie ein Panther sprang die Frau hoch und landete mit dem Knie voraus auf der Brust des liegenden Mannes. Ich konnte nicht sehr gut sehen, was als nächstes geschah. Ich hörte Schläge und ein lautes Keuchen. Dann stand sie auf, trat einige Schritte zur Seite, hob etwas vom Boden auf und ging dann zielstrebig auf mich zu.

Es war vorbei. Der Motor des Wagens brummte vor sich hin und irgendein Anwohner schrie aus dem Fenster nach der Polizei. Ich stemmte mich gegen meine Ellbogen und hielt meine Hand vors Gesicht. Die Scheinwerfer blendeten. Ihre Hand streckte sich mir entgegen und zog mich hoch.

»Kein Grund sich in mich zu verlieben«, sagte sie mit lächelnden Augen und ernstem Mund.

Ich wollte so schnell wie möglich weg hier. Wir schlichen uns eilig in unser Haus. Vielmehr zog sie mich am Arm hinter sich her. Dann standen wir vor unseren beiden Wohnungstüren und ich suchte ratlos nach meinen Schlüsseln.

»Komm mit« sagte sie leise, jedoch bestimmt. Erst jetzt konnte ich sie richtig ansehen. Sie trug typische Sportkleidung. Vermutlich war sie joggen. Nachdem, was ich gesehen hatte, musste sie sich bei nächtlichen Ausflügen durch St. Pauli keine Sorgen machen.

Ich folgte ihr in ihre Wohnung, willig wie ein Schaf. Schon im Eingang duftete es nach Frauenparfum und Waschpulver. Sie zog ihre Straßenschuhe aus, und so tat ich es ihr nach.

Das Wohnzimmer überraschte mich, denn es hatte nichts Wohnzimmerartiges. Ich war von dem Überfall recht verstört, doch was ich hier sah, sorgte durchaus für Ablenkung. Als größter Raum in der Wohnung, war es zu einem kleinen Dojo umfunktioniert worden. Ein Sandsack hing von der Decke, entlang der Wand war ein Folienspiegel verklebt und statt eines Teppichs gab es auf dem Boden ein hellblaues Puzzle aus weichen Bodenmatten.

»Du trainierst viel, oder?« fragte ich abwesend und dachte an die dumpfen Schlaggeräusche, die ich durch die Wand gehört hatte. »Ich hatte gedacht...«

»Was?« Meine Retterin lehnte sich leicht gegen den Sandsack und blickte mich an.

»Nichts«, antwortete ich und sah verlegen auf meine Füße. »Ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt.«

»Ich war in der Nähe«, erwiderte sie bescheiden.

Meine Augen glitten langsam über kleine silberne Pokale und Medaillen. Fotos, die Tina in kleinen und großen Gruppen anderer Sportler und Kämpfer präsentierten — zumeist in asiatischen Kimonos, statisch wie eine Schulklasse vor der Kamera stehend. Doch auf manchen Bildern war sie inmitten von Wettkämpfen zu sehen, mit ähnlich uniformierten Gegnern und konzentriert wirkenden Schiedsrichtern. Ein Foto zeigte nur Tina alleine. In der Luft levitierend wie ein Satellit, erstarrt im Sprung — das Bein einem imaginären Ziel entgegengestreckt. Diese Frau warf sicher nicht Porzellan durch die Wohnung, wenn sie mal sauer war.

»Und was ist es, das du machst?« fragte ich, während ich die Bilderwand entlangging.

»Win Tsun, Escrima und Taekwon-Do«, rief sie aus der Küche. Ich sah sie dort zwei massive Gläser aus dem Regal nehmen. »Eigentlich trinke ich keinen Alkohol, also machen wir das hier nur symbolisch.«

Sie goss einen Schuss Wodka in die Gläser und füllte mit Orangensaft nach.

In einer Ecke des Raums entdeckte ich das Schwert. Es lag in einer schwarzen Halterung aus lackiertem Holz auf einem kleinen Tisch, zusammen mit dem kürzeren Bruder, der ebenfalls in einer karminroten, verzierten Scheide steckte.

Sie war inzwischen wieder ins Wohnzimmer gekommen und beobachtete mich.

»Am längsten mache ich aber Kendo«, sagte sie. Ich entdeckte neben dem Schwert einen Korb auf dem Boden, in dem sich fünf oder sechs Holzschwerter befanden. »Ich habe mit vier Jahren angefangen. Ich war schon als Kind nicht schmächtig genug fürs Ballett.«

Das hier war sicherlich einer dieser Augenblicke, an dem die Regeln des Dramas von mir verlangten, dass ich mich lächerlich machte, das Schwert in die Hand nahm, es aus seiner roten Scheide zog, um damit albern herumzufuchteln — bis sie es mir wieder abnahm und mich auf meinen Platz wies. Doch nach dieser Regel wollte ich nicht spielen. Meine Hände zitterten noch, so dass ich mir vermutlich nur die Halsschlagadern durchgeschnitten hätte. Ich konnte mir auch denken, wie besessen die Besitzerin eines derartigen Schwerts ist. Ich wollte das Ding unter keinen Umständen anfassen!

Auf einem kleinen Arbeitstisch sah ich geschmackvolles Papier und einige kleine Behälter mit Tinte oder Tusche, sowie Pinsel. Das Papier verriet höchste Schönschreibkunst und einige Blätter waren sogar mit japanischen oder chinesischen Texten beschrieben. Tina war erstaunlich.

Wir gingen in die Küche, die vollkommen funktional und schmucklos war, als lebte hier gar niemand. Wie diese Ausstellungsräume bei IKEA. Wären da nicht ein paar Teelöffel im Spülbecken und unzählige Krümel rund um den Toaster gelegen, hätte man meinen können, sie sei vollkommen unbenützt. Tina musste eine sehr penible und reinliche Frau sein. Nicht gerade kompatibel für mich. Ich dachte kurz an Evelyns ausgeprägten Sinn für eine gewisse punkige Unordnung.

Wir setzten uns hin. Ich blickte durch die Küchentür und sah mich selbst im Spiegelbild der Wohnzimmerwand. Der Schock der vergangenen Minuten legte sich langsam. Ich spürte noch den Schmerz in meiner Brust, doch es war nur ein oberflächliches Pochen, nichts das von innen stach. Es mochte in einigen Stunden vergehen.

Wir stießen an.

»Auf deine Fähigkeiten«, sagte ich langsam. »Ich habe dir viel zu verdanken.«

Ich versuchte vor ihr zu verstecken, dass meine Hände noch immer zitterten, und nahm rasch einen Schluck. Es war der dünnste Screwdriver, den ich je gekostet hatte. Doch ich schätzte, man wurde nicht so schnell wie sie, indem man sich mit Alkohol zuschüttete oder kiffte.

Ich beobachtete sie neugierig. Sie hatte kräftige Brüste und starke Schultern. Ihr langes Haar war schwarz und streng zusammengebunden. Doch nicht am Nacken, wie die meisten Pferdeschwänze, sondern am Hinterkopf. Sie erschien mir wie eine hunnische Prinzessin. Wie Black Canary. Wie ein verdammt feuchter Traum. Ihre Gesichtszüge waren weich und feminin — nur ihre Augen strahlten eine seltsame Härte aus. Das genaue Gegenteil von Evelyn.

»Ich kenne nicht einmal deinen Namen«, fiel mir ein.

»Tina«, sagte sie, lächelte und reichte mir die Hand.

»Ich bin Marek. Eigentlich Jan-Marek.«

Ich gab mich nonchalant. Doch sie konnte sehen, dass ich immer noch durcheinander war. Sie sah durch mich hindurch.

»Ein Riss in der Zeit...«

»Wie?«

»Mir kam es vor wie ein Riss in der Zeit«, erklärte sie. »Als ich in die erste Schlägerei hineingeriet, ging es mir genauso. Ich hatte einen gebrochenen Finger, drei angeknackste Rippen und zwei Zähne verloren. Ich zitterte wie ein gehetztes Tier. Und dabei hatte ich mich zu diesem Zeitpunkt schon viele Jahre auf diesen Augenblick vorbereitet.«

»Es ist seltsam«, sagte ich. »Ein Teil von mir ist ok. Ganz normal. Hey, es ist passiert. Jetzt habe ich es hinter mir. Aber ein anderer Teil von mir ist noch immer da, in diesem Scheinwerferlicht, und kommt nicht weg.«

Ich blickte verlegen auf meine Hände.

»Wer waren die Typen?«

»Ich weiß es nicht. Die wollten mich ausnehmen«, log ich. »Hast du den einen...?«

Sie lächelte. »Nein. Aber seine Nase braucht einige Korrekturen.«

»Er musste doch viel stärker sein als du.«

»Er war garantiert viel stärker. Ich werde ihn anrufen, wenn ich mal wieder umziehe«, sagte sie und lachte.

»Du warst schneller...«

»Ich war schneller, aber schneller gegen stärker ist keine Garantie für den Sieg.«

»Was dann?«

»Musashi Miyamoto sagt: Eile ist auch Leichtsinn. Lasse zu, dass der Gegner überstürzt ist. Doch nur um es selbst nicht zu sein. Und davor sagt er, dass es der bessere Rhythmus ist, der den Sieg bringt, nicht die übertriebene Stärke und die übertriebene Geschwindigkeit.«

Es war eine unwirkliche Situation. Sie sprach über einen japanischen Schwertmeister, statt nun endlich mit mir die Polizei anzurufen. Ich war froh, dass mir die Ausreden erspart blieben. Ich lebte nicht in dieser Welt. Ich war woanders. Fern des Gemeinwesens. Fern der Regeln. Fern der Sicherheit und der Geborgenheit. Fern der Ansprüche. Fern der Schuldzuweisungen. Es gab nur noch Rätsel.

Warum aber kam sie nicht auf die Polizei? Ich wusste, dass kampfsporterfahrene Menschen oft einen schweren Stand vor Gerichten haben, sogar wenn sie im Recht zu sind. Auf dem Kiez rief man wohl nicht zu jeder blutigen Nase die Polizei.

Sie stellte plötzlich das Glas hin. Für einen mikroskopisch kleinen, von meinem abgrundschlechten Charakter beseelten Augenblick, dachte ich, dass nun etwas Aufregendes passieren würde.

»Ich muss dich jetzt rausschmeißen, Marek«, sagte Tina und lächelte noch eine Spur freundlicher. »Ich bin müde und möchte endlich pennen gehen.«

Sie war sehr höflich und hilfsbereit, wie die Verkäuferin in einem Dessousladen. Aber als Kunde landet man noch lange nicht mit der Verkäuferin im Bett, nur weil man ständig von ihr angelächelt wird. Eigentlich ein wenig ungerecht.

»Wenn Ärger im Anmarsch ist, klopf an die Wand«, gab sie mir auf den Weg, und ich wusste nicht, ob das ironisch gemeint war.

Bevor ich mich richtig versah, stand ich draußen im Treppenhaus. Was hatte ich erwartet? Dass sie sich mit mir die ganze Nacht besäuft und sich dann von mir lecken lässt? Guess again!

Ich ließ mich rückwärts auf mein Bett fallen und starrte auf die Decke. Ich sollte nun meine Sachen packen und fliehen. Jetzt, in eben diesem Augenblick. Mit nur einer leichten Tasche und dem restlichen Geld. Die Wohnung war vermutlich nicht mehr sicher. Jemand kannte mehr von meinem Geheimnis als ich selbst. Ich dachte an Evelyn und Tina — meine einzigen richtigen Freunde hier in Hamburg. Ich hatte kein Recht, sie noch tiefer in meine Probleme hineinzuziehen.

Die beiden Schläger konnten jeden Augenblick die Tür aufstoßen und das zu Ende bringen, was Tina unterbrochen hatte. Vielleicht hatte sie einen tiefen Schlaf und würde ein zweites Mal nicht zur Stelle sein. Vielleicht kamen sie diesmal mit Uzis und schossen auf alles, das sich bewegte.

Ich stand auf und schleppte mich zur Wohnungstür. Mein Gehirn war hellwach und vollkommen aufgedreht, doch mein Körper war erschöpft und versuchte mir trotzig den Dienst zu versagen. Ich schob das Sofa fünf Meter durch den Raum und parkte es direkt vor der Tür. Dann legte ich einen Teller auf den Sofarand, der sofort umfiel und zu Boden stürzte, falls jemand das Sofa bewegte.

Ich holte die Bücher, die ich am Münchner Bahnhof aus dem Schließfach genommen hatte. Sie waren in der Küche unter der Spüle versteckt. Ich nahm die schwere Pistole heraus und wog sie in meiner Hand.

Mein Ego war nach der martialischen Begegnung mit Tina recht angeknackst, was nicht immer das schlechteste ist. Doch ich wusste, dass diese befremdlichen Verschwörer aus München mir im Nacken saßen, und ich konnte wenigstens versuchen, die Chancen etwas auszugleichen.

Das kleine Problem, dass ich bisher nur einmal, in dem abgestellten Zug in Pasing, eine Pistole in der Hand gehalten hatte, und damals keine besonders rumreiche Figur abgab, war ein hässlicher, kleiner Makel in meinem Konzept. Doch daran konnte ich wenig ändern. Ich nahm die Waffe aus dem Buch heraus, lernte es, sie zu entsichern, die Magazine zu wechseln und die berühmte einsame Patrone aus der Kammer zu entnehmen. Viel mehr konnte ich nicht tun, da Schießübungen in meiner Wohnung vermutlich das halbe BKA auf den Plan gerufen hätten.

Ich saß auf dem Bett, musterte die Waffe und überlegte die nächsten Schritte. Meine Augen brannten vor Müdigkeit. Ich wusste, dass die Zeit der Muße irgendwie vorbei war. Ärger bahnte sich an. Dinge verdichteten sich. Ich beschloss Evelyn in mein kleines Geheimnis einzuweihen. Sie würde mich auslachen, doch ich begann mir Sorgen zu machen, dass sie durch meine undurchsichtige Situation in Gefahr geraten könnte. Dr. Mårtenssons Wohnung war nicht mehr so anonym und sicher, wie ich gedacht hatte.

Ich schob die Pistole unter die Bettmatratze und ließ mich auf das Bett fallen. Dann sterbe ich eben, dachte ich trotzig. Hauptsache, ich kann jetzt etwas schlafen.

In wenigen Stunden würde es dämmern. Ich hatte wirklich genug für heute.

Draußen begann langsam der Regen gegen das Blech der Dachrinnen zu trommeln und all die Zigarettenstummel und all das Erbrochene wegzuspülen, all die verbrannten Streichhölzer und bunte Lose mit dem Aufdruck »Niete«, gebrauchte Kondome und menschliches Blut, nach Fisch riechende Seiten einer Zeitung und Hundekot. Für heute war es wieder vorüber. Nur unten auf dem Altonaer Fischmarkt stellte sich gerade der Alltag ein.

Es war immer dasselbe mit mir. Wie damals in München, als ich im Zug saß. Ein Teil von mir zitterte im Schock, ein anderer freute sich über eine seltsame Lebensnähe. Es war, wie Evelyn es schilderte, als sie von SM sprach: Plötzlich ist man voll wach. Der Tag war vorüber, und mein Kopf schien nur noch sinnlose Ladungen Adrenalin auszustoßen, die sich nun mit der körperlichen Müdigkeit einen Gefecht lieferten. Doch die Müdigkeit gewinnt am Ende immer. Sex wäre jetzt die Krönung. Erschöpfter, träger Sex.

Pech gehabt.

In den Spiegeln
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