1.09 Schließfach 2012
Ich riss meinen Kopf hoch und blickte mich um. Ich hatte geschlafen. Im Zug herrschte Ruhe. Das Licht war gedämpft. Die meisten Passagiere schlummerten vor sich hin. Eine Stimme aus dem Lautsprecher verkündete die Nähe von Hannover. Ich umklammerte noch immer den kleinen Rucksack mit den fünf Büchern...
Die Bücher...
Das Schließfach...
Der Schlüssel.
Er trug die Nummer 2012. Ich beobachtete die kleine Metalltür vor mir, eine von Hunderten Schließfachtüren in einem dunklen Seitenkorridor des Münchner Hauptbahnhofs, unweit des nördlichen Seiteneingangs. Ich blickte nach links, zur hell beleuchteten Haupthalle. Dort strömten weiterhin rastlose Menschen. Zwei Männer von der Bahnwache schlenderten gemächlich vorbei. Sie trugen blaue Uniformen und rote Barette. An ihren Gürteln baumelte jener protzige Schlagstock, den ich einige Stunden zuvor in Manzios Hand in Aktion sah.
Ich ließ sie vorübergehen und versuchte, nicht konspirativ auszusehen. Dann schob ich den Schlüssel ins Schloss und spürte, wie mein Puls beschleunigt. Würde ich nun Antworten bekommen?
Ich ging in die Hocke und öffnete die massive Metalltür. Ich blickte auf ein kleines Paket aus festem Papier, umwickelt von solider haariger Schnur. Davor lag ein großer brauner Briefumschlag auf einem zusammengefalteten schwarzen Hemd. Ganz hinten befand sich eine zusammengefaltete Kuriertasche. Ich packte den gesamten Inhalt des Schließfachs hinein. Immer deutlicher spürte ich den kalten Atem des Bahnhofs. Die anderen Reisenden waren alle in warme Pullover eingekleidet und trugen herbstliche Jacken. Mein Outfit war gerade gut für eine Lungenentzündung. Ich klappte das leere Schließfach zu und ging zurück in die Eingangshalle.
Auf dem WC des Burger Kings zog ich mich um. Das Hemd passte mir gut. Aber vor allem war es trocken und sauber. Das alte T-Shirt warf ich in den Mülleimer.
Als ich mich auf dem WC im Spiegel sah, mit frischen Wassertropfen die mir das Gesicht entlang liefen, reiste ich zurück in der Zeit. Vor fünfzehn Jahren kletterte ich in einen Kanal, um den Tod kennenzulernen. Mein Geheimnis, das ich letzte Nacht Manzio verriet. Und kaum hatte ich es getan, verwandelte sich Manzio und alles wurde anders. Was stimmte nicht mit mir? Was geschah mit mir?
Ich musste nachdenken. Allein. Ich wollte nicht zurück zu den Mädchen gehen. Sie beeinflussten meine Gedanken. Das hatte ich in der Telefonzelle gemerkt.
Der Burger King am Hauptbahnhof besitzt eine Galerie, fünf Meter über dem Boden der Eingangshalle vorgelagert. Hier kann man sitzen und die Menschen beim geschäftigen und meist eiligen Schwirren beobachten. Ruhig spazieren hier nur die Polizei und die Bahnwache und der eine oder andere Tourist, der es nicht eilig hat und auf seinen Zug wartet. Der Münchner Hauptbahnhof ist ein genauso unterkühlter und ausdrucksloser Ort, dominiert von Stahlträgern und verchromten Geländern. Die weiten, matten Fenster verleihen ihm die Note einer großen Fabrik. Doch auch er atmet das Heimweh ein und das Fernweh aus. Wie alle anderen großen Bahnhöfe erschafft er die besondere Zeitqualität des Aufbruchs und der Ankunft. Ob jugendliche Soldaten, hektische Japaner oder abenteuerlich wirkende Rucksacktouristen, Mütter und Töchter, Geschäftsmänner und Liebespaare, stets herrschen hier Bewegung und Rastlosigkeit. Traurig und heiter zugleich. Auf dem Bahnhof ist plötzlich jeder interessant, denn hier hat jeder eine Herkunft und ein Ziel. Eine Bestimmung, die sich mir nicht offenbart. Auf einem Bahnhof hat jeder sein Geheimnis.
Ich wusste nicht, was als nächstes passiert. Und aus meinem Inneren kroch langsam ein blasser Bandwurm hoch in mein Gehirn, um mir die schrecklichste aller Wahrheiten mitzuteilen: das Leben besteht darin, nichts zu wissen über die kommenden Dinge. Ich mochte in zehn Minuten tot sein. Erschossen, oder erdrosselt in einer dunklen Ecke des Bahnhofs. Vielleicht erst in zwei Tagen oder in einem Monat oder in einem Jahr. Gewissheit ist das Lieblingswort der Narren. Sicherheit ein Fachbegriff der Lügner. Und Geborgenheit ein einsamer Wunschtraum.
Heute wird mir klar, wie gesegnet ich war. Wie ziellos und uninspiriert sich mein Leben bis dahin anfühlte. Wie sehr ich eine triste Straße entlangging, die nirgendwo hinführte, außer zu noch mehr Trostlosigkeit, zu mehr Kiffen, zu mehr Nihilismus, mehr Hass auf den Arbeitgeber, mehr Hass auf die Banken, den Staat, die Eltern... das Leben. Und tief in meinem Inneren regte sich etwas, das zu lange geschwiegen hatte und das nun seine Befreiung feiern wollte. Deshalb war ich nicht am Boden zerstört über den Verlust meines bisherigen Lebens. Über den Verlust meines Eigentums. Über den Verlust einer minutiös geführten Sammlung buntbedruckten Papiers.
Dieser Gedanke verstärkte die perverse, seltsame Euphorie, die mich bereits vor den Schließfächern befallen hatte. War das Schock? Und konnte es ein Schock sein, wenn man imstande war, es als Schock zu benennen?
Unten strömten Menschen in typischer Eile. Auch ich hatte es eilig, doch es war eine andere Art von Dringlichkeit. Eine Hast, die ich bis dahin noch nie gefühlt hatte. Ich hatte alles verloren, ja, doch zeitgleich tat sich ein Tor auf und ich erkannte einen neuen Weltraum, der sich mir hier anbot. Es interessierte mich nur noch, was die nächste Stunde brachte, die nächsten zehn Minuten, der nächste Atemzug. Was tun in einer Situation, die komplett keinen Sinn ergibt? Was tun mit einer Gleichung, die nur aus Unbekannten besteht? Was tun mit einem Leben, das plötzlich so schnell brennt wie ein Streichholz?
Immer erst das Kuvert öffnen.
Ungeduldig riss ich den Umschlag auf. Zum Vorschein kamen dreißig Tausendmarkscheine, ein undatiertes Ticket erster Klasse für einen beliebigen Zug nach Hamburg, die Visitenkarte eines gewissen Dr. Bertil Mårtensson, an deren Rückseite ein weiterer Schlüssel mit einem Klebeband befestigt war, ein britischer Reisepass und ein Taschenmesser mit einer Springklinge, auf der die Aufschrift Omophagia stand. Neugierig öffnete ich den Reisepass. Der eingeschriebene Name lautete Jeffrey Underhill. Das Foto zeigte einen Mann mittleren Alters, mit einem blonden Schnurrbart. Er war alles, nur nicht mir ähnlich.
Ich drückte mit infantiler Befriedigung die kleine Taste an dem Messer und musterte die scharfe Klinge, die heraussprang. Ich zerschnitt damit die Fäden des Pakets und faltete das harte Papier auseinander. Vor mir lagen fünf alte Bücher, alle in festem, schmucklosen Einband, wie aus einem Antiquariat. Und auf ihnen lag ein Game Boy.
Rätsel? Das hier war ein perpetuum mobile für Rätsel.
Ich blickte auf die Menschen unten, die durch die Halle marschierten, oder sich bei Fahrscheinautomaten aufhielten. Meine Gedanken waren verschwommen und weich wie Gelatine. Gelangweilte, gähnende Passanten horteten sich vor dem gigantischen Fernsehmonitor, der inmitten der Eingangshalle von der Decke hing und gestrige Fußballergebnisse zeigte. Durch den Bahnhof hallte eine dieser unverständlichen Frauenstimmen und sagte die Eilzüge und ICEs an. Unter mir marschierte eine vielleicht fünfzigjährige Blondine mit einem gut fünfundzwanzig Jahre jüngeren Afrikaner in engem T-Shirt. Ihren Weg kreuzten zwei Polizisten — ein Mann und eine Frau — in diesen typischen sandfarbenen Hemden und mit weißgrünen Mützen.
Ich sah auf den Game Boy vor mir. Dann wieder auf die Polizisten. War ich das Opfer eines verrückten Streichs? Vielleicht ging es nur darum, mir irgendein Verbrechen unterzuschieben und mich auch noch so zu navigieren, dass mein gesamtes Verhalten mich mehr und mehr belastete. Doch das war alles Unsinn — ich wusste es. Niemand hatte mit dieser Situation gerechnet, und nun strebten alle beteiligten Parteien emsig danach, mich in ihre Gleichung einzubeziehen. Währenddessen nahm ich das Spielzeug und schaltete es in Gedanken versunken ein. Nicht etwa, dass es in meiner Situation eine Rolle spielte, ob eine Speicherkarte mit Wario, Tertris oder Super Mario im Gerät steckte.
Wäre nicht das einzige Sinnvolle, nun herunterzugehen und die beiden Polizisten anzusprechen? »Guten Tag, ich habe vor einigen Stunden versucht, eine Gruppe von thailändischen Zwangsprostituierten zu befreien, als ich Zeuge...« Zeuge von was, überlegte ich. »Auf jeden Fall war mein Hausmeister darin verwickelt... Und mein Nachbar. Jetzt habe ich einen Minibus mit vier Thailänderinnen ohne Schuhe an der Backe und ein Kuvert mit dreißigtausend Mark...«
Mein Blick streifte das kleine Display, doch anstelle eines Spiels, baute sich vor mir in Sekundenschnelle lediglich eine Zeichenfolge auf:
calling luxaeterna
session in process
Und schließlich:
enter password now
Ich schaltete das Gerät ab und zog die Speicherkarte heraus. Auf ihr befand sich nur die schlichte Aufschrift:
SUPACHIP 12TB
Das war definitiv nicht Super Mario. Ich steckte die Karte wieder hinein und schalte den Game Boy ein. Die Prozedur wiederholte sich. Wieder erschien der Satz.
session in process
enter password now
Nachdenklich blickte ich auf das Gerät und besah es von allen Seiten. Game Boys sind nicht gerade geeignet, um zu kommunizieren, da sie nur fünf Tasten haben. Ich drückte eine von ihnen, in der Hoffnung, dass sich nun das Spiel aktivieren würde. Doch der Bildschirm blinkte nur kurz und zeigte weiterhin stoisch:
session in process
enter password now
Ich erinnerte mich an Manzios Worte. Aber ich vermisste eine Tastatur. Sollte etwa...?
»Eklipse«, brummte ich mit gerunzelter Stirn. Die Aufschrift verschwand und statt dessen erschien ein neuer Schriftzug:
kernel 216xl
voice verif subroutine in process
Als dieser einige Sekunden bestanden hatte, verschwand er und wurde durch eine Meldung ersetzt, die offensichtlich kein Log, sondern direkt an mich gerichtet war:
Was hast du vor?
»W-was ich vorhabe?« stotterte ich und hielt sofort inne. Toll. Jetzt saß ich also da und redete mit einem Game Boy! Die Meldung verschwand und es dauerte nur Sekunden, bis die nächste erschien.
Wohin wirst du gehen?
Ungläubig starrte ich auf die klobigen ANSI-Buchstaben. Erst nach einer Weile murmelte ich hinter vorgehaltener Hand: »Wer ist da...?«
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
Öffne den Batterieverschluß.
Ich sah mich wieder um und überzeugte mich, dass ich nicht dabei beobachtet wurde, wie ich mit meinem Game Boy redete. Ein Otaku kurz vor seiner Einweisung in eine Heilanstalt. Mit einer möglichst gleichgültigen Miene drehte ich das Gerät um und klappte die kleine Luke auf. Zu meinem Erstaunen beinhaltete es keine Batterien, sondern zwei winzige drahtlose Kopfhörer. Vorsichtig nahm ich die kleinen Polster in die Hand und stöpselte sie mir in die Ohren. Dann drehte ich das Display wieder zu mir. Die Aufschriften waren verschwunden und wurden kurz durch eine Meldung ersetzt:
switching PPPoE > PPPoATM
Anschließend begann auf dem Display lustlos eine kleine zweidimensionale Figur herum zu hüpfen und wich irgendwelchen Pixelgeschossen aus.
»Wer ist da?«
In meinen Ohre knisterte es leicht. Dann erklang die Stimme.
»Nenne mich Korvinian.«
Die Stimme war weich und freundlich, doch zugleich auf eine seltsame Art gekünstelt und unpersönlich. Als hätte der Sprecher eine Karriere bei Kaufhaus-Werbefilmen hinter sich. Rückenschmerzen bei Reinigungsarbeiten? Mit dem neuen ErgoTrixx können Sie Ihre Wohnung in wenigen Minuten staubfrei bekommen, ohne Ihre Wirbelsäule zu belasten. Fragen Sie einen unserer Mitarbeiter, um mehr über ErgoTrixx zu erfahren.
»Was passiert hier?« entgegnete ich und setzte mit erhobener Stimme zur nächsten vermutlich ziellosen Frage an. »Wie...«
»Schschsch...«, gab der Call-Center-Typ freundlich von sich.
Ich widersprach ihm nicht, da ich bei der Vorstellung, er könnte verschwinden, eine gewisse Angst empfand. Deshalb schwieg ich angespannt und starrte stumm auf den winzigen Bildschirm, der weiterhin nur monoton das Demo abspielte.
»Hier sind die wichtigsten Fakten. Erstens. Du bist in Gefahr, doch das hast du sicherlich selbst gemerkt. Aber auch dort, wo du gerade bist, ist es für dich nicht sicher. Zweitens. Ich bin hier, um dir aus dieser Gefahr zu helfen. Drittens. Du musst genau das tun, was ich dir sage.«
»Wer seid ihr? Wer ist Lux Aeterna?«
»Dafür ist jetzt keine Zeit. Hast du die drei Punkte verstanden?«
»Was muss ich tun?« erwiderte ich selbstbewusst.
»Deine Verfolger gehören einem geheimen Konsortium an. Sie nennen sich das Kerygma. Du hast eines ihrer Hauptquartiere entdeckt. In diesem Augenblick treffen Einheiten des Kerygma am Flughafen ein, während ein anderer Trupp den Bahnhof abriegelt. Mit diesen vier Gören fällst du auf wie ein bunter Hund...«
»Habt ihr denn niemanden, der mich abholen kann?«
»Wir haben eine Person in deinem Gebiet, die sich dir zu erkennen geben wird, wenn die Zeit gekommen ist. Aber nach Hamburg musst du allein fahren.«
»Werden wir dann in Hamburg abgeholt?«
Die Leitung knackte nur leicht unhörbar. Korvinian beriet sich möglicherweise mit jemandem, oder überlegte eine passende Antwort.
»Wir werden auf dich zukommen, wenn die Zeit gekommen ist.«
Mein Gehirn fühlte sich wie Watte an. Doch ich hatte dennoch das bestimmte Gefühl, dass er mir nicht sagen würde, was ich wissen wollte, sondern lediglich, was ich wissen musste.
»Nun bist du an der Reihe«, fuhr die Stimme in meinem Ohr fort. »Es wird dir nicht gelingen, mit den vier Frauen unbemerkt in einen Zug zu kommen.«
Langsam fand ich, dass er etwas übervorsichtig war. Doch dann streifte mein Blick den Haupteingang zum Bahnhof. Sechs Männer traten schweigend ein. Sie hatten weder Gepäck dabei, noch wirkten sie wie Menschen, die gerne öffentliche Verkehrsmittel in Anspruch nahmen. Sie trugen modische schwarze Lederjacken und vereinzelt Sonnenbrillen. Ich war in einem Mahlstrom der Stereotypen gefangen.
»Ich glaube, ich sehe sie«, flüsterte ich leise.
Die Männer durchquerten die Haupthalle und waren nun unterwegs zu den Bahnsteigen.
»In deiner Nähe befindet sich eine Horde Halbstarker«, erwiderte Korvinian vollkommen zusammenhanglos.
Ich sah mich um. Es stimmte. Vertieft in meine eigenen Probleme, hatte ich sie kaum wahrgenommen. Dabei grölten sie nur zwei Tische weiter — das pomadige Klischee einer Pasinger Gang, vollgepumpt mit Testosteron, das durch ihre Pickel durchbrach, und aufgestachelt durch miserablen Sex.
Woher wusste Korvinian von ihnen? Konnte er mich etwa sehen? War er in der Nähe?
»Wie kannst du...«
»Nicht jetzt«, wies er mich schroff zurecht. »Nimm nun einen Geldschein aus dem Umschlag und verstaue den Rest.«
Ich befolgte roboterhaft seine Anweisung.
»Steh dann auf, gehe zu ihnen rüber und lege den Schein auf den Tisch. Sage ihnen, dass sie noch einen zweiten bekommen, wenn sie zum Bahnsteig 23 gehen und dort untereinander eine wirklich laute Schlägerei anfangen.«
Auf diese Weise ferngesteuert, trat ich an die Halbstarken heran und ließ den Geldschein auf den Tisch fallen.
Sie unterbrachen ihr tiefsinniges Tun und starrten einen Augenblick sprachlos die Gebrüder Grimm an. Dann fand der erste seine Stimme wieder und polterte halb lachend: »Hey, was geht‘n?«
»Ich brauche dafür eine Kleinigkeit von euch«, sagte ich. »Ich möchte, dass ihr zum Bahnsteig 23 geht und dort etwas Stress macht.«
»Ich verpeile nix«, meinte einer, während ein anderer vorsorglich den Schein einsteckte. Der Rest brach in Gelächter aus. »Checkt ihr den Null-Checker?«
»Ich will, dass ihr das nur fingiert. Eine Schlägerei. Untereinander.«
Sie blickten mich zunehmend entgeistert an.
»Und wenn wir da jetzt runtergehen und da ist voll der Schnittlauch? Oder deine Jangos. Bist du‘n 809er?«
Ich konnte nicht fassen, dass er mit diesem Gang-Scheiß um sich warf. Er konnte höchstens siebzehn sein und führte sicherlich über die Anzahl seiner Schamhaare heimlich Buch.
»Dort ist niemand... Ist´ne Wette, Mann. Aber mehr darf ich nicht sagen, weil ich sonst die Wette verliere.«
»Und wenn wir einfach nur mit deinem Tausi abhauen, was dann, Spock?«
»Dann kriegt ihr den zweiten nicht.«
Sie kicherten noch lauter und gaben weitere rhetorischen Geniestreiche von sich: »Den zweiten?!« — »Delüxig!« — »Boah, voll krass!« — »Echt heftig!«
»Und dafür sollen wir einfach nur paar Minuten rumpogen?« hakte das Alpha-Männchen unter ihnen nach.
Ich nickte.
»812, Mutterficker«, sagte der Sprecher. Er stand lachend auf und schlug sich dabei auf die Brust. Die anderen folgten ihm. »Uns ists voll wurscht, ob da die 809er warten. Wir mischen die auf.«
»Ich muss den Krach bis hierher hören«, betonte ich.
»Wenn du nachher nicht mehr da bist, wegen dem anderen Tausi...«, unterrichtete mich der Anführer. »Dann gibt´s Kress.«
»Kress?«
»Voll krassen Stress, Dummbarz.«
Sie zogen ab und benahmen sich schon auf der Treppe zur Halle wie eine Horde wilder Primaten. Ich hatte plötzlich den Eindruck, dass sie es auch umsonst gemacht hätten.
Ich blickte ihnen hinterher.
»Bandar-Log«, murmelte ich.
Sie waren nur fünf oder sechs Jahre jünger als ich, doch hier und jetzt kam es mir wie dreißig vor.
»Nimm die andere Treppe«, dirigierte mich inzwischen Korvinian. Ich warf mir die Kuriertasche quer über die Schultern und hielt den Game Boy wie ein Funkgerät in der Hand.
»Ich nehme an, die kriegen keinen zweiten Tausendmarkschein zu sehen«, sagte ich, während ich schnellen Stakkato-Schritt die Treppe herunter eilte.
Im nächsten Augenblick brach schon das Geschrei los. Die
»Pasinger Gang« hatte offensichtlich die Schlägerei bereits vor dem Infostand begonnen. Ich nahm an, dass da etwas in ihnen war, das einfach raus musste, und ich hatte nur den ersten Dominostein in Bewegung gesetzt.
»Gehe zu einem Fahrkartenschalter, schnell.«
Ich trat an ein freies Schalterfenster.
Im Augenwinkel sah ich die beiden Polizisten an mir vorbei zu der »Pasinger Gang« rennen. Die Menschen schauten sich gegenseitig an und blickten unruhig in Richtung des Lärms.
Ich zog aus dem Kuvert einen Tausender heraus und trat an den Verkaufsschalter.
»Wann fährt der nächste ICE nach Hamburg?« fragte ich und erfuhr, dass der Zug in fünfzig Minuten den Bahnhof verlassen würde.
»Ich nehme vier Fahrscheine und fünf Reservierungen«, sagte ich in das ins Glas eingelassene Mikrophon, das mich mit dem Mitarbeiter auf der anderen Seite der Glasscheibe verband. Die Zeit floss plötzlich wie Honig um mich, und die Hände des Fahrscheinverkäufers auf seiner Tastatur erschienen mir müde und schlapp. Misstrauisch blickte ich nach links und rechts, Ausschau haltend nach verdächtigen Gesichtern. Ich hatte das unbehagliche Gefühl, dass mich jeden Augenblick jemand von hinten packen könnte.
Aus der Richtung der »Gang« erklang plötzlich das Klirren von splitterndem Glas. Das Geräusch vibrierte wie ein Donner in der ungemütlichen Akustik der Bahnhofshalle.
Herrje, dachte ich. Die müssen natürlich vollkommen übertreiben.
»Jetzt nichts wie raus«, meldete sich der Mann in meinem Ohr wieder zu Wort. »Ist eines der Taxis draußen ein Minibus?«
»Ja«, antwortete ich und steuerte hinaus.
»Ich muss noch vier Leute abholen«, sagte ich dem Taxifahrer, während ich einstieg.
»I woaß scho, nach Pasing«, stimmte er mir zu. »Da Kolleg’ war scho do und hot eana Eikauf dogloaßen.«
Ich blickte mit offenem Mund nach hinten und sah zwei modische Papiertüten im King-Size-Format auf einem der Rücksitze des Taxibusses. Mit dem Zeigefinger zog ich eine näher an mich heran und blickte hinein. Sie war gefüllt mit Frauenkleidung und Schuhen.
Während der Taxifahrer seine Runde drehte, versuchte ich eins und eins zusammenzurechnen. Jemand war hier, auf dem Bahnhof. Während ich das Schließfach geleert und oben bei Burger King gesessen hatte, schien diese Person im Hertie gewesen zu sein, um dort für meine seltsamen Reisebegleiterinnen Sachen einzukaufen und anschließend das Taxi bereitzustellen.
Zu meiner Erleichterung saßen die vier jungen Damen noch im Minibus. Sie waren inzwischen etwas aufgetaut und plauderten in ihrer Muttersprache. Der Taxifahrer war parallel in der Zweitspur stehengeblieben, und ich schob die Seitentür des Busses auf. Wie immer brauchten sie nicht viele Erklärungen, sondern sprangen eilig von einem Auto ins andere.
Der Fahrer beäugte die schmutzigen Küken mit hochgezogenen Augenbrauen und machte sich vermutlich um seine Sitzbezüge Sorgen. Ich zeigte auf die Tüten, was die Mädchen mit ausgelassener Euphorie begrüßten. Wir bogen bereits in die Bayerstraße ein und eilten dann in Richtung Westen.
Ich deutete auf den symbolischen Plüschfußball in rot-blau-weiß, der am Rückspiegel baumelte.
»Sind Sie ein FC Bayern-Fan?« fragte ich vollkommen unsinnig, um seine Aufmerksamkeit von den Thailänderinnen auf uns abzulenken. Die Mädchen hatten ungezwungen begonnen, ihre schmutzigen Oberteile abzuwerfen. Bevor ich meine Gedanken ordnen konnte, angesichts ihrer nackten Körper, verrenkten sie sich bereits auf den Autositzen, um in die Hosen und Jacken hineinzukommen. Lachend und zirpend tauschten sie noch einige Kleidungsstücke untereinander aus und schlüpften in die Schuhe.
»Jo freili«, gab er zufriedenstellend zurück, schielte jedoch immer faszinierter in den Rückspiegel.
»Wann spielen die denn wieder?« fragte ich mechanisch.
Der Taxifahrer blickte mich entgeistert an und sah dann in seinen Rückspiegel. Er lachte etwas unsicher, vollkommen ahnungslos darüber, was hier vor sich ging.
»Ah, ah... Am Somsdog.«
»Die sind aus einem Heim ausgerückt«, erklärte ich ihm wie beiläufig, als wäre es die unwichtigste Sache der Welt. »Jetzt bringe ich sie zurück.«
»Di Oarmen«, sagte er nickend und brummte leise, während er in den Pasinger Bahnhofsplatz einbog: »In dem Hoam mog i a arboaten.«
Möchte ich wetten, du Drecksack, dachte ich nur und blickte nach hinten. Ich stellte fest, dass plötzlich vier ganz andere Menschen auf dem Rücksitz saßen. Auf einmal wirkten sie viel mehr wie eine japanische Girlie-Band, die durch deutsche Punk-Lokale tourt.
»Abgefahren«, murmelte ich vor mich hin.
Vor dem Bahnhof wies mich Korvinian an, die Punkband in den Burger King zu lotsen. Sie verschwanden dort eilig auf dem WC, wohl um endlich etwas Wasser auf ihren Gesichtern zu spüren. Ich sah ungeduldig auf die Uhr und stellte mich in die Warteschlange vor den Kassen. Der Zug, in den wir am Hauptbahnhof einsteigen wollten, würde hier erst in fünfundzwanzig Minuten anhalten. Als ich an die Reihe kam, stieß die Girlie-Band wieder zu mir. Ich wollte für sie etwas bestellen, doch die vier drängten sich an mir vorbei und orderten routiniert alle möglichen Burger und Shakes. Die Namen von Fastfood-Produkten waren die ultimative Lingua Franca auf diesem Planeten.
Ich selbst bestellte gar nichts. Ich empfand in diesen Stunden tausend Sachen, doch Hunger war nicht darunter.
Während der ganzen Zeit schwieg Korvinian. In meinen Ohren knackte es manchmal nur leise.
Erst als wir auf den abgewetzten Ledersitzen Platz nahmen, begriff ich, dass die Thailänderinnen nun auch geschminkt waren und unter diesem Schleier aus Sorge und Schmutz die ganze Zeit vier attraktive, geradezu adrette junge Damen gesteckt hatten. Plötzlich sahen sie nicht mehr wie Mädchen aus, sondern wie Frauen. Sie waren beinahe um zehn Jahre gealtert. Das war gut... Ich meine, es war gut, weil es dadurch weniger seltsam aussah. Wenn man schon einen Zug mit vier asiatischen Gören besteigt, ist es besser, wenn sie wie vierundzwanzig aussehen, anstatt wie vierzehn.
Ich musterte sie, während sie leidenschaftlich in die lappigen Burger hineinbissen, befriedigt an den breiten Strohhalmen ihrer Colas zogen und hypnotisiert auf die Fernsehbildschirme mit Musikclips starrten.
»Ihr seid wie ein wandelnder Werbefilm«, witzelte ich, ohne dass sie mich verstanden.
»Du musst handeln«, unterbrach plötzlich Korvinians Stimme meine Gedanken. »Lass die Frauen allein und gehe in den Bahnhof hinein.«
Ich stand langsam auf und versuchte natürlich zu wirken, um die kleine Viererbande nicht zu beunruhigen.
Während ich seine Anweisung befolgte und in die kleine Bahnhofshalle trat, sah ich bereits draußen, auf den Vorplatz mehrere Autos hektisch einfahren. Die Türen wurden aufgerissen und Gestalten sprangen auf. Sie alle eilten in meine Richtung.
»Lauf!« sagte Korvinian.
Es gab hier nicht viele Wege zur Auswahl. So rannte ich in den langen Korridor und passierte die Treppenaufgänge zu den Bahnsteigen.
Ich verstand, was Korvinian tat. Er sah eine gute Chance, dass die umgekleideten Thailänderinnen den Verfolgern gar nicht erst auffallen würden, da sie dort wie Touristen aus dem Fernen Osten aussahen. Und ich sollte die gesamte Aufmerksamkeit auf mich lenken. Danke für dieses Vertrauen!
»Nimm die letzte Treppe«, wies mich Korvinian an.
Oben kam ich auf einen leeren Bahnsteig, auf dem ein abgestellter Zug stand. Die Anzeigetafel war abgeschaltet.
»Steig ein!«
Ich griff nach dem roten Hebel. Der Waggon war offen und ich gab mir nicht die Mühe zu verstehen, wie Korvinian das wissen konnte, sondern kletterte hinein und schlug die Tür hinter mir wieder zu.
Der Zug war kalt. Im Waggon roch es nach altem Leder und Gummi. Es fühlte sich unwirklich an, nun plötzlich in vollkommener Stille zu stehen. Ich ging schwer atmend an den Sitzen vorbei und blickte leicht gebückt aus dem Fenster.
»Sie kommen«, informierte mich Korvinian freundlich.
Ich duckte mich und kauerte auf dem Boden, zwischen zwei Sitzen — fast wie damals, als ich die Geräusche in der Kanalisation gehört hatte.
Draußen auf dem Bahnsteig liefen die Söldner des Kerygma auf und ab und bellten sich gegenseitig irgendwelche unverständlichen Hinweise zu. Sie trugen schwarze Sakkos und Lederjacken und benahmen sich, als ob der Bahnhof ihnen gehörte. Wo ist denn die Bahnwache, wenn man sie braucht? Ich hoffte, den vier Frauen ging es gut. Vermutlich kriegten sie von all dem gar nichts mit und schlürften noch immer gemütlich Cola durch die dicken Strohhalme, während über ihnen von den Wandfernsehern MTV oder VIVA lärmte. Ich war sicher, sie konnten das stundenlang tun, ohne sich auch nur einmal zu fragen, wo ich blieb.
Das Geräusch war unmissverständlich. Eine der Türen wurde aufgerissen. Vermutlich nur einen Waggon weiter. Meine Hand krallte sich unbewusst in die weinrote Lehne des Sitzes.
»Deine Tasche«, erklang es in meinen Ohren.
»Was ist damit?« gab ich gereizt mit unterdrückter Stimme zurück.
»Hast du nicht die Bücher geprüft?«
»Nein...«
»Prüfe sie alle. Jetzt!«
Bizarrer Typ, dachte ich, während ich hektisch die Kuriertasche durchwühlte. Nebenan und nur zwei Schiebetüren entfernt, durchsuchten die Jäger die Sitzreihen. Ich fühlte sofort, dass das Buch, das ich nun einzeln in meiner Hand hielt, viel zu schwer für fünfhundert Seiten Papier war. Ich schlug es auf. Die Seiten waren ausgeschnitten und innen lag eine silberne Pistole. Ich nahm sie heraus.
Im selben Augenblick hörte ich, wie jemand die erste Zwischentür betätigte. Sie hatten offensichtlich den Strom im Zug aktiviert und gingen von Waggon zu Waggon. Die Schiebetür gab ein charakteristisches Zischen von sich, während die Metallplattform in dem Gummiwulstübergang unter den Füßen des Jägers ächzte.
»Wenn er durch die Tür kommt, nimm ihn...«
»Nehmen?« flüsterte ich ahnungslos und starrte auf den Game Boy, der nun auf dem Sitz lag. Auf dem Display hüpften noch immer kleine Pixelfigürchen.
»Du musst schießen«, bestätigte Korvinian meine schlimmsten Befürchtungen.
Ich nahm die Pistole in beide Hände und versuchte das Zittern weniger offensichtlich zu machen.
Das zweite Zischen erklang und ich hörte, wie nun die Tür auf meiner Seite beiseitegeschoben wurde.
»Safety catch«, sagte plötzlich Korvinian in meinem Ohr. »Die Sicherung.«
Was er da erzählte, ergab für mich in diesem Augenblick keinen Sinn. Ich war nicht mehr befähigt, ihm zu folgen. Hektisch riss ich mich hoch und zielte auf den Mann.
Er griff unter seine Jacke, doch dann erstarrte er, in den Lauf meiner Pistole blickend. Er wagte nicht seine eigene Waffe zu ziehen. Seine Hand löste sich und kam langsam wieder zum Vorschein.
»Tu´s nicht«, sagte er. Ein untersetzter Typ mit leichter Glatze und einem Rollkragenpullover. Die teuere Golduhr auf seinem Handgelenk konnte ich trotz meiner Benommenheit nicht übersehen. »Wir sind nicht hier, um dir zu schaden. Es gibt aber Dinge, die du nicht verstehst. Und es ist besser...«
»Schieß«, forderte mich der Mann in meinem Kopf auf. »Schieß!«
Ich hätte es nicht gekonnt. Die Pistole war ohnehin nicht entsichert, und ich war bereit, ihn tagelang im Schach zu halten, nur damit ich nicht abdrücken musste.
»Er ist nicht allein, schieß«, beharrte Korvinian.
Erneut erklang das zweifache Zischen der Verbindungstür.
»Er ist hier«, sagte mein Gangster emotionslos zu seinem Kollegen ohne den Blick von mir abzuwenden. »Mit´ner Wumme...«
Dann geschah etwas seltsames.
Der Scherge hinter ihm, von dem ich in diesem Augenblick kaum mehr als einen hochgeschlagenen Kragen seines grauen Mantels und eine flache Mütze sah, hielt dem Mann mit der goldenen Uhr etwas an den Hals, das wie ein Stift aussah. Eine dünne Klinge fuhr blitzartig heraus. Sie war vermutlich lang genug, um seinen Mundraum zu durchstoßen, bis hinein in das Gehirn. Mit einem leichten Klicken und Zischen verschwand die Klinge wieder in ihrem Griff. Mein Gegenüber brach geräuschlos zusammen.
Der neue Spieler sah mich ausdruckslos an. Er mochte um die vierzig sein und hatte ein schmales, eher unscheinbares Gesicht, mit einem Dreitagebart. Er trug einen Anzug, darüber einen langen Mantel und eine quer über die Brust gehängte Tasche. So sah ein Banker aus, der es eilig hatte. Die Schiebermütze wirkte leicht exzentrisch, doch sie ließ ihn harmlos erscheinen.
Ich wusste, er war nicht harmlos.
Er trat über die Leiche hinweg und kam auf mich zu. Wortlos griff er nach der Pistole, mit der ich immer noch auf ihn zielte und nahm sie mir ab.
»Safety catch«, sagt er ausdruckslos und klappte einen kleinen Hebel auf der Seite um. »Die Sicherung.«
Er reichte sie mir wieder und sah aus den Fenstern.
»Bist du Korvinian?« brachte ich endlich heraus.
»Ich bin Tristan«, antwortete er knapp und half mir, meine Sachen in die Kuriertasche zu packen.
»Befolge seine Anweisungen«, erklang Korvinians Stimme in meinem Kopf.
Ich folgte Tristan in den nächsten Waggon. Er griff unter seinen Mantel und zog eine Pistole mit einem langen Schalldämpfer heraus. Ich fand, es stand ihm zu, hier den Längsten zu haben. Ich ließ zaghaft die Vorstellung an mich heran, dass ich aus dieser Sache lebend rauskommen würde.
Hinter uns zischte warnend die Tür. Tristan drehte sich um und feuerte dreimal. Es klang als würde jemand laut ein Buch zuklappen und gleichzeitig kurz an einem Schlüsselbund rütteln. Der Unbekannte am Ende des Waggons hechelte und stürzte rückwärts in den Zwischenraum zurück.
Tristan öffnete resolut die letzte Tür und zeigte in die Ferne.
»Da kommt euer Zug.«
Es war nur ein weißer Punkt über einem Geflecht aus Gleisen.
Als ich mich umsah, schwang sich Tristan gerade über die Metallplattform und sprang auf den Bahnsteig. Ich hörte ihn wieder schießen und wagte es nicht, ihm zu folgen. Die gedämpften Schüsse gingen im Geräusch der blechernen Zugansage unter.
»Komm raus«, befahl Tristan.
Wir eilten vorbei an drei Männern, die auf dem Boden lagen.
»Hier wird es in Minuten von der Polizei nur so wimmeln«, erklärte er, während er seine Pistole einsteckte. Ich verbarg meine in der Hängetasche. Wir rannten durch den Verbindungstunnel zur Haupthalle zurück, vorbei an Passanten, die uns angewidert entgegenblickten.
»Was ist eigentlich an der Polizei so schlecht?« keuchte ich.
»Witzbold«, erwiderte Tristan. Er hob kurz die Hand an und überkreuzte seinen Zeige- und Mittelfinger. »Die Polizei und Kerygma sind so.«
Als mich die vier jungen Frauen sahen, hellte sich ihr Gesicht auf. Doch nur eine Sekunde später verstanden sie, was ich von ihnen verlangte. Ich hätte gerne ihre Selbstbeherrschung. Wortlos hängten sie sich an unsere Fersen. Tristan sah sich trotz der Eile um und ich begriff, dass er jeder Zeit bereit war, hier inmitten all der Leute eine Schießerei zu eröffnen.
»Gleis 9«, erklärte er wortkarg und schubste mich die Treppe hoch.
Der ICE hielt gerade an, begleitet von weiteren unverständlichen Durchsagen. Niemand stieg hier in Pasing aus, und so glitten wir bereits durch die sich öffnende Tür hinein.
Ich drehte mich um und sah zum Bahnsteig zurück.
»Und du?« rief ich.
Tristan zog sich seine seltsame Mütze in die Stirn und sah mich nur für einen sehr kurzen Augenblick an. Dann fixierte er die Treppe, die hinunter in den Verbindungstunnel führte.
»Meine Arbeit ist getan«, sagte er, ohne mich anzusehen. »Jetzt muss ich sicherstellen, dass eure Verfolger glauben, ihr sitzt in einem Zug nach Paris.«
Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte und wie er das anstellen wollte.
Der Aufenthalt des ICE war nur kurz. Die Tür schloss sich vor meiner Nase und nur wenig später setzte sich der Bahnsteig vor dem Fenster in Bewegung. Ich sah den rätselhaften Tristan noch einige Sekunden lang, bevor er aus meinem Sichtfeld verschwand. Er hatte nicht mehr zu mir gesehen. Zuletzt hatte ich den Eindruck, als rutschte seine Hand wieder unter den Mantel, wo sich seine Waffe befand.