2.04 Philologie


Wir wurden gute Freunde. Oder etwas in der Art. Sie besuchte mich regelmäßig und wir tranken Tee, Kaffee oder Gin Tonic und quatschten. Wir sprachen meistens über Sex oder über Comics oder über die Menschen auf der Straße. Und wir sprachen viel über SM. Auf diesem Gebiet war sie erstaunlich belesen und mitteilsam.

Ein berauschender Wesenszug an Evelyn war ihre Fähigkeit immer das zu benennen, worauf sie Lust hatte. Sie drückte am Ende des Satzes die Zigarette aus und sagte: »Magst du mich mal spanken?« Oder an einem anderen Tag: »Macht´s dir was aus, wenn ich mich nackt ausziehe? Aber erzähl weiter...« — »Magst du mich mal draußen auf dem Balkon verhauen? Ich möchte dabei die nächtliche Stadt sehen.«

Als wir mal eines Nachts von einer langweiligen Party geflohen waren und beim Kerzenlicht auf meinem Sofa saßen, jeweils mit einem Stoli On The Rocks in der Hand, fragte ich sie, ob es ihr denn nichts ausmachte, dass ich eigentlich ein Anfänger war. Ein Greenhorn. Ein Niemand ohne Erfahrung.

Sie hatte inzwischen ihre Docs ausgezogen und die Füße in typischer, schamloser Manier auf den Konferenztisch gelegt. Sie lachte nur und meinte, ich sei ja inzwischen kein so großer Anfänger mehr und das in der SM-Szene, die nicht weniger verlogen sei als jede andere Szene, kein Dom zugibt, etwas zum ersten Mal zu machen, da keine Sub mit jemanden an einer Sitzung teilnehmen möchte, der eigentlich kein echter Dom ist. Wenn man es noch nie gemacht hat, ist man auch nicht echt. Denn das Gefühl, von jemandem mit Erfahrung beherrscht zu werden, ist ein Teil des Kicks. Sich einem Anfänger auszuliefern, sei für viele eher abturnend. Es ist eben wie im echten Leben. Geld gibt man nur demjenigen, der glaubwürdig ist. Und für glaubwürdig hält man nur denjenigen, der bereits Geld hat. Und Glaubwürdigkeit ist die Essenz von SM.

Ich wog nachdenklich meinen betrunkenen Kopf.

»Das ist doch ziemlich verdreht, oder?« meinte ich. »Wenn ich also keine Erfahrungen habe und dennoch unter die Leute gehe und so tue, als hätte ich Erfahrungen, bin ich ein Fake, oder? Wenn ich damit aber ehrlich umgehe und meinem Gegenüber sage, dass ich noch nicht Bescheid weiß, dann bin ich uninteressant, weil ich keine Dominanz ausstrahle. Also erwartet man von mir, dass ich mich wie ein Fake benehme. Nur muss ich das so gut machen, dass ich als Anfänger nicht durchschaut werde, bis irgendwann der Punkt kommt, an dem ich kein Fake mehr bin.«

Evelyn nickte nachdenklich. »Die Menschen wollen belogen werden und schreien gleichzeitig nach Ehrlichkeit. Aber ein Anfänger ist nicht unbedingt ein Fake. Ein Fake ist jemand, der das nicht im Herzen fühlt, sondern einfach nur irgendeine Pornophantasie ausleben möchte. Ob er dabei eine Gerte in der Hand hält, oder den eigenen Schwanz, ist ihm egal. Außerdem ist das alles nur Szene. Szene. Szene. Szene.« Sie dirigierte mit dem Finger in der Luft. »Immer nur Szene... Ich hasse Szenen...«

Sie schloss ihre Augen und wirkte müde.

»Ich finde es besser zu tanzen...«, sprach sie leise. Die Hand mit dem leeren Glas rutschte langsam leblos von ihrem Oberschenkel herab. »Für den Tanz habe ich mich entschieden«, hatte sie mir einmal erzählt. »Die Schmerzen haben sich für mich entschieden.«

»Leg bitte deine Hand auf meine Möse«, flüsterte sie. »Fester...«

Sie seufzte und verdrehte dem Kopf nach hinten. Dann sah sie zur Seite, zu mir und sagte leise: »Ich fühle das Leben am meisten...« Sie stöhnte wieder und sammelte ihre Worte. »...wenn ich das Gefühl habe, ich könnte einfach sterben und es wäre OK.«

»So wie jetzt?« fragte ich sie.

»Vollkommen...«, flüsterte sie.

Sie verlieh ihrer Passion eine geistige Dimension, die ich bei den anderen nie feststellte. Auf den Fetisch-Parties wirkten viele (mich eingeschlossen) wie Halbwüchsige, die für sich Disneyland entdeckt hatten, ohne das Interesse, aus SM eine zu tiefe Reise nach innen zu machen. Sie wollten Spaß haben — auf ihre eigene Art. Für sie war SM eine Kunstform. Eine intime Möglichkeit, als ein dreidimensionales Kunstobjekt zu existieren. Was sie taten, war im Grunde das Reenactment einer Epoche, die es niemals gegeben hatte.

Evelyn hingegen baute mit ihrer Sinnlichkeit ein dunkles Kloster in den Bergen.

Sie brachte mir fast jede Woche etwas Neues zum Lesen mit. Publikationen über den mittelalterlichen Flagellantismus, oder die Schriften von Elise Sutton. Mal den autobiographischen Roman Le lien von Vanessa Duriès, die mit 21 Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam. Oder den Klassiker Die Geschichte der O. von Pauline Réage. Innerhalb von Wochen verschlang ich jene Texte, die Alice Kerr-Sutherland zugeschrieben werden und das berüchtigte Essay »Violence In The Garden« von Polly Peachum. Verglichen mit den etwas trockenen Büchern in meiner Wohnung, war das eine sehr erfrischende Lektüre, die ich immer prickelnder fand.

Mein Herz lachte, als sie eines Tages auch einen Stapel Comics mitbrachte. Wir taten unsere Köpfe zusammen und lasen kichernd The Convent of Hell von Noe Barreiro und die wunderbaren und unübertrefflichen Leiden der jungen Janice von Erich von Gotha.

Etwas an ihr erinnerte mich an Manzio. Die beiden hätten ein gutes Ehepaar abgegeben, und das Vermischen ihrer Bibliotheken hätte die RAF wie ein protestantisches Kaffeekränzchen erscheinen lassen.

Auch Evelyn trat in mein Leben, mit der nicht abgesprochenen Aufgabe, mich auf Bücher und Gedanken jenseits des ausgetretenen Pfads aufmerksam zu machen. Sie tat es ohne eine Spur von Eitelkeit. Sie war nie überrascht, wenn ich über ein Buch sagte, ich würde es nicht kennen. Es kam nie ein hochnäsiges »Wie? Das kennst du nicht?«. Ich fand einen Weg hinter Evelyns raue Schale, vorbei an ihrem melancholischen Gemüt, und fand in ihr eine interessante Freundin. Eine etwas seltsame Freundin, aber das machte sie in meinem Fall perfekt.

Evelyn war das extravagante, auf den zweiten Blick schöne Mädchen, das optimal zu meiner nicht minder verschrobenen Persönlichkeit passte. Gemeinsam, als Paar, hätten wir vermutlich Hand in Hand den Sprung von der Brücke gewagt. So war es vielleicht besser, dass unser Umgang nur freundschaftlich war und wir weiteren Komplikationen aus dem Weg gingen. Ich fragte sie nie über ihr Privatleben aus oder ihre Vergangenheit. Sie mochte neben mir noch andere Männer haben, ich würde es nie erfahren. Außer noch jemand würde sie verhauen. Dann hätten sich seine und meine Straßen auf der blassen Leinwand ihres faszinierenden Hinterns gekreuzt. Auf diesem Podium gab es keine Lügen und vorgetäuschte Orgasmen.

Die magellanische Gier nach Pein und Erniedrigung war ihre große Reise über den Ozean der Selbstfindung, fort von den Gestaden des Kleinbürgertums. Einige hätten sie vermutlich als einen Schandfleck der Emanzipation, als eine Krebszelle des Feminismus eingestuft. Kleinbürger und Feministinnen hätten sie mit derselben Freude in einem Käfig durch die Stadt gezerrt, um sie anschließend zu verbrennen. Doch die meisten hätten sie wohl gerne in psychiatrischer Obhut gesehen. Ich sah sie hingegen mehr und mehr auf einem Sockel, in meinem Pantheon. Sie war mein Stargirl.

Ob Evelyn in Wirklichkeit tief im dunklen Verlies ihrer Psyche um Hilfe rief, konnte ich nicht sagen. Und es zu thematisieren schien die Gefahr zu bergen, den Zauber zu brechen. In dem jahrhundertealten Kampf der Frauen um Selbstbestimmung, war sie an der extremsten denkbaren Position angelangt. Sie war entweder hoffnungslos neurotisch oder die emanzipierteste Frau im Sonnensystem.

Ich mochte mir insgeheim diese Frage stellen: Machte ich irgendwelche »Dinge« noch schlimmer, in dem ich ihren Wünschen entsprach? Oder war es im Gegenteil eine therapeutische Wirkung, die von unseren Sitzungen ausging? Fühlte sie sich hinterher besser oder schlechter? Doch all diese Fragen schienen sich in Wirklichkeit um mein eigenes Seelenheil zu drehen, wenn sie auch so formuliert wären, als ginge es um Evelyn. Und so ersparte ich ihr das fürsorgliche — und in Wirklichkeit egoistische — Psychogelaber und vertraute ihr. Ließ sie das Maß definieren.

Ihre Experimentierfreude ging manchmal so weit, dass sie mich mitten am Tag anrief und mir vorschlug, es mal richtig puritanisch auszuprobieren. Sie kam eine halbe Stunde später vorbei, sagte kein Wort, zog ihren Rock hoch und ihren Slip bis zu den Knien herunter und beugte sich über die Rückenlehne eines Stuhls. Nachdem ihr Hintern versohlt war, wischte sie sich eine kleine Träne weg, zog das Höschen wieder hoch und verschwand wortlos.

Die Tränen, die manchmal kamen und gingen, waren echt und schienen ihr auch wichtig zu sein. Doch sie überstiegen mein Begriffsvermögen. Ich war nur die spankende Maschine, die Evelyn brauchte. Und ich fand das alles faszinierend. Die Frage, ob ich nun ein Fake war oder nicht, stellte ich mir immer weniger. Sie blieb aber dezent im Hintergrund. Denn schließlich hatte ich vor meiner Begegnung mit Evelyn niemals über SM nachgedacht. Wäre ich echt, hätte ich sicherlich schon vor Jahren entsprechende Anlagen in mir entdecken müssen. Dann hätte ich bereits als Kind fasziniert den Sadomasochismus bei Karl May und in den DC-Comics erkennen müssen. Und gerade beim letzteren wurde mir erst jetzt bewusst, wie ausgeprägt die Erotik des Zwangs in ihrer unterschwelligen Weise dort in Wirklichkeit war. Ich hatte es aber nie gesehen.

In den Spiegeln
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