Fragment: Der verhinderte Reisende
Reisen... In einen Zug steigen und bis zum Meer fahren. Dann jedes beliebige Schiff nehmen und davon driften. Nach Manila oder Sansibar. Den Zugvögeln folgen und in die Welt der Gerüche fliehen. Ich wollte immer reisen. Warum tat ich es nie? Die Gründe dafür pendelten irgendwo zwischen Armut und Ausreden. Wohl mehr letzteres. Das Geld für eine Reise zu verdienen ist sogar in München nicht so schwer. Auch wenn es sich um ein halbes Jahr in Indien oder ein paar Monate in Venezuela handeln mag — es ist im Grunde für jeden machbar. Doch dann gilt es, die Wohnung aufzugeben, denn wer kann in München sechs Monate »aussteigen« und sich dabei gemütlich eine Wohnung halten? Und warum habe ich meine Wohnung nicht aufgegeben? Weil sie bis zum Rand gefüllt ist mit Comic-Heften. Tausenden davon. Die Regale und ich waren offensichtlich unzertrennlich. Und ich, der Einzelgänger aus Überzeugung, hatte niemanden, dem ich sie für gewisse Zeit andrehen konnte.
Wo hier wohl die Ausreden anfangen?
Wenn ich mich an mein früheres Dasein erinnere, kommen mir diese Überlegungen wieder in den Sinn. Meine jugendlichen Sehnsüchte. Meine Schwächen. Meine Lügen. Und ich erkenne, wie sehr die Gedanken eines Menschen stets geprüft werden müssen, auf ihren Zweck hin, anderen Dingen zu dienen, als sie eigentlich vorgeben. Wir geben vor, Großes leisten zu wollen. Wir erzählen so oft unseren Freunden, wie sehr wir berufen sind, die Pfade der Veränderung zu beschreiten. Doch unser ganzes Leben lang suchen wir nach Gründen, es nicht tun zu müssen. Als ich noch ein Kind war und wieder einmal brav die Sieben Weltwunder aufgesagt hatte, meinte mein Onkel zu mir: »Ich wollte immer weit hinaus. Aber da war meine Familie, die Kinder...« Ich verstand damals nicht, was er meinte. Sein Satz passierte mein Ohr, ohne mich zu berühren. Als eine weitere geheimnisvolle Formulierung, die Erwachsene wie Signale durch den Raum senden. Hätte ich es schon damals verstanden, hätte ich aufspringen müssen und rennen, rennen, bis zum Horizont und darüber hinaus. Immer weiter und ohne jemals stehen zu bleiben.
Wir müssen auf Stimmen hören, die aus dem Wind kommen. Und nicht ein Leben lang an Begründungen drechseln, weshalb wir an unserer Erfolglosigkeit keine Schuld tragen. Freiheit ist die vollständige Abwesenheit von Sicherheit. Jeder Kompromiss zwischen Freiheit und Sicherheit läuft auf Lügen alter Männer in Anzügen hinaus, die aus Hinterzimmern die Welt beherrschen möchten.