Fragment: Der Hyper-Albtraum #36

Anmerkung des Herausgebers: insgesamt vier der »Hyperalbträume« fanden Einzug in die fertige Buchreihe. Jan-Marek Kámen hatte jedoch in seiner Zeit in Hamburg insgesamt 47 solcher Albträume aufgezeichnet. Hier ein Beispiel.


Durch den Schacht fällt grelles Licht in den ansonsten dunklen Gang. Der Tunnel hat eine runde Decke und ist mit Pflastersteinen ausgelegt. Es riecht hier nach Abfällen.

„Sehen Sie die Tür?“ frage ich meinen Begleiter. Der Polizist hebt die Laterne höher und runzelte die Stirn.

„Ich werde verrückt. Die war gestern nicht da.“

Konzentriert sehe ich mir die Tür genauer an.

„Er hatte keine Zeit, sie wieder zu verstecken“, flüstere ich und befühle das benachbarte Mauerwerk. Ich reiße ein Stück harter, rauer Tapete ab, erstellt aus einem elastischen Material - vielleicht Leder oder Baumrinde.

„Unglaublich!“ ruft der Gendarm aus. „Es sieht wie ein Stück Mauer aus.“

Ich drehe vorsichtig an dem rostigen Türknopf, doch die Tür ist verschlossen.

„Wir müssen sie öffnen!“

„Er könnte dahinter sein...“

Ich ziehe den Revolver aus meiner Manteltasche und ziele auf das Schloss. Ich feuere drei mal ab. Die Tür gibt nach und öffnet sich einen Spalt. Wir atmen modrige, feuchte Luft ein.

„Ich glaube nicht, dass er da ist“, erkläre ich dem besorgten Gendarm.

„Ich werde meine Wette noch gewinnen“, sagt er mit nervöser Stimme.

„Wette?“

„Es gibt viele Wetten auf Sie“, erklärt er, als wollte er Zeit schinden, bevor wir in die Dunkelheit hinter dem Türbogen treten. „Eine Wette besagt, dass Sie Stagnatti fangen, bevor das 20. Jahrhundert anbricht...“

Ich verziehe humorlos meinen Mundwinkel.

„Dann habe ich ja nicht mehr viel Zeit.“

Wir betreten den dunklen Raum, während der Polizist sich wortlos um seine Achse dreht, bemüht den Raum zu beleuchten. Er hebt den Arm. Doch dann höre ich ihn nur aufstöhnen und im nächsten Augenblick schepperte die Lampe zu seinen Füßen. Das Öl flackert noch einige Sekunden und erlischt dann.

„Was ist passiert?“rufe ich mit gedämpfte Stimme und krame nach meinen Streichhölzern.

„Machen Sie kein Licht“, höre ich ihn flüstern.

„Ich muss aber sehen“, widerspreche ich ihm.

Ich zünde gleich drei Streichhölzer auf einmal.

Ich verstehe seinen Schock. Der Anblick ist erschreckend, doch meine Augen scheinen bereits abgestumpft zu sein, gegen das Licht, das am Horror abprallt. In dem viereckigen Raum hängt an jeder Wand ein mächtiges Kreuz, dessen unteres Ende sich mindestens einen Meter über dem Boden befindet. Und an jedem Kreuz befindet sich ein Mensch. Sie sind regungslos, sicherlich tot. Doch nicht sehr lange.

Ich knie mich hin und repariere eilig die Lampe. Ich zünde sie mit einem frischen Streichholz an. Ihr unruhiges, blasses Licht erfasst uns schließlich.

Auf einem der Tische liegt eine Zeichnung.

Wie knapp ich ihn wohl wieder verpasst habe, denke ich. Doch vielleicht ist es auch eine Botschaft an mich.

Ich nehme das Papier und studiere es näher unter der Laterne. Es ist mit gekonnten, vielleicht sogar talentierten Tuschestrichen gezeichnet und stellt offensichtlich eine Stadt dar, gesehen aus einer recht hohen Perspektive. In der Mitte des dichten Dächermeers ragt ein massiver Turm zum Himmel.

Die Unterschrift spart nicht mit Geschmacklosem:


„Für Locartes,

meinen Bruder im Geiste,

in Liebe,

Stagnatti.“


Plötzlich erklingen Stimmen. Ich blicke von der Zeichnung und hebe die Lampe über meinen Kopf. Sind es die Stimmen der Toten? Ich kann es nicht erkennen. Das Flüstern ist wie ein leiser, vierstimmiger Gesang. Ich versuche auf die Worte zu achten, die sich zu einem Kanon vermischen. Wie ein Mantra wiederholen die Stimmen immer die selben Worte:


„Goa, Kaschgar, Samarkand.

Aden, Sanaa, Dongola.

Cayenne, Manaos, Santarem.

Macao, Batavia, Manila.“


Jemand schüttelt mich am Arm.

„Wach ma’ auf, Alter“, höre ich hinter mir.

In den Spiegeln
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