Fragment: Der freie Wille
Bin ich frei, oder werde ich gelenkt von unerkannten Agitatoren, mit einem Zweck, der sich mir nicht offenbart und einem Ziel, das ich nicht kenne? Gibt es den großen Demiurg, der Billard spielt, während ich nur eine von vielen rollenden Kugeln bin?
Meine Geschichte ist eine Reise gen Freiheit. Doch um Freiheit zu erlangen, muss ich die Fesseln durchschauen. Ich muss in die Wunden starren und erkennen, dass das Gesehene ich bin und niemand sonst.
Die Schamanen sind tot. Wir haben sie gegen gierige Priester eingetauscht, sie vertrieben und ihre Hütten dem Boden gleichgemacht, um statt dessen Kaufhäuser zu bauen. Sie waren die letzten, die bereit waren, unseren Schmerz auf sich zu nehmen und ihn damit zu lindern.
Alle anderen, die sich dafür anbieten, sind Lügner und Schacherer, mit dem einzigen Ziel, uns ihre nutzlosen Produkte anzudrehen.
Ich habe keine Antworten, die wie Kochrezepte anmuten. Keine Erfolgstherapien. Du willst Esoterik, schreib an [email protected]. Er wird genauso wenig antworten, wie Gott.
Es gibt Elektronen und Photonen, die mehr Willensfreiheit haben, als die meisten Menschen. Sie haben davon zwar nicht viel, doch das Quentchen Freiheit, das ein subatomares Teilchen besitzt, ist dafür unverfälscht und unmittelbar. Wie oft sehnt sich der Homo oeconomicus cretinus nach nur einem Augenblick von dieser Reinheit. Die immensen Möglichkeiten, die uns umgeben, sind wie ein mehrfaches Echo unserer Sehnsüchte, die uns auf Schritt und Tritt begleiten. Wir sind umwoben von allem, was hätte sein können, was hätte sein sollen, was wäre wenn...
Bar aller Beschönigung: wir tun, was man uns sagt. Wir essen dort, wo es am grellsten ist und hören das, was man uns vorschreibt. Wir besitzen nicht einmal die Würde eines schwarzen oder weißen Steinchens auf einem Go-Spielbrett oder die Grazie eine Schachfigur. Wir sind wie abgestumpfte Kühe, die mit gemahlenen Leichenresten gefüttert werden, während sie ermattet auf den vertrauten Trog starren. Um uns herum wird grässlicher Lärm verbreitet, der meistens nichts zu tun hat, mit den stummen Bildern von M-TV, die aus den aufgehängten Monitoren oszillieren, als wollte eine höhere Macht herausfinden, wer von uns den ersten epileptischen Anfall bekommt. Wir überreichen brav unser Geld den Bankberatern, nur weil irgendein Krawattenlügner mit einem Filzstift einige Prozentzeichen und Ausrufezeichen auf ein Flip-Chart-Blatt schrieb und es im Eingang unserer Bankfiliale aufhängte. Und ist das teuer ersparte und für die Ausbildung der Tochter bestimmte Geld verschwunden, fordern wir mit derselben Bravheit die Benennung des Schuldigen. Und so hassen wir den Lügner mit der Krawatte, der selbst ebenso nur ein Rädchen in der Maschine der Bestimmung ist. Wir hassen ihn, weil wir nicht den Mut haben, uns selbst zu erkennen. Wir hassen ihn, weil wir nicht den Mut haben zu sehen, dass er nur ein Spiegelbild dessen ist, was wir selbst sind. Nur ein weiterer Homo oeconomicus cretinus auf einem Planeten, der von genau dieser Spezies dominiert wird.
Wir sind Politiker, wir sind Steuerberater, wir sind Banker, wir sind Zuhälter und Journalisten, wir sind Supermodels und PR-Berater, wir sind Chefredakteure und Consultants, wir sind Huren und Kunsthändler, wir sind Junkies und Rechtsanwälte, TV-Produzenten und Lobbyisten, wir sind Werbefachleute und Raser auf Autobahnen, Bonusmeilen-Sammler und Herzerl-Kleber, wir sind Fans und Stalker, Schundblattleser, Pornosüchtige und Säufer. Wir schlagen unsere Kinder und bezahlen die Abtreibungen unserer Affären. Wir geben Vermögen für überteuerte Kosmetik aus und voten den nächsten Superstar mit unserem Handy. Wir brüsten uns mit unserer psychotischen Religiosität und beneiden wütend jeden, dessen Finger mehr nach Geld stinken, als die unseren.
Zu keinem bestimmten Zeitpunkt sind wir Menschen. Wir sind der Abfall der Galaxie. Wir sind verabscheuungswürdige Mollusken, die einen Großteil ihres Denkens damit verbringen, die eigene Unantastbarkeit zu begründen. Wir definieren unser Leben als heilig und nehmen uns in unserer Blasiertheit wichtig. All das, um zweckdienlich den letzten Abglanz der Wahrheit in unserer Welt zu verschleiern. Dass wir vergänglich sind und alles Nennenswerte, das in uns jemals Platz gefunden hatte, in einem Casino verspielt haben. Dass der größte Beitrag, den wir in den letzten fünftausend Jahren zu unserer globalen Zivilisation geleistet haben, in der alles durchdringenden und verschlingenden Erfindung des Geldes bestand.
Wir haben eine Menge Kirchen und Banken gebaut, Tempel und Parlamente, um diese Tatsachen zu kaschieren. Wir entnehmen den Überlebensinstinkt des Tiers in uns und wickeln ihn in Pathos und unreflektierte Ansprüche ein.
Dann legen wir den Kreditplan vor, der diese Empfindung finanzierbar macht.
Wenn wir nicht in die Spiegel blicken und uns sehen, als das, was wir sind — überhebliche, nackte Affen mit Kreditkarten — werden wir nicht frei sein.
Und wir können uns in unzähligen Talkshows beweihräuchern und schmierige, schleimige Dokumentarfilme über Glück und Erfolg ansehen — es wird nichts daran ändern, dass wir Monster sind, überdimensionierte Föten und Embryos, die einsam und behäbig auf ihren kleinen strategischen Hügeln stehen und Armeen aus belanglosen YouTube-Filmchen befehligen.
Der freie Wille besteht in der Anwendung jener Möglichkeit, die in einem Prozess nicht vorgesehen ist. Doch solange wir diese Möglichkeit nicht beanspruchen, lassen wir das Potential ungenutzt brachliegen. Die Einflüsterer in unserem Nacken entscheiden für uns. Zugunsten von organisierten Religionen, von schwachsinnigen Reality-Shows und dem naiven Zujubeln einer undurchsichtigen Partei, die selten mehr als vier oder fünf Jahre braucht, um alle Unarten ihrer Opposition anzunehmen.
All das hat damit zu tun, dass der Mensch die Fesseln schätzt. Es ist das Angelische in ihm. Es ist die Freude daran, dass jemand anderes, jemand, der höher auf der Leiter der gemeinsamen Existenz steht, die Regeln vorgibt. Und wir vergöttern Regeln. Wir lieben die Programmgestaltung. Wir genießen es, an unseren Ketten zu zerren und die Schuld auf den Chefetagen zu wissen. Und wir besitzen die kollektive Unverschämtheit, Luzifer für unseren Schwachsinn zu verdammen.
Und in der dunkelsten Ecke dieser Straße finden wir eine Gruppe mentaler Bankrottfälle, die dort bar eigener Persönlichkeit herumstehen und sich zuversichtlich auf die Schulter klopfen, mit den beruhigenden Worten: »Der Führer wird´s schon richten.«
Die Freiheit befindet sich nicht am Ende eines Wochenendseminars. Die Freiheit lebt nicht am Ende des Gaspedals. Die Freiheit ist keine tropische Insel. Das Glück kein weißer Strand.
Denn alle Strände sind Lügen.
Die Freiheit liegt in der kompletten Abschaffung der Vergangenheit. Und das Glück ist ein Privileg der Ahnungslosen und Geistesschwachen.
Hasse ich den Menschen? Habe ich keine Hoffnung für die Menschheit?
Zugegeben — in jenem Augenblick, in dem ein fünfhundert Kilometer breiter Asteroid brennend in die Atmosphäre der Erde einbricht, werde ich einzig auf dem Hügel stehen, der einsame Narr, tanzend und frohlockend, über das winzige Stück Gerechtigkeit in einer vergessenen Ecke des Kosmos.
Doch der Mensch ist da.
Ich kann ihn sehen, sogar durch die Schleier endloser Missetaten und durch all die Masken seiner Gier und Idiotie.
Dieses seltsame Geschöpf auf einer Reise ohne Anfang, doch mit einem Ziel.
Dieses einzigartige Wesen, fähig der einen Sache, die kein Geld kaufen und uns kein Lügner und Produktschacherer liefern kann: der Liebe.
Sollte es sie wirklich geben, dann ist sie das einzige KO-Kriterium auf dem Aufnahmeantrag in die Hölle, in der wir alle für Ewigkeiten brennen sollten.