Archiv der Lux Aeterna
VERZEICHNIS ATHOS
INTERVIEW 1979 - 5/5
Historisches Dokument Nr. 4217.465
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Björn Randow: Sie haben also den Zeitpunkt Null abgewartet.
Athos: Ja, es kam vier Tage später und mindestens eine Woche früher, als Saint-Germain es vorhergesagt hatte.
Björn Randow: Was geschah?
Athos: Wir schalteten das Gerät regelmäßig ein, doch stets nur kurz, denn das hektische Signal konnte einen bereits recht wahnsinnig machen. Irgendwann paßten wir den Augenblick ab, der offensichtlich das Ziel unserer Bemühungen war. Das Geräusch wurde zu einem einzelnen Ton. Pausen konnten unsere Ohren nicht mehr unterscheiden. Dann schaltete sich das Gerät mit einem Schlag ab und wurde still. Im selben Augenblick leuchteten alle sieben Tore auf. Es war ein weißes, kaltes Licht, das keine Hitze abstrahlte. Ich war etwas ratlos und ich verstand auch, daß dieser Zustand vermutlich nur kurz anhielt. Stagnatti, der zu diesem Zeitpunkt deutlich älter und erfahrener war, fand seine Fassung am schnellsten wieder. Er schubste Sylvio vor sich hin und wollte ihn durch den Korridor schicken. Doch der Diener schrie nur auf, ließ die Lampe fallen und flüchtete zu der Leiter. Wir haben ihn nie wieder gesehen.
Björn Randow: Und dann?
Athos: Stagnatti sah mich an und sagte nur: „All das, um uns zu einem Gerät zu führen, das uns tötet? Wie unwahrscheinlich, mein Bester. Niemand macht sich eine so törichte Mühe.“ Dann trat er selbstbewußt auf den ersten Türrahmen zu und verschwand in dem Licht. Ich stand draußen und konnte ihn sogar durch das Licht gehen sehen. Zwischen den einzelnen Bögen war der grelle Schein etwas schwächer und mit zusammengekniffenen Augen konnte man seine Gestalt erblicken, wie sie vom Türbogen zu Türbogen ging. Er schien beinahe durchsichtig zu sein und verblasste vor meinen Augen. „Sprechen Sie, Doktor!“ schrie ich, vollkommen schockiert von diesem Anblick. Er sah mich nur kurz an, getaucht in diese zitternde Licht und sagte nur drei Worte. Ich werde sie nie vergessen: „Keine Geheimnisse mehr.“. Am Ende war er verschwunden. Die Tore pulsierten und strahlten noch immer. Ab diesem Augenblick trugen mich zwar meine Füße durch den Raum, doch an eine willentliche Entscheidung kann ich mich nicht erinnern. Es war einer dieser Augenblicke, in den wir im Nachhinein kaum im Stande sind zu sagen, was es war, das uns vorantrieb und wo denn der auslösende Gedanke herkam. Eine Handlung, die unterbewußt gesteuert wird, nicht durch rationale oder emotionale Erwägung. Heute glaube ich, daß ich – nachdem ich so viele Abenteuer auf mich genommen hatte – es nicht hätte ertragen können, einfach nur zuzusehen. Angefangen mit dem Ertrinkenden in der Spree, bis hierher, in diesen rätselhaften Raum tief unter der Kleinen Seite in Prag, dieser Augenblick schien nur auf mich zu warten. Ein Zurück gab es nicht. Ich trat durch das Licht - im Grunde gedankenlos. Man könnte sogar sagen, ich raste hinein. Finden Sie das noch spannend?
Björn Randow: Was war das Licht nun? Was ereignete sich darin?
Athos: Es war wie das Tor zu einer anderen Welt. Wie der Ausflug in ein Jenseits, ohne seine sterbliche Hülle aufzugeben. Ich betrat eine Welt, die...
Björn Randow: Sie waren nicht mehr da?
Athos: Die Zeit war geradezu nicht vorhanden. Ich war in der Tat woanders, gemessen an meiner Wahrnehmung und meinem Zeitgefühl. Als ich das siebente Tor durchschritt, war ich wohl nicht mehr da. Ich war woanders. Ich weiß nicht, wo mein Körper war, doch ich wußte wo sich mein Geist befand. Im Jenseits.
Björn Randow: Aber was ist mit dem Korridor? Weshalb sollte ich nicht hingehen und mich davon überzeugt haben, ob es ihn noch immer gibt?
Athos: Das habe ich selbst schon getan. Das Haus steht noch immer dort. Es wurde zwischenzeitlich auch keine Metro-Station hingebaut, was für mich - sollte ich nur ein Lügner sein - sicherlich bequem wäre. Ich fand sogar noch das unterste Souterrain. Aber die Luke war nicht mehr da. Nur ein verschüttetes Loch im Boden. Wir haben uns durch die sechzig Meter Geröll durchgegraben und fanden auch den Raum, in dem sich der Lichtkorridor befunden hat. Doch alles war weg. Die metallische Verkleidung der Wände, die sich wie Marmor anfühlte, die sieben Türrahmen. Alles. Es war nur eine kahle Höhle, hundert Meter unter einem Prager Altbau. Eines Tages werden es irgendwelche Ingenieure oder Historiker finden und eine seltsame Theorie dazu aufstellen. Der nie fertiggestellte Bunker eines Nazibonzen aus der Besatzungszeit, oder etwas ähnliches.
Björn Randow: Also kein Beweis...
Athos: Ich erzähle Ihnen nur eine Geschichte; die Hausaufgaben müssen sie selbst machen. Stagnatti habe ich im Jenseits nicht mehr gefunden. Doch ich stieß auf einen Jungen. Ein Knabe, kaum älter als zehn Jahre und nur so groß. Doch bereits ein Weiser. Nicht lange danach wurden wir von den Engeln bedrängt. Er zeigte mir alles. Wie man mit ihnen kämpft, wie man fliegt, wie man Dinge erschafft, die vorher nicht da waren. Und wir wurden Freunde und sind es bis heute.
Björn Randow: Sie sprechen von Paul Lichtmann...
[Athos steht auf.]
Björn Randow: Warten Sie. Sie können das nicht derart abkürzen...
Athos: Ich fürchte doch. Zumindest für heute. Ich sagte Ihnen, daß ich nur eine halbe Stunde Zeit habe.