Ein lautes Stöhnen drang von Raguels Kriegern herüber. Einige verließen die Formation und wichen mehrere Schritte zurück. Ihr Befehlshaber bemerkte es, hatte aber nur Augen für das Haupt von Lachis in der Hand seines Feindes. Ein wilder Aufschrei entrang sich seiner Kehle, und für einen Moment schien die weiße Haarsträhne noch heller zu werden, in weißem Feuer zu erglühen wie Stahl in einem Hochofen.

Kyra klammerte sich mit beiden Händen an die Planke. Tief unter ihr brachen sich die Wellen, weißer Schaum tobte um die Klippen. Der Sturm zerrte an ihren langen Locken, aber sie nahm es kaum wahr. Wie gebannt starrte sie auf Azachiel und das uralte Relikt in seinen Fingern.

Das Haupt von Lachis sah immer noch aus wie ein ovaler Stein, kopfgroß und grau. Und trotzdem zog es die Blicke aller an wie ein Magnet. Ganz kurz schien es sogar zu pulsieren, ähnlich einem lebendigen Herz.

Doch welche Macht das Haupt auch immer besitzen mochte, an diesem Tag kam sie nicht zum Einsatz.

»Geht«, rief Azachiel seinen Feinden entgegen. Seine Stimme klang tiefer und hallender als zuvor. »Ich werde euch ziehen lassen. Doch zuvor leistet mir einen Schwur.«

Raguel hatte die Regungen seines Gesichts kaum noch unter Kontrolle. Er sah aus, als würde er jeden Moment vor Zorn und Hass explodieren. »Was für einen Schwur?«, fragte er verbissen.

»Ich bitte nicht um meinen eigenen Frieden«, erwiderte Azachiel, »denn ich weiß, ihr könnt eure Natur nicht verleugnen, selbst wenn euch ein Schwur bindet. Stattdessen bitte ich für diese Kinder.«

»Und meinen Vater«, flüsterte Kyra.

»Und für ihren Vater«, fügte Azachiel laut hinzu. »Ihr werdet ihnen kein Haar krümmen, nicht heute und auch an keinem anderen Tag.«

»Das ist alles?«

Azachiel nickte. »Schwört, und ich werde euch in Frieden ziehen lassen.«

»Nicht in Frieden«, zischte Raguel bösartig. »Du weißt, dass wir uns wieder sehen werden, Verräter. Wir werden kämpfen. Und du wirst unterliegen, Azachiel. Ich werde deine Seele in Stücke reißen.«

»Der Schwur!«, forderte Azachiel ungeduldig.

Raguel zögerte noch, dann nickte er. »Ich schwöre. In meinem Namen und im Namen aller, die mir folgen.«

»Sprich es aus!«

»Ich schwöre, dass wir diesen Kindern und dem Mann kein Leid antun werden … nicht heute und an keinem anderen Tag.« Raguel sah aus, als bereite ihm jedes Wort körperlichen Schmerz – für jedes würde er von seinem Meister Uriel eine Strafe empfangen. Und Uriel würde seinerseits vor Satanael treten und die Niederlage eingestehen müssen. Kein fröhlicher Tag in der Hölle, ganz gewiss nicht.

Azachiel senkte das Haupt von Lachis vor seine Brust, auf die Höhe von Lisas Kopf. Obgleich das Oval kein sichtbares Licht mehr ausstrahlte, glänzte Lisas Gesicht, als würde es von einem Scheinwerfer angestrahlt. Ihre Finger krallten sich noch tiefer in den Stoff von Azachiels Mantel.

Raguel und seine Krieger erhoben sich in die Lüfte, schwebten steil nach oben und entfernten sich dann ohne ein weiteres Wort in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Kyra und die anderen schauten ihnen hinterher, aber bald schon waren die acht Gestalten inmitten der dunklen Gewitterwolken verschwunden.

deine Seele in Stücke reißen, hallte es noch einmal über die aufgewühlte See.

Azachiel schob das Haupt von Lachis unter seinen Mantel, wo es spurlos verschwand. Keine Ausbuchtung war unter dem Stoff zu erkennen, nichts, was verraten hätte, dass er das wertvolle Relikt am Körper trug.

Kyra rutschte im Sitzen rückwärts zum Rand der Klippe, wo Nils und ihr Vater sie an den Armen packten und in Sicherheit zogen.

Azachiel schenkte Lisa ein letztes Lächeln, dann hob er sie in die Luft und schleuderte sie kurzerhand über den Spalt. Ehe sie es sich versah, landete sie in Chris’ Armen; er war instinktiv vorgesprungen, um sie aufzufangen. Lisa war viel zu überrascht, als dass sie das hätte romantisch finden können.

Als sie sich umschaute, stieß Azachiel sich gerade vom Felsplateau ab und stieg gen Himmel auf.

»Das Funkgerät, Professor«, rief der Engel aus sturmtosender Höhe herab, »es funktioniert doch wieder, oder?«

Professor Rabenson nickte. Nur langsam brachten seine Lippen wieder die Kraft auf, Worte zu formen. »Es … funktioniert. Hilfe ist unterwegs …«

Lisa löste sich ein wenig widerwillig von Chris und trat näher an den Rand der Klippe. Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute Azachiel hinterher, der leicht wie eine Ascheflocke aufwärts schwebte.

»Wohin gehst du?«, rief sie, so laut sie konnte.

Der Wind trug seine Antwort an ihre Ohren, fern und säuselnd.

»In die Vergangenheit und in die Zukunft, nach hier und nach anderswo.«

Und was für eine andere Antwort hätte man ernsthaft von einem Engel erwarten können?

Wie ein Blitzschlag durchzuckte Lisa ein Bild: Sie sah sich selbst und die anderen aus großer Höhe auf der Klippe stehen, wie sie aufwärts blickten, ein wenig wehmütig und sehr, sehr erleichtert.

Ich schaue durch Azachiels Augen, dachte sie.

Und einen Herzschlag später dachte sie sogar einen von seinen Gedanken, so als wäre sie ein Teil seiner selbst geworden – zu Gast in der Seele eines Engels.

Wir werden uns wieder sehen, dachte Azachiel, und es war eine Botschaft, die sie alle empfingen wie einen Funkspruch aus der Unendlichkeit des Alls.

Wir werden uns ganz sicher wieder sehen.