Die Kirche über dem Abgrund

Sie wussten selbst nicht genau, was es war, das sie nach Azachiels Verschwinden zu der kleinen Kirche zog. Doch ob es aus freiem Willen geschah oder ob sie längst den Befehlen einer höheren Macht folgten, war gleichgültig geworden. Alles, was zählte, war das, was der Engel zu ihnen gesagt hatte.

Uriel hat Raguel und seine Kämpfer ausgesandt. Sie werden bald hier sein.

Und weiter: Die Sühne, die er euch auferlegt, wird viel furchtbarer sein als der Tod.

Das genügte. Mehr mussten sie im Augenblick nicht wissen. Dies allein reichte aus, ihre Gedankengänge in ein einziges Chaos zu verwandeln. Selbst Kyra, die oft genug Gelassenheit im Angesicht der Gefahr bewiesen hatte, stand die Panik deutlich im Gesicht geschrieben.

Vor dem doppelflügeligen Portal der Kirche blieben sie stehen. Auf dem Weg hierher hatten sie zuerst geschwiegen, dann plötzlich alle durcheinander geredet und waren schließlich wieder still geworden. Sie mussten nicht darüber streiten, ob das, was Azachiel gesagt hatte, der Wahrheit entsprach – natürlich war es wahr. Sie alle hatten bereits zu viel erlebt, um die Existenz eines Engels rundweg abzustreiten.

Unterschiedlicher Ansicht waren sie allerdings über ihr weiteres Vorgehen. Doch schon bald stellte sich heraus, dass ihnen ohnehin kaum Möglichkeiten blieben. Sie saßen auf dieser verfluchten Insel fest, und was immer sich dem Eiland näherte, war längst nicht mehr aufzuhalten. Falls die Schergen des Sühneengels auf dem Weg hierher waren, dann gab es vor ihnen kein Entkommen. So einfach war das. Und so unerfreulich.

»Was sollen wir in der Kirche?«, fragte Nils und schaute am Portal hoch.

Ein warmer Wind strich vom Meer über die Insel, wehte die Klippe herauf und wirbelte Kyras rotes Haar durcheinander. Sie hob nur hilflos die Schultern.

»Engel und Kirche – das hängt immerhin irgendwie zusammen«, meinte Lisa ratlos.

»Ja«, sagte Chris, »aber sollten wir uns nach allem, was dieser Kerl gesagt hat, nicht besser davon fern halten? Ich meine, immerhin scheinen diese Engel nicht gerade unsere besten Freunde zu sein.«

»Gefallene Engel«, verbesserte ihn Kyra betont.

Lisa schaute sie aus großen Augen an.

»Glaubst du, wir sind in der Kirche sicher vor denen?«

»Kann sein, kann auch nicht«, gab Kyra unentschlossen zurück.

»Du denkst, sie dürfen Kirchen nicht betreten, oder?«, sagte Chris.

»Wie Dracula«, setzte Nils mit einer Grimasse hinzu, die deutlich seine Zweifel verriet.

Kyra funkelte ihn giftig an. »Hat vielleicht irgendwer eine bessere Idee?«

Lisa zuckte die Achseln. »Wir können ja wenigstens mal reinschauen.«

Chris nickte und drückte die unterarmlange Metallklinke des Portals nach unten. Knirschend schwang der rechte Flügel nach innen. Ein muffiger Geruch nach Staub und alten Vogelfedern wehte ihnen entgegen.

»Einladend«, bemerkte Nils mürrisch, als sie über die Türschwelle traten.

Tatsächlich gab es hier nichts, was ihre Aufmerksamkeit wert war. Ein paar lange Holzbänke, ein ausgetrocknetes Weihwasserbecken und ein Altar, den man aller kirchlicher Insignien beraubt hatte – das war alles. Selbst Kerzenleuchter und andere Kleinigkeiten hatten die Inselbewohner mit aufs Festland genommen.

»Das könnte genauso gut ’ne Scheune sein«, meinte Lisa.

»Ist eine verlassene Kirche eigentlich überhaupt noch eine … hm, richtige Kirche?«, wollte Nils wissen.

»Du meinst, ob sie dadurch vielleicht entweiht wird?«, fragte Kyra.

»Genau.«

»Weiß der Teufel«, brummte Chris.

»Wenn sie nicht mehr geweiht ist«, begann Lisa, »dann –«

Chris führte den Satz zu Ende: »Dann können wir uns genauso gut irgendwo anders verstecken. Oder es gleich sein lassen.«

»Na, toll!«, entfuhr es Nils.

Sie verließen die Kirche wieder und machten sich daran, sie zu umrunden. Doch an der Rückseite bestätigte sich, was sie schon von weitem geahnt hatten: Die Rückwand der Kirche ging geradewegs in die Felswand über, deren messerscharfe Kante steil zum Meer abfiel.

Und noch etwas entdeckten sie.

Eine einzelne Felsnadel stach unten aus der schäumenden Brandung empor und ragte spitz wie der Hut eines Zauberers bis zur Oberkante der Klippe empor. Die Spitze selbst war leicht abgeflacht, sodass eine Plattform von anderthalb Metern Durchmesser entstanden war. Zwischen dem Klippenrand, an dem die Freunde jetzt standen, und der Felsspitze lagen vier Meter absolutes Nichts. Wahrscheinlich hatte kein Mensch diese Plattform je betreten – und warum auch: Es gab dort nichts als Vogelkot.

Aus der Tiefe stieg der Duft der See herauf, ein salziges Aroma, das in einem anderen Augenblick vielleicht ein Gefühl von Urlaub ausgelöst hätte. So aber jagte ihnen der Abgrund nur einen Schauder über den Rücken. Alle vier machten einen Schritt nach hinten, so als fürchteten sie, dass ihre Beine sie gegen ihren Willen in die Brandung stürzen könnten.

»Ah«, ertönte plötzlich hinter ihnen eine Stimme, »hier seid ihr also!«

Die vier wirbelten herum.

Vor ihnen stand der Professor.

»Ich hab euch überall im Dorf gesucht«, sagte er. »Aber das Einzige, was mir begegnet ist, war so ein Ungeheuer von einer Ziege.«

»Ein Widder«, verbesserte Lisa.

Kyras Vater schaute einen Moment lang ziemlich zerstreut drein, dann nickte er fahrig. »Ein Widder. Von mir aus.«

»Wir müssen dir was erzählen«, begann Kyra, aber der Professor unterbrach sie:

»Erst ich«, sagte er und klang dabei wie ein trotziges Kind. Die Freunde seufzten tonlos.

»Das Funkgerät funktioniert noch immer nicht«, fuhr Professor Rabenson fort. »Doktor Castel hat eine Laune, als wäre er mit dem Flugzeug hier gestrandet. Ich hab es vorgezogen, ihn eine Weile allein zu lassen.«

»Wo ist das Ei?«, platzte Kyra heraus, die nicht länger ruhig bleiben konnte. Was interessierte sie das blöde Funkgerät, wenn jeden Augenblick eine Heerschar blutrünstiger Engel auf der Insel auftauchen konnte?

»Das Ei?«, wiederholte ihr Vater, erneut leicht verwirrt. Dann begriff er, was sie meinte. »Das Haupt«, korrigierte er.

»Egal. Wo hast du es hingetan?«

 

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