Kyra wusste keine Antwort darauf. Sie bemerkte, dass Chris wie versteinert auf Lisa starrte – nicht auf Azachiel oder Raguel, nur auf Lisas Gesicht. Seine Augen quollen fast über vor Sorge.

Lisa wirkte verträumt, so als wäre sie nicht ganz sie selbst. Sie schmiegte sich in den Stoff von Azachiels Mantel, als gäbe es keinen sichereren Ort auf der Welt – es sah aus, als würden die Schatten um sie herum noch dunkler und tiefer.

Was geschieht hier?, durchfuhr es Kyra eisig, und ihre Sorge galt nicht nur Lisa, sondern ihnen allen.

Raguel streckte seine Hand aus und winkte auffordernd über den Abgrund. »Wir sind deine Freunde, mein Kind. Uns kannst du berühren, ohne den Schatten irgendeiner jämmerlichen Kirche. Azachiel ist schwach. Aber wir«, – er lächelte wieder –, »wir sind stärker und mächtiger als jede andere Kreatur dieser Welt.«

»Ihr seid Satanaels Sklaven«, gab Azachiel zurück. »Ihr habt keinen eigenen Willen. Nicht einmal die Kraft, mit der du protzt, gehört dir. Ohne Satanael seid ihr nichts.«

Die Stimmen der beiden Engel klirrten wie Schwertklingen, die in einem tödlichen Duell aufeinander hieben. Kyra begriff, dass dies der Wahrheit ungemein nahe kam: Es war ein Duell, ein Kampf geführt mit eiserner Willenskraft und unverblümtem Hass.

Doch da war auch etwas, das sie allmählich davon überzeugte, dass Azachiel nicht ihr Feind war: Er hätte Lisa das Haupt längst aus der Hand reißen können. Dennoch tat er es nicht.

Doch wer weiß, dachte Kyra, vielleicht ist das auch gar nicht nötig.

»Ihr habt verloren, Raguel«, stieß Azachiel zischend aus. »Du und Uriel und Satanael … ihr alle seid die Unterlegenen.«

Ein geisterhaftes Raunen ging durch die Reihe der sieben Engel. Ihre Lippen bewegten sich nicht, und doch war es, als wandere ein kaum hörbares Flüstern von einem zum anderen. Zwei von ihnen verließen ihre Plätze und glitten an die Seite ihres Anführers.

Raguel fuhr herum und schoss einen finsteren Blick auf sein Gefolge ab. Das Flüstern verstummte abrupt.

Dann wandte er sich wieder zu Azachiel und Lisa um. Kyra und die anderen beachtete er nicht weiter. Sein Interesse an ihnen war nicht größer als das eines Menschen an einem lästigen Insekt.

»Du glaubst, du kannst dich jetzt sicher fühlen, nicht wahr?«, fragte er und sah dabei Azachiel an. »Du denkst, du bist uns endlich überlegen.«

»Überlegen?« Azachiel lachte bitter. »Ich weiß nicht, ob ich das bin. Aber, wie ich es sehe, sind die Seiten zum ersten Mal ausgeglichen. Ihr habt mich gejagt, Raguel, seit dem Großen Fall habt ihr mich gejagt … vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, euch eure Freundschaft zu vergelten.«

Raguels Mantel bauschte sich auf wie das Gefieder eines Raubvogels vor dem Sturzflug auf die Beute. »Wenn diese Sache beendet ist, wird nichts mehr an dich erinnern, Azachiel. Du wirst aufgehört haben zu existieren. Und du weißt es.«

Wieder lächelte Azachiel. »Du bist nicht dumm genug, um das wirklich zu glauben. Einem deiner Lakaien würde ich so viel Unverstand zutrauen, aber nicht dir. Wir waren einmal Freunde, Raguel. Du kennst mich. Und du weißt genau, dass dies alles nicht so einfach ist, wie du es dir wünschst.«

Kyra verstand nicht viel von dem, was die beiden redeten, aber das war auch gar nicht nötig. Das wenige, was sie begriff, machte ihr nur zu klar, dass sie in einen Konflikt hineingestolpert waren, der seit Anbeginn der Zeit tobte – eine Schlacht, in der kein Platz für gewöhnliche Menschen war. Einen Krieg, der die Welt eines Tages bis in ihre Grundfesten erschüttern mochte.

Offenbar gab es drei Seiten in diesem Kampf. Die eine war jene unfassbare Macht, die alles geschaffen hatte – Gott, wenn man der Kirche Glauben schenkte. Die zweite Seite war der gefallene Engel Satanael, der sich zum Herrn der Hölle aufgeschwungen hatte. Ihm dienten Raguel und seine Kämpfer. Irgendwo zwischen diesen Gegnern aber stand die dritte Gruppe, Gefallene Engel, die jedoch nicht der Verführung des Bösen erlegen waren. Azachiel war einer von ihnen, und, wie es schien, im Augenblick der einzige, der zählte.

Kyra trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Es ging nicht darum, die großen Zusammenhänge zu begreifen. Es wäre vermessen gewesen, das überhaupt zu versuchen. Fest stand nur, dass sie und die anderen zwischen den Fronten dieses Krieges zermalmt werden würden, wenn nicht bald etwas geschah, das sie vor diesem Schicksal bewahrte.

Und der Schlüssel zu ihrer Rettung, vielleicht sogar der Schlüssel zum Ausgang dieses ganzen schrecklichen Krieges, befand sich im abgewetzten Rucksack ihres Vaters – der wiederum an Lisas Hand baumelte, gefährlich nah am Abgrund der Klippe.

Azachiel hatte seinen Hohn über den einstigen Freund und heutigen Feind lange genug ausgekostet. Jetzt blickte er auf Lisa herab.

»Wirst du mir das Haupt von Lachis geben?«, fragte er freundlich.

Lisa lächelte zurück wie in Trance, dann nickte sie. Ihre Freunde erkannten, dass etwas mit ihr geschehen war. Sie stand da wie hypnotisiert.

»Nein!« Raguels Gesicht war grotesk verzerrt. »Tu das nicht.«

Azachiel musste sich sehr sicher fühlen, denn noch immer riss er Lisa den Rucksack nicht aus der Hand. Stattdessen schaute er gemeinsam mit ihr zur Klippe hinüber.

Raguel streckte Lisa beiden Hände entgegen, beinah flehentlich. »Azachiel ist nicht, was er zu sein scheint. Wir sind es, die euch retten können. Vor ihm!«

»Ach, Raguel«, gab Azachiel zurück, »diese Kinder sind zu klug, um auf deine Lügen hereinzufallen.«

Aber Raguel beachtete ihn gar nicht mehr, schaute nur Lisa an. »Hier und jetzt leiste ich den Schwur, dein Leben zu retten, Mädchen. Bei Satanael und bei dem Schmerz des Großen Falls – wenn es in meiner Macht steht, werde ich dein Leben retten.«

Lisa schien einen Moment lang aus ihrer Trance zu erwachen, so als wären die Worte des Engels zu ihr durchgedrungen und hätten sie aus tiefem Schlaf gerissen.

Und zum ersten Mal zögerte sie.

Azachiel strich ihr übers Haar. Er hatte die Veränderung noch nicht bemerkt, denn sein Blick war weiterhin auf Raguel gerichtet. »Hör nicht auf ihn«, flüsterte er. »Man nennt seinen Herrn nicht umsonst den Meister der Lüge.«

Lisa ließ die Hand mit dem Rucksack langsam sinken.

Raguel winkte ihr wortlos zu, mit beschwörender Gestik.

Kyra zog zischend die Luft ein. Neben ihr verkrampften sich Chris und Nils. Der Professor lehnte an der Kirchenmauer, als hätte ihm jemand einen kräftigen Schlag verpasst; er brachte schon lange kein Wort mehr heraus.

Azachiel wandte den Blick von seinem Feind auf das Mädchen an seiner Seite – und erkannte schlagartig, dass sie drauf und dran war, den Lockungen Raguels zu verfallen. Er wollte nach dem Rucksack greifen, doch es war bereits zu spät.

Lisa schleuderte das Bündel über den Abgrund, geradewegs auf Raguel zu.

Kyra handelte.

Sie wusste nicht, ob sie das Richtige tat. Aber sie spürte genau, dass Lisa von den Kräften dieser Geschöpfe zerrissen werden würde – und sie konnte nicht zulassen, dass Raguel das Haupt in die Finger bekam.

Ehe irgendwer sie aufhalten konnte, sprintete Kyra los. Auf die Felskante und die schmale Planke zu. Vorbei an Raguel, geradewegs auf das Brett.

Ihre Füße hatten bereits zwei hastige Schritte über das Holz gemacht, als sie mit beiden Händen den Rucksack aus der Luft schnappte. Dabei musste sie unweigerlich das Gleichgewicht verlieren. Doch statt in die Tiefe zu stürzen, ließ sie sich breitbeinig auf die Planke fallen.

Der Schmerz war grauenvoll. Eine endlose Sekunde lang hatte sie das Gefühl, der Aufprall zerreiße ihren Unterleib.

Aber sie kam zum Sitzen. Schwankend, keuchend vor Pein – aber sie saß.

Rittlings, wie auf einem Pferd, hockte sie im Sonnenlicht über dem Abgrund, genau in der Mitte der Planke, das Gesicht Azachiel und Lisa zugewandt.

In ihren Händen hielt sie sicher den Rucksack, und darin das kostbare Haupt von Lachis.

Jetzt lag es an ihr, die Entscheidung herbeizuführen.

Lisa stand unter dem Bann der verfeindeten Engel, und niemand konnte ihr deswegen einen Vorwurf machen. Sie hatte nie eine Chance gehabt.

Kyra dagegen trug das Erbe ihrer Mutter in sich, den Geist einer Hexe. Niemals zuvor hatte sie darauf vertraut, dass dieser Umstand ihr das Leben retten würde. Doch diesmal hatte sie keine andere Wahl.

Mutter, dachte sie flehentlich, wenn wirklich noch ein Teil von dir in mir steckt, irgendwo, ganz tief, dann hilf mir!

Sie konnte die geistigen Wellen der Beeinflussung, die Raguel und Azachiel aus entgegengesetzten Richtungen auf sie abschossen, förmlich vor sich sehen. Spürte, wie sie auf sie zurasten, um sie zu betören, um ihren freien Willen zu zerfetzen. Fühlte aber auch, wie sie von einem unsichtbaren Schutzschild abprallten, wie Pfeile von einer Ritterrüstung.

Ja!, durchzuckte es sie euphorisch.

Das war es! Ihr Erbe war doch zu etwas nutze! Endlich hatte sie den Beweis. Die Engel konnten ihr nichts anhaben, nicht so, wie sie Lisa in ihren Bann gezogen hatten.

Kyra schaute über die Schulter zu Raguel, der vor Wut schäumte, dann wieder nach vorne zu Azachiel. Er wirkte eher überrascht als wütend. Noch immer hielt er Lisa fest, damit sie nicht von dem Plateau stürzte.

»So!«, sagte Kyra. »Jetzt beantwortet mir eine Frage: Was wird geschehen, wenn ich einem von euch das Haupt überlasse?« Nach kurzer Pause setzte sie hinzu: »Und seid ehrlich. Ich habe keine Skrupel, das Ding einfach loszulassen. Dann werden wir sehen, wie schnell ihr fliegen könnt, um es aufzufangen.«

Das saß! Keiner der beiden konnte Kyra dort, wo sie saß, erreichen. Azachiel nicht, weil sie nicht im Schatten der Kirche war und er im Sonnenschein durch sie hindurchgegriffen hätte, und Raguel nicht, weil er fürchtete, Kyra könnte das Haupt von Lachis fallen lassen. Seine Reaktion ließ erkennen, dass er keine Möglichkeit sah, das Haupt zu fangen, ehe es auf den Klippen zerschellte. Kyra schien mit ihrem verzweifelten Plan richtig zu liegen.

Während Kyra auf eine Antwort der beiden Kontrahenten wartete, wurden Lisas Gedanken allmählich wieder klar. Ihre Züge entkrampften sich, der verträumte Schleier schwand aus ihrem Blick. Schlagartig wurde ihr bewusst, wo sie sich befand. Und dennoch geriet sie nicht in Panik. Immer noch war da etwas in ihr, das Azachiel Vertrauen schenkte – und diesmal war es keine seiner Beeinflussungen, die ihr das Gefühl aufzwang, nein, diesmal war es allein sie selbst, die zu der Überzeugung kam. Azachiel hatte einen Fehler gemacht; hätte er nicht versucht, Lisa mit Hilfe seiner geistigen Kräfte auf seine Seite zu ziehen, hätte sie ihm das Haupt längst aus freien Stücken übergeben.

»Du willst wissen, was geschieht, wenn du mir das Haupt übergibst?«, fragte Raguel und starrte in Kyras Rücken, als wollte er seine Blicke in Dolche verwandeln. »Nun, Kind … Mein Meister wird euch unermesslichen Reichtum gewähren. Die Erfüllung all eurer Wünsche. Ewiges Leben, vielleicht.«

Azachiel lächelte. »Ich gebe euch nichts. Nur mein Wort, dass das Haupt nicht zu bösen Zwecken missbraucht werden wird.« Er verstummte einen Moment lang, dann setzte er ruhig hinzu: »Dies und meine Freundschaft.«

Raguels Lachen hallte von den Felsen und leeren Häusern wider, als er die Worte seines Gegners vernahm. Für ihn waren sie nur Beweise von Schwäche, und er zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass er als Sieger aus diesem Streit hervorgehen würde.

Doch Raguel hatte verlernt, wie ein Mensch zu denken. Falls er diese Gabe je besessen hatte, so hatte er sie verloren, als er sich im Krieg der Engel auf Satanaels Seite schlug.

Kyra überlegte nicht länger. Im Sitzen holte sie aus und schleuderte den Rucksack zu Azachiel hinüber. Und während ihr Blick der Flugbahn des Bündels folgte, verstand sie plötzlich das Dilemma der Engel – das Haupt musste freiwillig übergeben werden. Nur deshalb war es ihnen nicht gelungen, es aus dem Tempel von Lachis zu stehlen.

Vielleicht war es das Erbe ihrer Mutter, das Kyra diese Gewissheit verlieh, vielleicht aber auch ihre eigene Entdeckung. Egal. Es zählte allein, dass sie Recht hatte.

Azachiel ließ das Schwert los, fing den Rucksack auf und zerfetzte ihn mit einer einzigen raschen Handbewegung. Ein helles Licht loderte sekundenlang um seine Hand; einen Augenblick lang sah es aus, als hätte der Blitz in seinen ausgestreckten Arm eingeschlagen.

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