Azachiel

Vom Flugzeug aus fuhr der Professor mit Castel zurück zur Wetterstation, während Kyra und die anderen sich berieten: Sie entschieden, auf eigene Faust das verlassene Dorf auszukundschaften. Vielleicht fanden sie dort ja doch irgendetwas, was ihnen weiterhalf.

Es war gegen vier Uhr morgens, als sie sich auf den Weg machten. Der Himmel war immer noch stockdunkel. Jeder von ihnen trug eine der Taschenlampen bei sich, mit denen sie schon die Ruinen von Lachis erforscht hatten.

Sie hatten etwa einen Kilometer zurückgelegt, als Nils plötzlich sagte: »Irgendwie ist das alles hier noch unheimlicher als die Stollen von Lachis, findet ihr nicht auch?«

»Geht so«, meinte Kyra griesgrämig. Von ein paar Unterbrechungen abgesehen hielt ihre schlechte Laune schon an, seit sie in diesen dummen Tempel hinabgestiegen waren. Sie wusste selbst nicht genau, weshalb. Es hatte etwas mit diesem Ding zu tun, das ihr Vater entdeckt hatte; mehr noch eigentlich damit, dass er ihr nicht erzählte, um was es sich dabei handelte. Sie fand seine Geheimnistuerei schlichtweg unfair. Wie spektakulär konnte die Wahrheit schon sein? Wohl kaum spektakulärer als das, was Kyra und die anderen erlebt hatten, seit sie Träger der Sieben Siegel waren.

»Mir fällt ’ne Geschichte ein«, sagte Nils. Ihm fielen in solchen Momenten immer Geschichten ein, eine gruseliger als die andere.

Lisa ließ den Strahl ihrer Taschenlampe über die zerklüftete Felslandschaft wandern. »Ich weiß nicht, ob das jetzt so ’ne tolle Idee ist.«

»Du hast ja bloß Schiss«, konterte ihr Bruder.

»Hab ich nicht!«

»Dann hör zu.«

Und während Chris und Kyra über das übliche Geschwistergezänk noch einen genervten Blick tauschten, legte Nils los:

»Das Ganze ist der Schwester einer Frau passiert, die mal bei uns im Hotel gewohnt hat.«

Die Eltern von Nils und Lisa führten das alte Hotel Erkerhof, außerhalb von Giebelstein. »Die Frau war selbst etwas … na ja, merkwürdig. Sie aß jeden Morgen vier Eier, ungekocht, nur leicht angewärmt. Und nachmittags lief sie durch die Korridore und gackerte wie ein Huhn.«

Lisa hob argwöhnisch eine Augenbraue.

»Merkwürdig daran ist vor allem, dass ich mich nicht an diese Frau erinnern kann.«

Kyra kicherte, und Chris räusperte sich verlegen. Alle wussten, dass Nils seine Geschichten erfand – meist aus dem Stegreif –, auch wenn er jedes Mal Stein und Bein schwor, dass sie sich genau so zugetragen hatten. Und immer behauptete er, sie seien einem Freund eines Freundes oder Verwandten eines Verwandten zugestoßen.

»Also …«, fuhr Nils fort, ohne auf Lisas Einwurf einzugehen. »Die Schwester dieser Frau war noch ziemlich jung, als das alles passiert ist, fünfzehn oder sechzehn. Das muss in den Fünfziger- oder Sechzigerjahren gewesen sein, als die Frauen noch diese Riesenfrisuren trugen, sooo hoch …« Nils machte mit beiden Händen eine weit ausholende Geste über seinem Kopf.

»Ihr wisst doch, damals hat man sich die Haare auftoupiert wie Türme, zwanzig, dreißig Zentimeter hoch. Das Mädchen, um das es in der Geschichte geht, hatte eine Frisur, die noch höher war als alle anderen. An ihrer Schule war sie so was wie ’ne Schönheitskönigin.«

»Wie Kyra«, warf Chris leise ein und sah ziemlich erschrocken aus, als ihm klar wurde, dass alle anderen es gehört hatten. Kyra wurde puterrot, während Lisas Stirn sich in Falten legte. Sie hasste es, wenn Chris Kyra Komplimente machte. Hatte der blöde Kerl denn nicht auch mal eines für sie, für Lisa, übrig?

Nils nutzte Chris’ Bemerkung gleich für seine Geschichte: »Ihr Haar war genauso rot wie das von Kyra, eben nur viel länger, sodass sie es zu einem Turm von gut vierzig Zentimeter Höhe hochfriemeln konnte. Jeden Morgen ging eine ganze Dose Haarspray drauf, nur um dem Ding auf ihrem Kopf einigermaßen Halt zu geben.«

»Ganz schön bekloppt«, kommentierte Lisa finster, deren Haar strohblond und kurz war.

Nils nickte. »Nachts, im Bett, schlief sie meist im Sitzen und stülpte sich dabei einen großen Karton über den Kopf, damit die Frisur nicht zerknittert wurde. Und beim Duschen setzte sie die größte Duschhaube auf, die ihr euch vorstellen könnt.«

»Abgesehen von dieser bescheuerten Frisur – was ist an der Geschichte denn nun so gruselig?«, unterbrach Lisa ihn erneut.

»Eines Tages machte das Mädchen einen Spaziergang im Park«, erzählte Nils weiter, nachdem er Lisa einen strafenden Blick zugeworfen hatte.

Diesmal fiel Chris ihm mit einem Augenzwinkern ins Wort: »Natürlich um Mitternacht, bei Vollmond, und aus dem Gebüsch kam diese riesige Bestie …«

»Blödsinn«, wies Nils ihn zurecht. »Gar nix dergleichen. Es war ein Sommertag, die Sonne schien, und überall wimmelte es von Picknickern. Alles war ganz normal und ungefährlich. Das Mädchen ging also stolz mit dieser Monsterfrisur spazieren, und dabei musste es sich ständig bücken, weil die Zweige der Bäume so tief hingen. Einmal aber gab es nicht Acht und streifte mit der Spitze seines Haarturms einen Ast – und ein Spinnennetz, das daran hing.«

Kyra verzog das Gesicht. Nils wusste genau, wie sehr sie Spinnen verabscheute.

»Das Mädchen ging weiter, ohne etwas zu bemerken«, sagte Nils. »Es spürte nicht, wie die Spinne über seine Frisur kletterte und schließlich einen Einstieg ins Innere des Haarturms fand. Es ahnte auch nichts von dem fetten weißen Kokon, den die Spinne mit sich herumtrug.«

»Bäähh«, kommentierte Kyra laut. Chris legte ihr eine Hand auf die Schulter und imitierte mit seinen Fingern das Tasten dicker Spinnenbeine. Kyra schubste ihn angewidert von sich. Darüber musste sogar Lisa lächeln.

»Einige Wochen vergingen«, fuhr Nils fort. »Das Mädchen sprühte die Frisur weiterhin jeden Morgen mit Lack und Haarspray ein. Nachts trug es den Karton überm Kopf und beim Duschen die riesige Plastikhaube.« Er machte eine kurze Pause, um die Spannung auf den Gesichtern der anderen zu genießen.

»Dann aber, eines Tages – sie saß gerade im Lateinunterricht –, lief plötzlich ein dünner Blutfaden unter ihrem Haar hervor, die Stirn hinunter und über ihren Nasenrücken. Ihr Blick wurde starr, ihre Lippen öffneten sich einen Spaltbreit und wurden steif. Dann fiel sie kopfüber auf ihr Pult und regte sich nicht mehr. Der Lehrer rief einen Krankenwagen, und die Sanitäter brachten das Mädchen in eine Klinik. Als die Ärzte begannen, das Haar des Mädchens zu rasieren, um nach der Ursache der Kopfblutung zu suchen, spürten sie plötzlich, wie etwas über ihre Hände krabbelte, über ihre Arme und Schultern, sogar über ihre Gesichter. Spinnen! Hunderte kleiner schwarzer Spinnen, die gesamte Brut, die aus dem Kokon geschlüpft war! Weil es den Tieren wegen der dicken Haarlackschicht nicht gelungen war, die Frisur zu verlassen, hatten sie im Inneren nach Nahrung gesucht, waren immer tiefer hinuntergeklettert … bis zu den Haarwurzeln. Und dort hatten sie begonnen, ob ihr’s glaubt oder nicht, den Kopf des Mädchens zu fressen!«

Nach entsetztem Schweigen sagte schließlich Kyra: »Das ist das absolut Ekelhafteste, was ich in meinem ganzen Leben gehört hab.«

Auch Lisa wuschelte mit beiden Händen in ihrem blonden Haar herum. Es juckte sie am ganzen Körper. »Kyra hat Recht. Das war total widerlich.«

»Aber die volle Wahrheit«, erklärte Nils mit geschwellter Brust. »Ich schwör’s, beim Leben meines Lieblingshamsters.«

»Irgendwann wird das Vieh in seinem Käfig explodieren, und du wirst genau wissen, warum«, meinte Chris.

Lisa untersuchte ihre Unterarme, diesmal nicht nach den Sieben Siegeln, sondern nach kleinen Spinnen mit gefletschten Zähnen. Die winzigen Härchen auf ihrer Haut standen aufrecht wie nach einem elektrischen Schlag. »Eklig«, wiederholte sie leise.

Nils wollte noch etwas sagen, doch da zeigte Kyra plötzlich mit ausgestrecktem Arm nach vorne.

»Wir sind da«, sagte sie.

Tatsächlich hatten sie das Dorf fast erreicht. Der Weg schlängelte sich in Serpentinen um einige Felsbrocken, dann verschwand er im Labyrinth der weiß getünchten Häuser. Der Hang, in den die Gebäude hineingebaut worden waren, erhob sich steil über dem Rand der Klippe. Am Fuß des Dorfes, dort wo es an den Rand der Klippe grenzte, stand eine kleine, weiß verputzte Kirche. Ihre Außenmauer schien geradewegs in die Steilwand der Klippe überzugehen; der Abgrund, der jenseits davon gähnte, war mindestens hundert Meter tief. Weit, weit unten brach sich die Brandung an schroffen Felsnasen.

Castel hatte eindeutig die Wahrheit gesagt: Das Dorf war verlassen.

Es gab hier keine Menschen mehr, nicht einmal Ratten oder Mäuse liefen den Freunden über den Weg. Die engen, verschlungenen Gassen verliefen kreuz und quer den Hang hinauf, viele waren als Treppen angelegt. Die Türen der meisten Häuser standen offen, zahlreiche Fensterscheiben waren zerstört. Die leeren Öffnungen gähnten schwarz und bedrohlich inmitten der weißen Fassaden. Hinter vielen schien die Finsternis zu etwas Festem geronnen zu sein, nicht einmal die Strahlen der Taschenlampen vermochten die Schatten im Inneren der Häuser völlig zu durchdringen.

Soweit sie sehen konnten, waren die Gebäude leer. Die wenigen Möbelstücke, die die Bewohner zurückgelassen hatten, waren zerfallen und von Spinnweben überzogen. Der Anblick erinnerte Kyra erneut an Nils’ Geschichte. Sie bekam eine Gänsehaut.

Sie stiegen einige Stufen hinauf und erreichten einen kleinen Platz, höchstens sechs Meter im Quadrat.

In seiner Mitte stand ein Widder mit mächtigen Hörnern und starrte sie bewegungslos an.

Alle vier schraken zusammen, als der Schein ihrer Taschenlampen auf das zottige Tier fiel. So wie es dastand, majestätisch und vollkommen reglos, hätte es der geheime Herrscher dieses Dorfes sein können, so als wäre dies ein Ort, an dem die Tiere die Macht ergriffen und alle Menschen vertrieben hatten.

Sekundenlang starrte der Widder sie mit glitzernden Augen an, dann drehte er sich gemächlich um und trabte davon, verschwand klappernd in der Dunkelheit einer Gassenmündung.

»Mir gefällt das alles nicht«, meinte Nils.

»Mir auch nicht«, pflichtete Lisa ihm bei. »Es ist so … so still.«

Tatsächlich, jetzt fiel es allen auf. In dem menschenleeren Ort herrschte vollkommene Stille. Nur wenn einer der vier sich bewegte, schien das Rascheln seiner Kleidung, das Tapsen seiner Schuhsohlen verzerrt von den Hauswänden widerzuhallen.

»Okay«, sagte Kyra, »gehen wir zurück.« Auch ihr war unwohl zu Mute.

»Warum?«, fragte Chris. »Lasst uns ein bisschen in den Häusern rumstöbern. Was soll denn schon passieren?«

»Stöber du doch in den Häusern rum«, gab Nils zurück. »Wir warten am Flugzeug auf dich.«

Lisa, die zwischen ihrem eigenen Wunsch, von hier zu verschwinden, und dem Drang, sich auf Chris’ Seite zu schlagen, hin- und hergerissen war, lenkte ein: »Wir können ja noch die paar Schritte bis zum höchsten Punkt des Dorfes gehen und dann umkehren.«

Kyra nickte. »Wer weiß, vielleicht sehen wir von dort oben irgendwas Interessantes.«

Chris schenkte Lisa ein Lächeln. Ein warmer Schauder raste durch ihren Körper. Dafür lohnte es sich zu bleiben – und wenn sie dem Teufel persönlich gegenübertreten musste.

Obwohl Nils weiterhin murrte, setzten sie ihren Aufstieg durch die schmalen Gassen fort. Immer wieder riss das Licht ihrer Lampen unerwartete Strukturen aus der Dunkelheit, die ihnen einen gehörigen Schrecken einjagten: eine verkümmerte Pflanze, die in einem Topf neben einer Haustür stand; ein Fahrradgestell, das ohne Räder auf der Seite lag; eine verästelte Antenne, die irgendwann von einem der Dächer in die Gasse hinabgestürzt war.

Endlich kamen sie an die höchste Stelle des Dorfes, einen kleinen, halbrunden Platz, der an ein Gebäude grenzte, das größer war als die meisten anderen. Offenbar eine Art Rathaus.

Jemand erwartete sie.

»Seid gegrüßt«, sagte eine sanfte Stimme aus dem Dunkel.

Vier Lichtstrahlen zuckten augenblicklich in die Richtung, aus der die Worte erklungen waren. Vier Lichtstrahlen badeten eine schlanke Gestalt in weißem Schein.

»Ich wusste, dass ihr kommen würdet«, sagte der junge Mann. Er trug einen bodenlangen schwarzen Mantel, der in weiten Falten von den Schultern ab auseinander fiel. Die Ärmel waren lang und wallend, nur die hellen Fingerspitzen schauten daraus hervor. Das Haar des Mannes fiel ihm weit über die Schultern und war ebenso schwarz wie sein Mantel, genauso schwarz wie die Nacht, die sie alle umgab.

Es war derselbe Mann, der sie vor dem Absturz bewahrt hatte. Der Mann, dem sie alle ihr Leben verdankten.

Und doch – in diesem Augenblick, an diesem gespenstischen Ort, flößte er ihnen einen gehörigen Schrecken ein.

Er schien sich seiner Wirkung durchaus bewusst zu sein. »Fürchtet mich nicht«, sagte er. Seine Stimme war immer noch leise und voller Sanftmut; sie passte nicht zu jemandem, der sich auf der Tragfläche eines dahinrasenden Flugzeugs tödliche Kämpfe mit seinesgleichen lieferte.

Kyra schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter. »Wer bist du?«

»Mein Name ist Azachiel«, gab er zurück und trat gemächlich zwei Schritte auf sie zu. Etwa vier Meter lagen jetzt noch zwischen ihm und den Freunden.

»Das ist aber nicht griechisch, oder?«, sagte Chris misstrauisch.

»Es ist hebräisch … oder, nein, nicht wirklich.« Azachiel lächelte, doch aus irgendeinem Grund wirkte es traurig. »Aber Hebräisch kommt der Sprache, aus der dieser Name stammt, wohl am nächsten.«

»Lebst du hier?«, wollte Kyra wissen.

»Nein. Nicht hier, nicht anderswo. Überall und nirgends.«

Die Freunde wechselten verstohlene Blicke.

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