Lisa atmete tief durch und fasste einen Entschluss.

Blitzschnell bückte sie sich, packte den Rucksack und trat mit dem nächsten Schritt hinaus auf die Planke über dem Abgrund.

Ein Aufschrei ertönte hinter ihrem Rücken, als erst Nils, dann auch die beiden anderen bemerkten, was sie tat. Aber Lisa hatte nur Augen für den schmalen Holzsteg, der sich zwischen ihr und der mörderischen Tiefe befand. Sie gab sich Mühe, nicht nach unten zu schauen, aber so ganz konnte sie es nicht verhindern.

Dort im Abgrund, viele Meter unter ihr, brach sich die schäumende Brandung am Fuß der Felsen. Rasiermesserscharfe Steinzacken reckten sich ihr entgegen, als warteten sie nur darauf, dass Lisa stürzte und sich an ihnen aufspießte.

»Lisa, sei ja vorsichtig!«, rief Chris hinter ihr, und auch Nils und Kyra brüllten irgendetwas. Aber die Worte der beiden gingen im Toben des Windes unter, und für Lisa zählte im Augenblick ohnehin nur die Sorge in Chris’ Stimme. Er hatte Angst um sie; also empfand er etwas für sie. Das war toll, und es machte ihr Mut.

Azachiel streckte eine Hand nach ihr aus, aber noch war sie viel zu weit von ihm entfernt. Sie hatte gerade einmal einen einzigen Schritt über die Planke gemacht. Mindestens fünf oder sechs weitere lagen noch vor ihr. Und selbst wenn sie lebend dort drüben ankam, war da immer noch der Rückweg.

Es sah alles ziemlich düster für sie aus. Zumal der Regen jetzt noch stärker wurde und fast waagerecht gegen die Felswand unter ihr peitschte. Auch die Blitze fielen Lisa mit einem Mal wieder ein – war es möglich, dass sie von einem getroffen wurde, während sie über den Abgrund balancierte?

Etwa das letzte Drittel der Planke lag im Schatten der Kirche. Der vordere Teil aber wurde von den grellen Sonnenstrahlen beschienen, die wie ein Bündel glühender Dolche durch die offene Wolkendecke fielen. Noch ein paar Schritte, dann befand sie sich im Schatten und konnte Azachiel den Rucksack vielleicht zuwerfen. Wenn sie dann abstürzte, würde er zumindest die anderen retten.

Plötzlich hatte sie Tränen in den Augen. Auf was hatten sie sich da nur wieder eingelassen?

»Lisa, pass auf dein Gleichgewicht auf!«, brüllte Chris ihr zu.

Als wäre sie darauf nicht selbst gekommen!

Der Rucksack mit dem Engelshaupt war schwer und drohte immer wieder, sie aus der Balance zu bringen. Aber am schlimmsten war tatsächlich der Wind. Die Böen rissen an ihr wie mit unsichtbaren Händen, Geisterklauen, die sich um ihre dünnen Beine und Arme klammerten und sie mal nach links, mal nach rechts zerrten.

Azachiel sagte nichts. Er stand einfach nur da wie auf einem Thron aus grauem Gestein und streckte ihr weiterhin die linke Hand entgegen. In der Rechten hielt er unverändert das Schwert, als rechne er jederzeit mit einem Angriff.

Plötzlich schrie Nils hinter ihrem Rücken:

»Da kommen sie!«

Vor Schreck geriet Lisa einen Moment lang aus dem Gleichgewicht. Sie taumelte, spürte das Gewicht des Rucksacks, als hätte es sich auf einen Schlag verzehnfacht, und schwankte instinktiv zur anderen Seite, um den Sog auszugleichen. Unter ihren Füßen ächzte das Brett. Zwei, drei Sekunden lang war sie überzeugt, dass es brechen würde. Erst das Brett und dann ihre Wirbelsäule, wenn sie unten auf den Klippen aufschlug.

Aber sie stürzte nicht. Irgendwie gelang es ihr, sich wieder zu fangen, und dann blieb sie erst einmal mehrere Atemzüge lang stehen und versuchte, innerlich einigermaßen zur Ruhe zu kommen. Das Brett schien sich unter ihren Füßen zu winden wie eine wild gewordene Anaconda, aber als Lisa hinsah, war es einfach nur eine harte, starre Planke.

Endlich brachte sie den Mut auf, ihren Blick für einen kurzen Moment zum Himmel zu wenden.

Und dort sah sie es.

Acht schwarze Punkte, die in einer spitzen Formation auf die Insel zuschwebten, ungehindert vom Sturm und den tobenden Elementen. Acht finstere Gestalten, die einmal die schönsten und herrlichsten Geschöpfe des ganzen Universums gewesen waren, und die jetzt nur noch Böses und Schändliches im Sinn hatten. Acht Gefallene Engel, die mit ihrem Meister Satanael zur dunklen Seite übergetreten waren, allmächtige Krieger der Hölle.

Auch Azachiel hatte sie längst entdeckt, doch sein Blick blieb auf Lisa gerichtet.

»Komm her.« Seine Stimme schnitt durch das Tosen der Winde wie eine Messerklinge. »Du musst dich beeilen. Sie werden bald hier sein.«

Lisa wollte nicken, aber sie hatte Angst, dass schon die kleinste unkontrollierte Bewegung sie erneut aus dem Gleichgewicht bringen könnte. Stattdessen setzte sie unendlich vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Sie hatte jetzt genau die Mitte der Planke erreicht.

Ein neues Geräusch wurde hinter ihrem Rücken laut. Diesmal keine Rufe, auch kein alarmiertes Gebrüll. Nein, es war das Blöken einer uralten Autohupe. Castels Jeep!

Aber nicht der Franzose saß am Steuer, sondern Professor Rabenson. Doktor Castel war nirgends zu sehen.

»Oh, mein Gott … Oh, liebe Güte … Oh, verflixt noch mal …«

Lisa hörte sein aufgeregtes Gestammel im Tosen des Sturmes, konnte sich aber nicht darum kümmern.

Sie machte noch einen zaghaften Schritt nach vorne.

Der Hauch eines süßlichen Geruchs drang an ihre Nase, ähnlich wie Vanille. Sie wusste nicht, ob sie ihn sich nur einbildete oder ob Azachiel den Duft verströmte. Doch je näher sie dem Engel nun kam, desto gelöster wurde sie, ja, desto leichter fiel es ihr, den tödlichen Abgrund unter ihren Füßen zu vergessen.

Kyras Vater rief Lisa von hinten etwas zu, aber die anderen fielen ihm gleich ins Wort. Irgendwer, wahrscheinlich seine Tochter, erklärte ihm, weshalb Lisa auf der gefährlichen Planke balancierte. Und als der Professor schließlich verstummte, war das ein untrügliches Zeichen dafür, dass auch er Raguels Trupp am Himmel entdeckt hatte.

Derweil verabschiedete sich Lisa von der Idee, den Rucksack zu Azachiel hinüberzuwerfen – dafür hätte sie Schwung holen müssen, und eine solche Bewegung erschien ihr eindeutig zu gefährlich.

Noch ein Schritt, und sie würde nah genug sein, um ihm das Haupt mit ausgestrecktem Arm hinüberzureichen.

Doch auch diese Idee war wenig Erfolg versprechend. Die Gefahr, dabei die Balance zu verlieren, war zu groß.

Sie konnte spüren, dass hinter ihrem Rücken etwas geschah, und sie fürchtete zu wissen, was es war. Dennoch wagte sie nicht, sich umzuschauen. Sie musste all ihre Konzentration auf die letzten Schritte bis zur Felsplattform lenken.

Während Lisa sich langsam ihrem Ziel näherte, wichen Kyra, die beiden Jungen und der Professor vom vordersten Rand der Klippe zurück – bis ihnen jäh klar wurde, dass es kein Entkommen mehr gab vor dem, was sich vor ihren Augen zu Boden senkte.

Acht Gestalten in schwarzen, flatternden Mänteln schwebten aus der Höhe herab. Ihre Füße berührten gleichzeitig den Felsboden und kamen zum Stehen.

Alle acht hatten verblüffende Ähnlichkeit mit Azachiel – langes, dunkles Haar, hagere Züge –, nur ihr Anführer, der an der Spitze der Formation stand, unterschied sich durch ein Detail von den anderen: Eine breite weiße Strähne teilte sein schwarzes Haar in der Mitte. Um seine schmalen Lippen lag ein verschlagener, bösartiger Zug.

Raguel lächelte.

»Fürchtet euch nicht«, sagte er, doch sein Tonfall klang, als hätte er ihnen gerade vorgeschlagen, sie mit Haut und Haaren aufzufressen.

Im selben Augenblick setzte Lisa ihren Fuß auf das Plateau.