Israel

»Staub!« Kyra schnaubte verächtlich. »Ich hasse Staub!«

»Seit wann bist du so empfindlich?« Ihr Vater leuchtete ihr mit der Taschenlampe ins Gesicht. »Ich hab dich zu Hause noch nie mit einem Staubtuch gesehen.«

»Eben«, entgegnete Kyra trotzig. »Außerdem – könnte das wohl daran liegen, dass du mich überhaupt noch nie zu Hause gesehen hast? Ich meine, wann warst du das letzte Mal in meinem Zimmer? Vor acht Jahren? Vor neun?«

Lisa knuffte Kyra mit dem Ellbogen in die Seite. Es reichte. Es war schlimm genug, dass sie gebückt durch die unterirdischen Stollen dieses Tempels klettern mussten. Ein Streit zwischen Kyra und ihrem Vater, Professor Rabenson, machte die Situation nicht gerade angenehmer.

Auch wenn, zugegeben, bei ihnen allen die Nerven blank lagen.

Die beiden Jungen redeten schon seit einer halben Stunde nicht mehr miteinander. Chris war Nils versehentlich in die Fersen getreten, und Nils war daraufhin gestolpert und mit dem Kopf gegen irgendein vorchristliches Relief gekracht. Jetzt hatte er eine Beule auf der Stirn, so groß wie eine reife Pflaume. Und ungefähr von der gleichen Farbe.

Dabei hatte ihr Ausflug ins Innere des Tell ed-Duwer recht viel versprechend begonnen. Der Berg im Süden Israels beherbergte die Ruinen der uralten Grenzfestung Lachis. Im Jahr 587 vor Christus war sie von den Horden des babylonischen Herrschers Nebukadnezar zerstört worden, als dieser das Land unter seine Macht zwang. Seither lagen ihre Trümmer unter dem Tell ed-Duwer begraben – so wie dieser Tempel.

»Was war das für ein Gott, den die Menschen hier verehrt haben?«, fragte Lisa, um die anderen von ihren übellaunigen Gedanken abzulenken.

»Man weiß es nicht genau«, erwiderte Professor Rabenson. »Es gab damals eine ganze Menge geflügelter Gottheiten. Aber so wie es aussieht, war dieser Tempel keinem der bekannten Götter geweiht. Die Details sind … verwirrend.«

Chris und Nils atmeten gleichzeitig auf, als sich herausstellte, dass der Professor darauf verzichtete, wissenschaftliche Einzelheiten aufzuzählen. Beide bemerkten die Erleichterung des anderen und warfen sich ein schiefes Lächeln zu. Lisa sah es und war zufrieden. Möglich, dass die beiden darüber endlich ihren dummen Streit begruben.

Es war schon merkwürdig. Normalerweise waren die Reisen der vier Freunde an der Seite des Professors stets tolle Abenteuerurlaube. Dunkle Höhlengänge, unterirdische Katakomben und verfallene Ruinen konnten längst keinen von ihnen mehr schrecken, spätestens seit sie Träger der Sieben Siegel waren. Seither hatten sie Schlimmeres gesehen als nur ein paar unheimliche Trümmer.

Und doch hatte es mit den Ruinen des alten Lachis etwas ganz Besonderes auf sich. Es waren nicht nur die Enge der tiefen Schächte, die trockene, heiße Luft und die wogenden Staubwolken, die ihnen den Spaß an dieser Expedition nahmen. Nein, es schien fast, als läge eine ganz besondere Stimmung über diesem Ort, eine bedrückende Atmosphäre, die ihrer aller Laune auf den Tiefpunkt brachte. Sogar Professor Rabenson schien darunter zu leiden – und es gehörte schon einiges dazu, einem Wissenschaftler von seinem Format eine solche Entdeckungsreise madig zu machen. Selbst er war während der letzten zwei Stunden – seit ihrem Aufbruch von der Oberfläche – mürrisch, schließlich sogar streitlustig geworden.

Jeder von ihnen war mit einer Taschenlampe ausgerüstet und trug einen Helm aus rotem Plastik. Zwar hatte der Professor ihnen versichert, dass keinerlei Einsturzgefahr bestünde, doch beharrte er darauf, auf Nummer sicher zu gehen. Dass Nils es geschafft hatte, sich den Kopf genau unterhalb der Helmkante zu stoßen, war Pech – und dass es gerade ihn getroffen hatte, war für ihn doppelt ärgerlich. Aus unerfindlichen Gründen war es meistens Nils, den es erwischte. Lisa konnte seine Wut ganz gut nachvollziehen; es war schließlich nicht besonders mitfühlend von Chris gewesen, dass er statt einer Entschuldigung gesagt hatte: »Das muss wohl an deinem Gesicht liegen.«

In Wahrheit war jedoch allein Lachis der Grund für ihre miese Stimmung, davon war Lisa mittlerweile überzeugt. Ihr schien es, als läge ein Fluch über der unterirdischen Ruinenstadt. Kein Hexenspuk, keine tödlichen Fallen wie in den ägyptischen Pyramiden – der Fluch von Lachis war offenbar der Fluch der Schlechten Laune. Und der war schlimm genug, wenn man es stundenlang auf engstem Raum miteinander aushalten musste.

Keine tödlichen Fallen … Lisa hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als plötzlich ein lautes Knirschen ertönte. Professor Rabenson riss die Hand hoch und blieb wie angewurzelt stehen.

»Wartet!«

Die Freunde verharrten. Das Knirschen war noch immer zu hören, wurde aber leiser, so als entfernte es sich allmählich. Keiner wusste, ob das wirklich ein Grund zum Aufatmen war.

»Sind noch andere Forschertrupps hier unten?«, fragte Nils im Flüsterton.

»Keine, von denen ich wüsste«, gab der Professor ebenso leise zurück.

Kyra runzelte die Stirn. »Heißt das nun ›Nein‹ oder ›Ich weiß nicht‹?«

Ihr Vater zuckte die Schultern. »Offiziell zumindest dürfte niemand hier sein.«

»Grabräuber?«, warf Chris ein.

»Keine Chance. Das Gelände wird vom israelischen Militär bewacht, das habt ihr doch gesehen.«

Tatsächlich erinnerten sich alle nur zu gut an die Soldaten, die überall rund um den Berg patrouillierten. Jeder der Männer trug eine feuerbereite Maschinenpistole. Lisa hatte bei ihrem Anblick ein heftiges Kribbeln im Bauch verspürt, und sie wusste, dass es den drei anderen genauso ergangen war. Die unmittelbare Nähe solcher Waffen war weitaus beängstigender, als es der spannendste Film im Fernsehen vermitteln konnte. Plötzlich war – egal wie irreal – die Furcht da gewesen, selbst in einen mörderischen Kugelhagel zu geraten.

Doch der Professor verfügte über alle nötigen Papiere. Er war autorisiert, jeden Quadratzentimeter der Ruinen auf den Kopf zu stellen. Sogar um die lästigen Leibesvisitationen, die andere Forscher über sich ergehen lassen mussten, waren sie herumgekommen. Der Ruf des Professors war aufgrund seiner zahllosen Buchveröffentlichungen tadellos, auch wenn die meisten Themen seiner Werke – mysteriöse Phänomene, Geistererscheinungen und immer wieder die leidigen außerirdischen Besucher – bei vielen seiner Kollegen Naserümpfen verursachten.

Das Knirschen verstummte. Beinahe zu abrupt, als dass es eine natürliche Ursache gehabt haben könnte.

»Es hat aufgehört«, flüsterte Chris.

»Ach?«, knurrte Kyra kratzbürstig.

Lisa funkelte sie böse an. »Hey, reiß dich zusammen. Wir können nichts dafür, dass du mies drauf bist.«

Kyra schnaubte nur, aber Lisa sah ihr an, dass es ihr Leid tat. Kyra hatte manchmal eine etwas ruppige Art, ihre drei Freunde wussten das. Und auch ihr Vater, der sie nur in den Ferien zu sehen bekam, war mittlerweile dahinter gekommen, dass mit seinem Töchterchen nicht immer gut Kirschen essen war.

Professor Rabenson blickte argwöhnisch zur Decke. »Ich möchte zu gern wissen, was –«

Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn plötzlich ertönte das Knirschen erneut – und diesmal war es ganz nah. Unter ihnen.

»Lauft!«, schrie der Professor, und alle stürmten schlagartig vorwärts.

Hinter Nils brach auf einmal der Fußboden weg. Wo sie eben noch gestanden hatten, schoss eine Staubwolke empor, wallte gegen die Decke und breitete sich über ihren Köpfen aus wie der Schirm eines Riesenpilzes. Hustend und keuchend blieben sie stehen, aus Angst, blindlings in die nächste Falle zu laufen.

Nachdem sich die Schmutzschwaden herabgesenkt hatten und sie wieder einigermaßen sehen konnten, erkannten sie, dass hinter ihnen ein Abgrund aufgeklafft war. Es war ein Spalt, der von einer Seite des Korridors zur anderen reichte, nicht einmal besonders breit – zwei, höchstens zweieinhalb Meter –, aber so tief, dass der Schein ihrer Taschenlampen den Boden nicht erreichte.

»Na, großartig«, bemerkte Chris mit tonloser Stimme. Er war der Erste, der überhaupt ein Wort herausbekam. Die Blässe seines Gesichts rührte nicht nur von der hellen Staubschicht, die sich über ihrer aller Haut und Kleidung gelegt hatte.

Kyra starrte ihren Vater an, eher überrascht als wütend. »Du hast doch gesagt, es ist völlig ungefährlich.«

»Stimmt«, pflichtete Nils ihr krächzend bei, »das haben Sie gesagt.«

Der Professor wirkte verstört. Obwohl er ein beleibter, gemütlich aussehender Mann war, schien es mit einem Mal, als hätte er innerhalb weniger Sekunden zehn Kilo abgenommen. Seine Wangen waren ganz eingefallen vor Schreck.

»Ein kleines … Missgeschick«, stammelte er verwirrt.

»Missgeschick?« Lisa verdrehte die Augen. »Klar, so kann man’s auch nennen.«

Kyras Vater schaute von einem zum anderen, aber ihnen allen war, als blicke er eigentlich durch sie hindurch. »Tut mir Leid«, meinte er betroffen. »Das … das hätte nicht passieren dürfen.«

Kyra seufzte. »Ist ja noch mal gut gegangen.« Offenbar hatte der Vorfall sie aus ihrer üblen Laune gerissen. Die Erleichterung, dass sie alle unversehrt waren, stimmte sie versöhnlich.

»Wie konnte das … ich meine, wie konnte es dazu kommen?«, brachte Nils mühsam hervor. »Ich dachte, hier unten laufen ständig irgendwelche Wissenschaftler herum.«

»Ja und nein«, erwiderte der Professor. »Wir sind tiefer als die meisten anderen. Dies ist offiziell ein Sperrbezirk. Aber ich hab eine Genehmigung bekommen. Der zuständige Offizier und ich haben eine Art … na ja, ein Abkommen getroffen.«

»Du hast ihn bestochen«, stellte Kyra vorwurfsvoll fest.

Der Professor zuckte die Achseln. »Das gehört in meinem Job nun mal dazu.« Er wischte sich Schweiß und Staub von der Stirn und fuhr fort: »Trotzdem sind wir nicht die Ersten, die hier runterkommen. Während der letzten Jahrzehnte gab es über zwei Dutzend Expeditionen, die in die unteren Ebenen von Lachis vorgedrungen sind.«

»Alle mit ähnlichen Sondergenehmigungen, nehme ich an«, sagte Lisa.

Kyras Vater nickte. Er zog sich den Schlapphut vom Kopf und rieb mit dem Ärmel über seine Glatze. Sein Kopf war vollkommen kahl und glänzte im Licht der Taschenlampen wie die Kristallkugel einer Wahrsagerin.

Chris betastete vorsichtig die Wände rechts und links des Korridors. »Warum sind dann gerade wir diejenigen, die die Falle aktivieren?«

»Und wie viele gibt es noch davon?«, kam es von Nils.

»Ich weiß es nicht«, gestand der Professor. »Allerdings habe ich eine … hm, eine Ahnung.«

Kyra hob eine Augenbraue. »So?«

Ihr Vater legte die Taschenlampe beiseite, nahm seinen Rucksack vom Rücken und ließ ihn mit einem schweren Plumps auf den Boden fallen.

»Was ist denn da drin?«, fragte Kyra. »Pflastersteine?«

»So ähnlich.« Der Professor öffnete die Schnallen, griff mit beiden Händen hinein und zog etwas hervor. Auf den ersten Blick sah es aus wie der Deckel eines Kochtopfes – mit dem Unterschied, dass das Ding aus Stein war. Aus dunklem, verwittertem Granit.

»Was soll das sein?«, fragte Nils. »So ’ne Art Hut?«

Der mysteriöse Gegenstand war rund, eine Scheibe, auf deren einer Seite ein bogenförmiger Griff angebracht war. In die andere Seite war ein zerfurchtes Relief eingelassen, irgendein verschlungenes Zeichen.

»Dies hier«, sagte der Professor ehrfürchtig, »ist der legendäre Schlüssel von Lachis.«

Nils verzog das Gesicht. »Dann haben die damals wohl für ihren Schlüsselbund einen Packesel gebraucht.«

»Das ist nicht witzig«, fuhr ihn der Professor an.

Nils verzog das Gesicht. »’tschuldigung.«

»Der Schlüssel von Lachis ist eines der sagenumwobensten Relikte aus der Zeit vor Christi Geburt.« Professor Rabenson drehte die Unterseite nach oben, sodass die vier Freunde das Hieroglyphen-Relief ausgiebig bestaunen konnten.

»Sieht aus wie die arabischen Beschriftungen auf dem Flughafen-Klo«, bemerkte Chris mit verstohlenem Grinsen.

Der Professor schoss einen strafenden Blick in seine Richtung ab, ging aber nicht darauf ein. Stattdessen sagte er: »Es hat mich Jahre gekostet, den Schlüssel ausfindig zu machen. Schließlich fand ich ihn bei einem Bauern im Sudan – er beschwerte damit die Palmwedel, die er zum Trocknen vor seiner Hütte ausgelegt hatte.«

»Das hat Herzblut gekostet, was?«, meinte Kyra verschmitzt.

»Allerdings«, entgegnete ihr Vater mit knappem Lächeln. »Und eine hübsche Stange Geld.«

»Eines deiner … Abkommen.«

»Dieser Bauer im Sudan mochte in einer Holzhütte leben«, seufzte der Professor, »aber er wusste verflixt genau, wie man anderen die Scheine aus der Tasche zieht.«

Kyra grinste schief. »Zum Glück hat’s keinen Armen getroffen.« Niemand konnte genau sagen, wie viel der Professor mit seinen Büchern tatsächlich verdiente, wahrscheinlich nicht einmal er selbst. Fest stand, dass sie in dutzende von Sprachen übersetzt wurden. In den meisten Ländern stürmten sie die Bestsellerlisten. Allein deshalb konnte der Professor es sich leisten, nicht nur Kyra während der Ferien mit auf Reisen zu nehmen, sondern auch ihre drei Freunde – und für alle die Rechnungen zu begleichen.

Kyra glaubte, dass er das als Wiedergutmachung tat, weil er sich während der übrigen Zeit nicht um sie kümmern konnte. Sie lebte bei ihrer Tante Kassandra in Giebelstein, und obwohl sie überhaupt nicht mehr von dort fortwollte, trug sie es ihrem Vater doch nach, dass er sich so selten blicken ließ. Ihre Mutter war gestorben, als sie noch ein kleines Kind gewesen war. Kyra konnte sich nicht einmal mehr an ihr Gesicht erinnern.

»Was hat der Schlüssel von Lachis mit der Falle zu tun?«, fragte Chris und deutete auf den tödlichen Abgrund hinter ihnen.

»Wie ihr wisst, erwarte ich, hier unten etwas ganz Bestimmtes zu finden«, erwiderte der Professor nebulös. Er hatte den Kindern bislang nicht erzählt, was genau er eigentlich suchte.

»Ich glaube, dass sich der … nennen wir ihn einmal Gegenstand … dass sich also dieser Gegenstand in einer verborgenen Kammer befindet. Einer Kammer, die sich nur mithilfe des Schlüssels öffnen lässt. Oben am Eingang ist ein negativer Abdruck des Schlüssels in die Wand eingelassen – ich hab die Scheibe vorhin dort unauffällig hineingeschoben und einmal um sich selbst gedreht. Ich hatte schon befürchtet, ich hätte keinen Erfolg gehabt. Doch jetzt weiß ich, dass der Schlüssel irgendetwas aktiviert hat, einen geheimen Mechanismus oder so etwas wie … nun, wie Zauberei. Lachis weiß, dass wir kommen. Der Schlüssel hat nicht nur irgendwo im Berg die Tür zur Geheimkammer geöffnet – er hat scheinbar auch die Fallen überall in Gang gesetzt.«

»Klasse«, keuchte Nils, hustete lautstark und stützte sich an der Wand ab.

»Vielleicht sollten wir umkehren«, schlug Lisa leise vor.

»Umkehren?« Der Professor starrte sie entgeistert an. »So kurz vor dem Ziel? Kommt gar nicht in Frage.«

Kyra und Lisa wechselten einen Blick und verdrehten die Augen.

Chris schaute noch einmal besorgt zum Abgrund hinüber, dann hob er die Schultern. »Ich komm mir vor wie Indiana Jones für Arme.«

»Na ja, wenigstens gibt es keine Schlangen hier im Berg«, entgegnete der Professor verschmitzt. »Das zumindest ist doch ein Anlass zur Freude, oder?«

Die Freunde verzichteten auf eine Antwort.

Der Abstieg ging weiter.

Der Professor übernahm die Führung – sehr langsam und vorsichtig, aus Furcht vor weiteren Fallen –, und studierte dabei einen Plan der unterirdischen Gänge und Stollen. Bald schon kamen sie an eine Kreuzung, bei deren Anblick sich sein Gesicht merklich aufhellte.

»Wir müssten gleich da sein«, sagte er aufgeregt.

Doch seine Vorfreude mochte nicht recht auf die vier Freunde überspringen. Ihr Erlebnis mit der Falle hatte ihnen das Interesse an Lachis gründlich verdorben.

Wenige Minuten später führte der Professor sie mithilfe der Karte in einen Gang, der einmal eine Sackgasse gewesen sein musste. Der aufgewühlte Staub und die zu Boden gerieselten Steinkrumen verrieten, dass sich die Öffnung in der Rückwand gerade erst aufgetan hatte.

»Die Tür zur geheimen Tempelkammer«, entfuhr es dem Professor atemlos. »Das Allerheiligste von Lachis!«

Kyra und ihre Freunde wechselten verstohlene Blicke. Sie alle spürten nun gleichfalls ein wenig von der Spannung, die Kyras Vater völlig in ihren Bann gezogen hatte. Doch obwohl sie neugierig waren, auf was es der Professor diesmal abgesehen hatte, fürchteten sie immer noch weitere Fallen.

Die gebündelten Strahlen ihrer Taschenlampen fraßen sich in das Dunkel jenseits der Öffnung. Der Raum war größer, als sie erwartet hatten, eher eine Halle als eine Kammer. Boden und Decke waren mit eingestaubten Öffnungen übersät, runden, faustgroßen Löchern. Es gehörte nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, was beim Betreten der Halle daraus hervorschießen mochte.

»Vergiftete Stahlspitzen«, murmelte der Professor beim Anblick der Löcher. »Oder Schlimmeres.«

»Ähem«, machte Nils vorsichtig, »was zum Beispiel könnte das sein … dieses Schlimmere?«

»Giftspinnen«, schlug Chris vor. »Tausende.«

Lisa schenkte ihm einen unsicheren Blick, während Kyra kreideweiß wurde. Sie verabscheute Spinnen.

Der Professor schaute sich um. In der Wand neben dem Durchgang entdeckte er eine kreisrunde Vertiefung, so groß wie der steinerne Schlüssel, den er immer noch in einer Hand hielt. Ein Lächeln huschte über seine Züge.

Er hob den Schlüssel und schob ihn in die Öffnung. Er passte haargenau und ließ sich mit ein wenig Anstrengung einmal herumdrehen. Erneut ertönte aus den Tiefen des Gesteins das durchdringende Knirschen. Kyra ballte die Fäuste in Erwartung einer neuen Katastrophe.

Doch nichts geschah. Der Professor hatte die Fallen entschärft.

Wenigstens hofften sie das alle.

»Gut«, sagte er und atmete tief durch. »Ich gehe zuerst.«

Ehe jemand ihn aufhalten konnte, hatte er sich schon auf den Weg gemacht. Vorsichtig näherte er sich den ersten Öffnungen im Boden. Sie lagen so eng beieinander, dass es unmöglich gewesen wäre, zwischen ihnen hindurchzubalancieren.

Die vier Freunde starrten gebannt auf den breiten Rücken des Professors. Schweiß perlte unter seinem Schlapphut hervor und wurde vom Kragen seiner Khaki-Jacke aufgesogen.

Wie in Zeitlupe passierte er die erste Reihe der Öffnungen.

Nichts geschah. Keine Stahldornen schossen hervor, kein tödliches Gas zischte aus den Löchern. Auch unter der Felsendecke rührte sich nichts.

Der Professor ging noch zwei, drei Schritte weiter, dann blieb er stehen und drehte sich um.

»Okay«, sagte er, »ich denke, es ist sicher.« Ein erleichtertes Grinsen erhellte sein Gesicht.

Chris wollte gleich vorspringen und ihm folgen, aber der Professor hob abrupt die Hand.

»Nein!«, rief er. »Ihr bleibt da.«

»Aber das ist unfair«, gab Kyra erbost zurück. »Erst schleppst du uns hier runter, und dann dürfen wir nicht bis zum Ende mitgehen.«

Nils stupste sie an. »Ich finde, dein Vater hat Recht«, meinte er kleinlaut. »Lass uns warten.«

Lisa zog es vor, nichts dazu zu sagen. Sie hatte weder große Lust, dem Professor ins Dunkel der geheimen Halle zu folgen, noch fühlte sie sich wohl dabei, hier am Eingang tatenlos herumzustehen.

»Ich gehe allein und damit Schluss!«, rief Kyras Vater ungewohnt bestimmt. Und damit machte er sich wieder auf den Weg und ließ den Strahl seiner Taschenlampe durch die Finsternis tasten.

Chris seufzte und trat wieder einen Schritt zurück zu den anderen. »So was Blödes«, knurrte er mürrisch.

Das Licht des Professors riss plötzlich etwas aus der Dunkelheit. Ein Gesicht.

Eine Dämonenfratze!

Lisa stieß scharf die Luft aus, als sie die furchtbare Grimasse in der Schwärze schweben sah wie eine Geistererscheinung. Doch auch sie bemerkte sofort, dass das schreckliche Gesicht nicht lebte. Es war der Kopf eines steinernen Götzen. Hinter seinen Schultern stachen zwei mächtige Flügel aus Granit empor.

Der Professor näherte sich der Statue und beugte sich über etwas, das sich davor am Boden befand. Die Freunde konnten nicht erkennen, was es war.

»Großer Gott!« Das Flüstern des Professors war selbst über die Entfernung hinweg deutlich zu vernehmen.

»Was ist da?«, rief Kyra.

»Leuchtet her«, verlangte er, ohne auf die Frage zu antworten.

Alle Lichtstrahlen bohrten sich durch die Dunkelheit zum Steingötzen. An seinem Fuß lag etwas, das schwach im Schein der Lampe schimmerte. Das Ding sah aus wie ein Ei. Größer, viel größer als ein gewöhnliches Hühnerei – und doch war es weiß und glatt und oval.

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