Lisa schaute auf ihren Unterarm, aber die Siegel blieben immer noch unsichtbar.

»Okay«, sagte Chris entschlossen, »wir wissen jetzt, wie du heißt. Wir wissen auch, dass du uns da oben geholfen hast. Aber wir –«

»Ihr wollt wissen, weshalb ich hier bin«, unterbrach ihn Azachiel. »Und was mir an euch liegt, nicht wahr?«

»Ja«, erwiderte Kyra.

Bevor der Fremde etwas sagen konnte, murmelte Lisa gedankenverloren: »Azachiel … Klingt wie irgendwas aus der Bibel.«

»Leider nicht.« Azachiel grinste. »Ich hab den ganzen Wälzer gleich zweimal durchgelesen, aber meinen Namen haben sie verschwiegen.«

Er hob die Schultern. »Aber ich schätze, es gibt Schlimmeres.«

Sie verstanden noch immer kein Wort von dem, was er da redete. Weshalb, zum Teufel, hätte sein Name in der Bibel stehen sollen? Lisa spürte, dass ihre Knie weich wurden, als sie darüber nachdachte, was seine Worte bedeuten mochten.

»Ich bin ein Cherub«, sagte Azachiel. »Ein Engel des Herrn. Oder besser: Ich war einer, bis er mich aus seinen Reihen verstieß.«

Schweigen. Niemand sprach ein Wort.

Sie waren die Träger der Sieben Siegel. Sie wussten mehr über das Wesen des Übernatürlichen als die meisten anderen Menschen. Und sie glaubten daran, ob sie wollten oder nicht.

Aber ein Engel?

Kyra räusperte sich. »Du willst uns allen Ernstes erzählen, du bist einer der Gefallenen Engel?«

»Du kennst unsere Geschichte?«, fragte Azachiel, und wieder klang er niedergeschlagen, gefangen in endloser Trauer.

Kyra zuckte die Achseln und wiederholte alles, was sie irgendwann einmal im Religionsunterricht gehört hatte. »Es heißt, dass Gott zu Anbeginn der Zeit einige seiner Engel aus dem Himmel verstieß, weil sie gesündigt hatten. Sie fielen zur Erde und wurden zu Dämonen. Einer von ihnen, Satanael, scharte die anderen um sich und schwang sich auf zu ihrem Herrn. Auf diese Weise entstanden die Hölle und der Teufel.«

Azachiel strich sich eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn, eine ziemlich eitle Geste für jemanden, der von sich behauptete, ein leibhaftiger Engel zu sein.

»Es war so und doch ganz anders«, erklärte er. »Wir Engel waren die ersten Geschöpfe, die der Herr erschuf. Wir alle waren ihm treu ergeben. Dann, eines Tages, sandte er zweihundert von uns auf die Erde herab, um in seinem Auftrag Gutes zu tun. Hier lernten wir die Wege der Menschen kennen, ihre Schönheit, ihre Tatkraft, ihre … Gefühle. Wir erfuhren Liebe und Glück und andere Dinge, die uns vorher fremd gewesen waren. Wir taten uns mit euren Frauen zusammen und kamen auf den Geschmack der Sünde. Darüber zürnte uns der Herr und verstieß uns von seiner Seite. Mehr noch, er sandte seinen Erzengel Michael an der Spitze der himmlischen Heerscharen aus, um uns zu vernichten. Es kam zu einem Krieg, wie ihn die Welt weder vorher noch nachher gesehen hat. In Schlachten, die zu furchtbar waren, als dass ich sie euch beschreiben könnte, wurden wir schließlich bezwungen. Jene von uns, die am Leben blieben, wurden dazu verdammt, auf ewig auf der Erde zu wandeln, wie Menschen, und doch auf immer durch unsere Natur von euch getrennt. Satanael war unser Führer im Krieg gegen Michaels Scharen, und er blieb es auch, nachdem die letzte Schlacht geschlagen war – wenigstens für die meisten von uns. Satanael wurde zum Herrn der Hölle, dem Urvater alles Bösen, und viele von uns wurden zu seinen Dämonen. Ich und ein paar andere aber sagten uns von ihm los und wandelten fortan allein über die Welt, einsam und verloren, gejagt von den Heerscharen des Himmels ebenso wie von Satanaels höllischen Horden.«

Die vier Freunde brachten eine Weile lang kein Wort heraus. Falls er die Wahrheit sagte, falls Azachiel wirklich ein Gefallener Engel war, dann war er mächtiger als jedes andere Wesen, mit dem sie es bisher zu tun gehabt hatten.

Mächtiger als der schreckliche Mann im Mond, mächtiger auch als der Storchendämon, der sie durch den Kerkerhof gejagt hatte.

Azachiel war ein Engel – einen Cherub hatte er sich genannt –, und er war vielleicht der Schlüssel zu allen Türen, die sich seit dem ersten Erscheinen der Sieben Siegel vor ihnen abgezeichnet hatten. Wenn es nur gelänge, ihn als Verbündeten zu gewinnen …

Lisa musterte Azachiels schmale, hellhäutige Züge. »Die beiden anderen, oben auf dem Flugzeug –«

»Waren Knechte Satanaels«, führte Azachiel den Satz zu Ende. »Ehemalige Engel. Niedere Soldaten, die keine Chance gegen mich hatten. Aber es gibt andere, mächtigere als sie. Uriel etwa, den einstigen Sühneengel. Oder Raguel, Uriels obersten Heerführer. Und sie werden herkommen, auf diese Insel.«

»Sie wollen dieses Ding aus Lachis, nicht wahr?«, sagte Chris.

Azachiel nickte. »Das Haupt von Lachis ist der Schädel einer meiner Brüder, gefallen in jenem Krieg, der unsere Vertreibung aus Gottes Reich besiegelte. Die ersten Menschen fanden ihn, als sie über die brennenden Schlachtfelder streunten. Sie waren auf der Suche nach etwas, das sie uns gleich machen würde. Diese Narren! Alles, was sie fanden, war dieser eine Schädel. Er wurde nach Lachis gebracht und dort Jahrtausende aufbewahrt, denn da war er sicher vor Satanaels Zugriff. Seine Kreaturen hätten die magischen Schwellen niemals überschreiten können. Aber jetzt ist das Haupt nicht länger in Lachis, sondern hier, auf dieser Insel. Satanael hat Uriel beauftragt, es zu ihm zu bringen, und Uriel hat Raguel und seine Kämpfer ausgesandt. Sie werden bald hier sein.«

»Was ist so besonders an diesem Schädel?«, wollte Kyra wissen und fügte schnell hinzu: »Von seiner Herkunft einmal abgesehen.«

»Der Schädel eines Engels hat Macht. Er kann zerstören, was gut war und nun böse ist.« Azachiel schien diese rätselhafte Kraft nicht näher beschreiben zu wollen, und die Freunde fragten nicht weiter danach. Die Angst überwog ihre Neugier.

»Wir könnten ihnen den Schädel einfach geben«, schlug Nils vor.

»Und Satanael zu noch größerer Macht verhelfen?«, fuhr Azachiel ihn an. »Ist es wirklich das, was ihr wollt?«

»Er wird uns so oder so töten«, sagte Chris mit bleichem Gesicht.

»Raguel wird weit mehr tun als euch töten. Er wird euch vor Uriels Strafgericht führen, vor den Sühneengel selbst. Und die Sühne, die er euch auferlegen wird, wird viel furchtbarer sein als der Tod.«

»Warum hilfst du uns?«, fragte Kyra.

Azachiel lächelte plötzlich, ein vages, mysteriöses Lächeln, das ihnen kalte Schauder über die Rücken jagte. »Keine Gründe für euch. Keine Hoffnung für mich. Ich helfe. Das ist alles.«

Damit drehte er sich um und ging.

Augenblicke später löste sich sein Umriss in flatternde Nachtfalter auf, die um ihre Köpfe schwirrten und als wabernder Schwarm in den Nachthimmel stiegen.