Von der Außenwelt abgeschnitten

Es war eine Bruchlandung, daran konnte kein Zweifel bestehen; und dennoch verlief sie einigermaßen glimpflich.

Der Schaden am Propeller war größer, als es den Anschein gehabt hatte, und auch die Hydrauliksysteme waren beschädigt. Dass der Pilot es trotzdem fertig brachte, die Menschen an Bord unverletzt auf festen Boden zu bringen, grenzte an ein Wunder. Nach den ersten Sekunden bangen Schweigens dankten seine Passagiere es ihm mit begeistertem Jubel.

Eilig wurde eine der Ausstiegsluken geöffnet. Draußen war es dunkel, und falls irgendwer erwartet hatte, Krankenwagen mit flirrenden Signallichtern oder auch nur Flugplatzpersonal zu sehen, so hatte er sich getäuscht.

Die Landebahn war leer. Niemand erwartete sie, niemand kam ihnen zur Hilfe.

Da von außen keine Treppe herangerollt wurde, musste aus der Kabine eine behelfsmäßige Leiter ausgefahren werden, damit die Passagiere die Maschine verlassen konnten. Der Höhenunterschied zwischen Luke und Boden war zu groß, um einfach hinabzuspringen.

Schließlich aber standen alle wohlbehalten auf der sandigen Piste. Die Japaner redeten in englischer Sprache auf den Piloten ein, während der Professor sich zu Kyra und ihren Freunden gesellte.

»Es besteht keine Explosionsgefahr«, erklärte er mit nervösem Lächeln. »Sagt zumindest der Kapitän. Und nachdem er uns heil von dort oben heruntergebracht hat, können wir ihm wohl glauben, schätze ich.«

»Hat er Hilfe gerufen?«, fragte Nils.

Der Professor schüttelte den Kopf. »Die Elektronik ist kurz vor der Landung ausgefallen. Nur die Notaggregate haben noch funktioniert. Für das Funkgerät war nicht mehr genügend Saft da.« Als er die besorgten Gesichter der Freunde sah, fügte er hastig hinzu: »Natürlich hat er schon während der Turbulenzen ein SOS losgeschickt, aber er ist sich nicht sicher, ob es irgendwer aufgeschnappt hat. Rückmeldungen gab es jedenfalls keine.«

Kyra schaute sich seufzend um. »Dann sitzen wir wohl fest, oder?«

Der Anblick des verlassenen Flugplatzes war Antwort genug. Es gab neben ihrer eigenen keine weiteren Maschinen, geschweige denn einen Tower. Das einzige Gebäude, das sie in einiger Entfernung erkennen konnte, war eine Wellblechhütte. Hinter dem winzigen Fenster brannte kein Licht.

Rechts und links wurde die Piste von kargem Felsboden begrenzt, während am Horizont das nächtliche Mittelmeer im sanften Mondlicht schimmerte. Unter anderen Bedingungen hätte dies eine idyllische Aussicht sein können; jetzt aber vermittelte sie den Eindruck, als wären die zwölf Gestrandeten die einzigen Menschen auf dem ganzen Planeten.

»Willkommen am Ende der Welt«, kommentierte Nils.

Der Professor klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter, dann machte er sich allein auf den Weg zu der Blechbaracke. Wenig später löste sich der Pilot aus dem Pulk der Japaner und folgte ihm. Die beiden Männer hofften wohl, in der Hütte ein intaktes Funkgerät zu finden.

Lisa starrte zum dunklen Himmel empor. Sie dachte an den geheimnisvollen Fremden, der ihr durch das Fenster zugelächelt hatte – nachdem er ihnen allen das Leben gerettet hatte.

»Glaubst du, er beobachtet uns?«, fragte Kyra sie leise von der Seite. Auch sie blickte hinauf in die Unendlichkeit.

»Bestimmt«, erwiderte Lisa überzeugt. »Nach allem, was er getan hat, wird er sich vergewissern wollen, dass wir heil hier unten angekommen sind.«

Chris legte die Stirn in Falten. »Vielleicht ging es ihm ja überhaupt nicht um uns.«

Die anderen starrten ihn erstaunt an.

»Du denkst, er wollte das Ei?«, fragte Nils.

»Dieses … Ei hat ausgesehen wie der Schädel von dem einen Kerl«, gab Chris zurück. »Auf jeden Fall gibt es eine Verbindung zwischen dem Angriff und dem Fund deines Vaters, Kyra.«

Sie stimmte ihm zu. »Er wird uns einiges erklären müssen.«

»Bisher hat er kaum ein Wort über das Ding verloren«, meinte Nils mürrisch. »Ich denke nicht, dass er es sich anders überlegt, wenn wir ihm erzählen, draußen auf der Tragfläche hätten sich ein paar Typen darum geprügelt.«

»Meinst du, er wird uns nicht glauben?«, fragte Lisa.

Ihr Bruder nickte.

Kyra aber widersprach. »Mein Vater weiß, dass meine Mutter uns die Sieben Siegel vererbt hat. Und er weiß, was das bedeutet.«

Nils zeigte ihr seinen leeren Unterarm. »Aber die Siegel sind unsichtbar geblieben. Wir haben keine Beweise für das, was da oben passiert ist.«

»Er ist mein Vater … er wird keine Beweise brauchen, um uns zu glauben.«

»Immerhin schreibt er Bücher über Ufos und so ’n Zeug«, sagte auch Lisa.

»Habt ihr mal überlegt, warum die Siegel eigentlich nicht erschienen sind?«, warf Chris ein. »Ich meine, immerhin hätten sie uns warnen müssen, oder?«

»Vielleicht sind sie für immer fort«, schlug Nils vor. Ihm war anzusehen, wie glücklich ihn diese Vorstellung machte.

»Nie im Leben«, gab Kyra entschieden zurück. »Die Siegel verschwinden nicht einfach. Sie bleiben, bis man stirbt … und darüber hinaus.«

Sie wusste selbst nicht genau, wie sie darauf kam – aber es klang wie die Wahrheit.

»Die Siegel reagieren auf alles, was böse ist«, überlegte Lisa laut. »Demnach ist doch die einzige mögliche Erklärung, dass die Männer dort oben gar nicht wirklich böse waren. Und das gilt für alle drei, nicht nur für den, der uns geholfen hat.«

»Die beiden anderen wollten uns aber umbringen«, gab Nils scharf zurück.

Kyra schluckte. »Vielleicht hatten sie ja einen Grund dazu. Einen, der überhaupt nichts mit Gut und Böse zu tun hat.«

»Das Haupt von Lachis«, fügte Chris hinzu.

Kyra nickte.

Sie warteten schweigend eine Weile, bis der Professor und der Pilot mit enttäuschten Gesichtern zurückkehrten. Die Hütte sei leer, erklärten sie. So wie es aussähe, sei seit Jahren niemand mehr dort gewesen.

Kyras Vater verkündete den Freunden, dass er gemeinsam mit ihnen die Insel erkunden und nach Hilfe suchen wollte. Der Pilot sollte derweil mit den Japanern beim Flugzeug bleiben und das Ausmaß der Schäden in Augenschein nehmen.

Kyra und die anderen waren froh über diese Entscheidung. Immerhin mussten sie nicht tatenlos herumsitzen und darauf warten, dass irgendein Schiff oder Flugzeug sie zufällig entdeckte. Außerdem hatten sie so Gelegenheit, den Professor über das Haupt von Lachis auszufragen, ohne dass einer der anderen Passagiere lauschen konnte.

»Die Insel ist nicht groß, hat der Pilot gesagt.«

Der Professor zog seinen Schlapphut vom Kopf und rieb sich die schimmernde Glatze. »Im Landeanflug hat er ein Dorf entdeckt, weiter oben an der Nordküste.«

»Norden?«, fragte Nils skeptisch. Woher sollten sie ohne Kompass wissen, wohin sie gehen mussten?

Dem Professor aber genügte ein einziger Blick zum Nachthimmel, um anhand der Gestirne die Richtung zu bestimmen. »Da lang«, sagte er und zeigte mit ausgestrecktem Arm zur Hütte. »Wenn ich mich nicht täusche, ist da drüben neben dem Felsen sogar ein Weg, oder?«

Die vier Freunde starrten mit zusammengekniffenen Augen in die angegebene Richtung. Tatsächlich – im fahlen Mondlicht war ein schmaler Pfad neben den Felsen zu erkennen.

Sie machten sich auf den Weg und erreichten nach einiger Zeit einen erhöhten Punkt, von dem aus sie einen weiten Teil des Eilands überblicken konnten. Die griechische Ägäis, ein malerisches Seegebiet im östlichen Mittelmeer, war bekannt für ihre vielen kleinen Inseln. Die Freunde hatten natürlich ausgerechnet eine der winzigsten erwischen müssen. Typisch.

Im Mondlicht waren die genauen Größenverhältnisse nur schwer zu erahnen, aber Lisa schätzte, dass die breiteste Stelle der Insel kaum mehr als vier Kilometer maß. Es gab keine Bäume, nur schroffe Felsen, auf denen borstiges Gras und ein paar karge Büsche wuchsen.

Nachdem sich ihre Augen an das fehlende Licht gewöhnt hatten, konnten sie auch das Dorf erkennen. Zu Fuß würden sie etwa eine halbe Stunde brauchen, vorausgesetzt sie gerieten nicht an irgendwelche Felsspalten, die ihnen den Weg versperrten.

Die Gebäude waren weiß und eng ineinander verschachtelt. Man hatte sie in eine Felswand hineingebaut, die sich über einer scharfen Klippe erhob. Jenseits des Klippenrandes fiel ein tiefer Abgrund zum Meer ab.

»Seht ihr irgendwo Lichter?«, fragte Chris.

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