Raguel lächelt

Als sie die Kirche erreichten, war der Himmel fast schwarz. Der Regen prasselte ohne Unterlass, und der Wind riss ihnen die Worte von den Lippen. Wenn sie miteinander sprechen wollten, mussten sie brüllen, um sich verständlich zu machen.

Zu ihrem Erschrecken stellte sie das dämmrige Halblicht des Unwetters vor ein unerwartetes Problem: Die Kirche warf keinen Schatten.

»Das darf doch nicht wahr sein!«, entfuhr es Kyra. Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie auf die kleine weiße Kirche, von deren Dachkante das Regenwasser herabrauschte wie von einem Wasserfall.

Auch die anderen wurden stocksteif vor Schreck.

»Kein Schatten«, rief Chris, obgleich alle das längst selbst erkannt hatten. Das Licht reichte dafür einfach nicht aus.

»Wartet!«, schrie plötzlich Azachiel, und noch im selben Moment lösten sich seine Füße vom Boden.

Der Engel schwebte geradewegs in die Höhe, ganz ohne Flügel oder sonstige Hilfsmittel. Er streckte nicht mal die Arme aus oder ruderte mit den Füßen wie ein Taucher beim Aufstieg aus der Tiefe. Nein, Azachiel flog einfach. Es sah so simpel aus, als könnte es jedermann ohne Mühe genauso machen.

Die vier Freunde schauten ihm mit aufgerissenen Mündern hinterher. Sie sahen, wie er zwischen den Regenvorhängen himmelwärts stieg, schließlich diffus wurde und dann ganz verschwand.

»Und jetzt?«, fragte Nils.

»Hast du doch gehört«, rief Lisa zurück. »Wir sollen warten, hat er gesagt.«

»Der hat leicht reden«, schimpfte ihr Bruder. »Der kann einfach abheben, wenn dieser Raguel hier auftaucht. Von da oben hat er bestimmt ’nen tollen Ausblick auf das, was der mit uns anstellt.«

Kyra riss den Arm hoch und deutete nach oben.

»Guckt euch das an!«, stieß sie aus und hielt dabei vor Staunen den Atem an.

Weit, weit über ihnen war ein winziges Loch in der dunklen Wolkendecke entstanden. Im ersten Moment sah es aus wie ein Stern, ein golden leuchtender Punkt. Doch dann wurde ihnen schlagartig klar, dass es eine Öffnung war, durch die Sonnenlicht fiel.

Und dabei blieb es nicht. Das Loch wurde größer, ein kreisrunder Wirbel, der die Wolken an dieser Stelle aufbrach und auseinander trieb.

Inmitten dieser Öffnung schwebte ein winziger, dunkler Punkt.

Hätte einer der vier ein Fernglas dabeigehabt, so hätte er vielleicht erkennen können, was dort oben vor sich ging: Azachiel schwebte aufrecht inmitten der geballten Gewitterwolken, hatte den Arm mit dem Schwert ausgestreckt und rotierte wie ein Kreisel um sich selbst – so schnell, dass seine menschliche Form kaum mehr auszumachen war. Der rasende Wirbel trieb die Wolken auseinander wie ein Ventilator den Zigarettenqualm in einem engen Zimmer voller Raucher.

Die vier am Boden konnten nur raten, was Azachiel tat, und alle lagen ziemlich gut mit ihren Schätzungen. Fest stand, dass er es fertig brachte, für die Sonnenstrahlen einen Korridor durch die Wolkendecke zu schaffen, breit genug, dass ihr Licht auf die Kirche fiel – und so einen Schatten schuf.

Einige Minuten vergingen, ehe Azachiel wieder herabschwebte und zwischen den Freunden auf dem Felsboden landete. Das runde Loch über ihnen am Himmel mochte hundert oder tausend Meter breit sein, von hier unten ließ sich das kaum abschätzen. Aber die Größe war auch gleichgültig. Wichtig war nur, dass die Kirche endlich einen Schatten warf. Jetzt stand der Übergabe des Haupts von Lachis nichts mehr im Wege.

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