Hoch auf dem Dachfirst, aufgereiht wie ein Vogelschwarm, kauerten dreizehn Gargoyles. Aus glitzernden Augen blickten sie auf Chris herab. Einige trommelten mit ihren langen Krallenfingern auf die Dachziegel, andere ringelten ihre Reptilienschwänze über die Schräge wie Riesenschlangen. Keines der Monster sah aus wie das andere, auch wenn sie sich in manchen Merkmalen ähnelten. Einige hatten Hörner, andere nicht. Chris sah mehrere, über deren Schultern verkümmerte Flügel aufragten. Gemeinsam war allen, dass ihre Körper unbehaart waren, von vereinzelten Fellbüscheln abgesehen. Auch ihre Gesichter unterschieden sich: Von verzerrten Leguanschädeln bis zu grotesken Dämonenfratzen war alles vertreten.

Chris stand da wie angewurzelt.

»Ich hab ja gesagt, du sollst dich nicht umdrehen«, flüsterte Kyra scharf hinter seinem Rücken. »Aber, nein, der Herr kann ja wieder mal nicht auf das hören, was eine Frau sagt.«

Chris schluckte und brachte keinen Ton heraus. Die Gargoyles mussten vom Innenhof aus an der Fassade hinaufgeklettert sein. Und ebenso schnell – oder schneller! – würden sie auf dieser Seite wieder herunterkommen.

Rückwärts ging er auf das Versteck der anderen zu. Eigentlich war es gar kein richtiges Versteck mehr, denn die Gargoyles schauten genau zu, wohin er sich zurückzog; er führte sie geradewegs zu seinen Freunden. Im Augenblick jedoch saß ihm der Schreck viel zu tief in den Knochen, um sich auf eigene Faust davonzumachen. Einer dieser Kreaturen konnte er vielleicht entkommen – aber dreizehn?

Keine Chance.

»Warum greifen die nicht an?«, flüsterte Nils im Gebüsch.

Das war in der Tat die große Frage. Die Begegnung mit dem Gargoyle im Treppenhaus hatte Chris verunsichert. Andererseits hatten jene Wesen, die am Zaun zu Grunde gegangen waren, eindeutig feindliche Absichten gehabt.

Er erreichte eine Stelle, an der die Büsche so eng standen, dass er die Gargoyles aus den Augen verlor. Wenn sie jetzt mit dem Abstieg begannen, würde er es nicht einmal bemerken.

»Wir müssen von hier verschwinden«, flüsterte er, als er sich zu den anderen umdrehte.

Kyra nickte und wandte sich nach Westen. In dieser Richtung lagen der Zaun und das Tor.

»Hast du die Fernbedienung?«, wandte Lisa sich besorgt an Chris, während sie und die beiden Jungen Kyra nachgingen.

Chris zog das Gerät hervor und präsentierte es den anderen. »Damit müssten wir es schaffen.«

Er sah Kyra an. »Was meinst du?«

Sie seufzte und blieb stehen. »Ich bin nicht sicher, ob wir wirklich einfach abhauen sollten.«

Sie wandte den anderen den Rücken zu, um nicht durch den Schrecken auf ihren Gesichtern von ihrem Entschluss abgebracht zu werden – denn einen Entschluss hatte sie gefasst. Und sie wusste, dass er ihren Freunden nicht gefallen würde.

»Wie bitte?«, entfuhr es Nils perplex.

»Wir sollen … hier bleiben?«, fragte Lisa. Sie und ihr Bruder waren selten einer Meinung, doch in diesem Fall gab es keine Zweifel an ihrer Übereinstimmung.

Sogar Chris meinte: »Glaubst du, ich bin aus Spaß in Doktor Richardsons Raum gewesen?«

Kyra atmete tief durch, dann drehte sie sich zu ihren Freunden um. »Wir sind die Träger der Sieben Siegel. Wir haben die Dinger nicht bekommen, damit sie uns sagen, wann wir weglaufen sollen – sondern damit wir wissen, dass wir etwas unternehmen müssen.«

»Kyra«, sagte Lisa mahnend, »deine Mutter war eine Hexe. Sie war erwachsen. Sie wusste, wie sie mit alldem umzugehen hatte. Wir wissen das nicht, schon vergessen?«

Kyra tat, als hätte sie Lisas Einwand gar nicht gehört. Stattdessen wandte sie sich entschlossen an Chris. »Hast du in Doktor Richardsons Raum noch irgendwas anderes Brauchbares gefunden?«

»Außer der Fernbedienung?« Er deutete mit schiefem Grinsen auf das lange Horn in seinem Gürtel. »Willst du die Viecher damit vielleicht zurück in ihre Kerker knüppeln?«

Kyra lachte nicht. Sie trat auf Chris zu und zog das Horn aus seinem Gürtel. »Ich darf doch, oder?«

»Es gehört dir, wenn du willst.«

Sie betrachtete das Horn von allen Seiten.

Nils schaute nervös nach hinten. »Die Gargoyles können jeden Moment hier auftauchen, und du machst Wirbel um irgendein olles Trinkhorn …«

»Das hier ist kein Trinkhorn«, stellte Kyra fest. »Es ist an beiden Seiten offen. Scheint ’ne Art Trompete zu sein.«

»Klasse, lass uns Musik machen«, gab Nils vergrätzt zurück. »Bei unserem Talent werden die Monster von ganz allein zu Staub zerfallen.«

Kyra wog das seltsame Horn in der Hand. »Ich spüre irgendwas«, murmelte sie.

»Angst«, schlug Nils trocken vor. »Die spür ich auch. Jede Menge sogar. Deshalb würde ich sagen, wir sollten schleunigst –«

»Was hast du noch gefunden?«, fragte Kyra, immer noch an Chris gewandt.

»Das hier.« Er zog den Schreibblock aus dem Hosenbund. »Doktor Richardson hat Textstellen aus irgendeinem lateinischen Buch übersetzt.«

Kyra bekam leuchtende Augen – und die anderen wussten, was das bedeutete. Kyra hatte Blut geleckt.

»Zeig her«, bat sie aufgeregt.

Chris reichte ihr den Block, und Kyra überflog die obere Seite. »Hm«, meinte sie stirnrunzelnd. »Ist auf Englisch.«

Chris grinste. »Doktor Richardson ist … war Amerikanerin. Natürlich ist es auf Englisch.«

Kyras Schulkenntnisse reichten nicht aus, um die handgeschriebenen Zeilen zu übersetzen. Sie reichte sie zurück an Chris. »Lies du’s«, sagte sie.

Chris war im Ausland aufgewachsen, bevor sein Vater sich aus der Diplomatie zurückgezogen und ein Haus in Giebelstein gekauft hatte. Er hatte in einem halben Dutzend Ländern gelebt und war dort zur Schule gegangen. Er sprach fließend Englisch, Französisch, Spanisch, außerdem ein bisschen Italienisch und Griechisch – allerhand für einen Jungen in seinem Alter.

»Gib her«, sagte er und begann, die Seiten zu überfliegen.

Nils trat unglücklich von einem Fuß auf den anderen. »Würde es euch was ausmachen, dabei vielleicht weiterzugehen? Irgendwann wird denen auf dem Dach langweilig werden. Ganz bestimmt sogar.«

Kyra schenkte ihm einen vernichtenden Blick, aber Lisa kam ihrem Bruder zu Hilfe. »Vielleicht könnten wir erst mal nach draußen … durch’s Tor, meine ich … Danach können wir immer noch überlegen, ob es einen Weg gibt, etwas gegen die Gargoyles zu unternehmen.«

»Klingt vernünftig«, sagte Nils.

Auch Chris blickte von dem Block auf und nickte. »Sehe ich genauso.«

Kyra war überstimmt, und das ärgerte sie. In Augenblicken, in denen das Vermächtnis ihrer Mutter in ihr die Oberhand gewann, konnte sie es nicht ertragen davonzulaufen. Es war, als zögen sie und die Kreaturen der Hölle sich an wie Magneten.

»Wie ihr wollt«, sagte sie widerstrebend und griff nach der Fernbedienung. »Aber die nehme ich.«

Die anderen wechselten verwunderte Blicke. Manchmal konnte Kyra verdammt seltsam sein.

Hastig machten sie sich auf den Weg. Kyra steckte sich die Fernbedienung in die Tasche und trug das Horn in beiden Händen. Sie lief voran, die anderen folgten ihr.

Chris versuchte im Laufen, Doktor Richardsons Handschrift zu entziffern. Eigentlich war das Lisas Spezialität, aber selbst wenn sie die Worte hätte lesen können, hätte ihr die fremde Sprache arge Probleme bereitet. Zwei Jahre Schulenglisch waren einfach noch nicht genug für solch eine Aufgabe.

Sie waren etwa fünf Minuten unterwegs, quer durch das Dickicht, als Chris plötzlich stehen blieb.

»Was ist?«, fragte Kyra.

»Du hattest Recht«, sagte er. »Es ist das Horn.«

»Was ist das Horn?«, wollte Nils wissen und verdrehte die Augen.

»Die Lösung. Na ja, wenigstens ein Teil davon.«

Nils drängelte sich an ihm vorbei. »Erst mal hauen wir ab, so war’s abgemacht. Komm, Lisa.«

Seine Schwester seufzte und knuffte Chris in die Seite. »Du kannst uns das später erklären. Komm jetzt mit. Und du auch, Kyra.«

Kyra brannte vor Neugier auf Chris’ Entdeckung, aber sie dachte auch an ihren Vater, der verletzt im Unterholz auf sie wartete und wahrscheinlich halb wahnsinnig war vor Sorge um sie. Erst mussten sie ihn vom Klostergelände herunterschaffen, dann würden sie weitersehen.

Bald darauf überquerten sie den Weg und fanden Professor Rabenson unverändert am Fuß des steinernen Wasserspeiers. Er hatte vor Freude Tränen in den Augen, als er seine Tochter und die drei anderen wieder sah.

Chris und Nils halfen ihm beim Laufen. Gemeinsam eilten sie zum Tor. Schon im Näherkommen drückte Kyra auf den Knopf der Fernbedienung. Diesmal ließen die Batterien sie nicht im Stich. Das Tor schob sich langsam zur Seite.

Sie stürmten in weitem Abstand an dem zerstörten Jeep und den leblosen Kadavern der vier Gargoyles vorüber. Keiner schaute länger hin als unbedingt nötig. Es roch jetzt, als seien bei einem Grillfest die Würstchen angebrannt.

Das Tor hatte sich erst zur Hälfte geöffnet, als sie hindurchliefen. Kaum auf der anderen Seite, presste Kyra zum zweiten Mal den Knopf. Erschöpft kamen sie alle zur Ruhe und sahen zu, wie sich das Tor wieder schloss.

Jeder fürchtete, im letzten Moment könnten doch noch Gargoyles aus den Büschen springen und sich durch den Spalt in die Außenwelt zwängen.

Doch nichts dergleichen geschah. Es sah fast so aus, als hätten sie zur Abwechslung einmal einen Sieg errungen.

Kyra konnte sich nicht länger zurückhalten.

»Also«, sagte sie voller Ungeduld und deutete auf den Block in Chris’ Händen. »Was, zum Teufel, steht da?«

Er löste seine schweißnassen Hände von dem Papier und schaute mit unsicherer Miene von einem zum anderen.

»Ihr werdet es ja doch nicht glauben«, sagte er leise.