Der Lichtstrahl verharrte – und fiel geradewegs auf eine scheußliche Fratze!

Beide Mädchen schrien auf.

Aus einem breiten Maul ragten messerscharfe Zahnreihen. Schmale Augen starrten verschlagen aus den Schatten einer wulstigen Stirn. Die Haut war pockennarbig, fast porös. Beinahe wie Stein.

Lisa und Kyra atmeten auf. Es war Stein.

Sie hatten Damianos unterirdische Werkstatt entdeckt.

Vor ihnen stand einer der Wasserspeier des Bildhauers. Ein Gargoyle. Bei genauerer Betrachtung sahen sie, dass nur der Kopf vollendet war. Der restliche Körper war kaum mehr als ein grob behauener Felsklotz.

Es gab noch mehr dieser halb fertigen schöpfe. Sie standen überall, neben halb verfallenen Regalen und Tischen, auf steinernen Podesten und zu beiden Seiten des Eingangs. Hier und da konnte man unter Bergen von Staub und Schimmel alte Werkzeuge des Meisters erkennen.

Lisa schaute sich fassungslos um. »Glaubst du wirklich, wir sind die Ersten, die seit ein paar hundert Jahren hier hereingekommen sind?«

Kyra hob die Schultern. Dann leuchtete sie vor sich auf den Boden. »Nicht die Allerersten«, flüsterte sie.

Im Staub waren deutlich Fußspuren zu erkennen. Schmale Stiefelabdrücke.

Lisa hatte sofort ein schlechtes Gewissen. Für einen Augenblick hätte sie beinahe vergessen, weshalb sie überhaupt hier waren.

»Doktor Richardson ist in diese Richtung gegangen«, sagte Kyra und folgte mit dem Lichtstrahl den Spuren. Sie führten quer durch die Werkstatt.

Die Mädchen erkannten, dass der Raum einen kreisrunden Grundriss hatte. In seiner Mitte erhob sich ein Gitterkäfig, der vom Boden bis zur Decke reichte.

Zu ihrer Erleichterung war er leer.

Dann aber sahen sie, dass die Gittertür offen stand.

Ihre Blicke trafen sich. Beiden schoss der gleiche Gedanke durch den Kopf: War etwas aus dem Käfig entkommen? Vielleicht erst gerade eben?

Kyra schluckte, dann näherte sie sich zögernd dem Verschlag.

»Kyra«, flüsterte Lisa entsetzt, aber ihre Freundin ließ sich nicht beirren.

Noch drei Schritte. Noch zwei. Dann stand Kyra vor der offenen Gittertür. Der Lichtschein geisterte über den Boden zu ihren Füßen.

Lisa hielt vor Aufregung die Luft an.

Kyra straffte sich. »Alles in Ordnung. Der Staub ist unversehrt. Falls hier irgendwann mal etwas war, ist es eine halbe Ewigkeit her.«

Sie kehrte zu Lisa zurück, und gemeinsam durchquerten sie auf Doktor Richardsons Spuren den Raum.

An der gegenüberliegenden Wand entdeckten sie eine offen stehende Tür mit schweren Eisenbeschlägen, die in einen weiteren Korridor führte. Der Raubtiergestank war intensiver geworden, ebenso die Schwefeldünste. Zum ersten Mal fragte sich Lisa, ob diese Gerüche wohl giftig waren. Allzu gut erinnerte sie sich an Geschichten über Forscher, die beim Öffnen ägyptischer Felsengräber den Tod gefunden hatten. Was man im Volksmund dem Fluch der Pharaonen zuschrieb, war tatsächlich eine krankhafte Reaktion auf Pilze und Mikroben gewesen, die sich über die Jahrhunderte hinweg in den unterirdischen Grüften gebildet hatten.

Ob es hier etwas Ähnliches gab? Wahrscheinlich war es besser, nicht darüber nachzudenken.

Abgesehen davon hatte Doktor Richardson wohl kaum geschrien, weil sie von einem Pilz angegriffen worden war.

»Sollen wir wirklich noch weitergehen?«, fragte Lisa kleinlaut, als sie den zweiten Korridor betraten.

Kyra gab keine Antwort. Sie hatte ihre Entscheidung längst getroffen. Lisa fügte sich in ihr Schicksal.

Nebeneinander tasteten sie sich vorwärts. Wieder legten sie nur wenige Meter zurück, ehe sich der Gang abermals ausweitete.

Diesmal war es kein runder Raum. Keine Werkstatt.

Diesmal war es ein Kerker.

In die Wände zur Rechten und zur Linken waren in Abständen von wenigen Schritten Gittertore eingelassen, keines schmaler als drei Meter. Die Kerkerzellen dahinter lagen in tiefster Finsternis. Kyra leuchtete einige Schritt weit in eine hinein, zog den Lichtstrahl aber geschwind wieder zurück, als sie nicht sofort auf eine Rückwand stieß. Es schien sich eher um Tunnel als um Zellen zu handeln. Sie waren bestimmt nicht kürzer als zehn Meter.

Der Mittelgang erstreckte sich schier endlos geradeaus. Im schwachen Schein der Taschenlampe zählten Kyra und Lisa auf jeder Seite mehr als ein Dutzend Gittertüren. Aber sie zweifelten nicht, dass es außerhalb des Lichts noch viel mehr davon gab. Hunderte vielleicht.

»Sieh mal«, meinte Lisa plötzlich.

Kyra folgte ihrem Blick und entdeckte in der Wand ein großes Metallrad; es sah aus wie die Steuerräder auf alten Segelschiffen. Es war mit einem komplizierten Mechanismus aus Eisenstangen und Zahnrädern verbunden, der oberhalb der Gittertüren an der Decke entlang verlief. Offenbar war es mithilfe dieses Rades möglich, alle Gitter auf einen Schlag zu entriegeln. Kyra sprach den Gedanken laut aus.

»Warum sollte jemand das tun?«, fragte Lisa.

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