Chris traute seinen Augen nicht. Litt er im Angesicht des Todes unter Halluzinationen?

Aber nein, er täuschte sich nicht. Wie ein kleines Kind streckte ihm der Gargoyle die Zunge heraus und machte dabei meckernde Geräusche. Sein grauhäutiger Oberkörper wippte weiterhin vor und zurück.

Chris drehte sich langsam herum. Wenn er jetzt davonlief, würde er mit leeren Händen zu seinen Freunden zurückkehren – und dann würden sie alle sterben. Also konnte er sein Leben auch gleich aufs Spiel setzen. Wenn es ihm nur irgendwie gelänge, an dem Monster vorbeizulaufen, weiter geradeaus in den nächsten Korridor. Wenn er dabei vielleicht sogar die Vespa vom Boden zerren konnte, sie starten und – Der Gargoyle zog die Zunge mit einem schlürfenden Laut zurück. Sein Grinsen wurde breiter und breiter, bis es sich fast von einem Ohr zum anderen spannte. Seltsamerweise sah er dabei nicht wirklich bedrohlich aus, eher lächerlich.

Chris erinnerte sich an einen Wasserspeier im Park, der ganz ähnlich ausgesehen hatte. Zugleich fiel ihm ein, dass Doktor Richardson ihm vor zwei Tagen erklärt hatte, dass nicht alle Wasserspeier auf Kathedralen und Kirchen bedrohlich aussahen – manche waren regelrechte Spaßmacher, die Grimassen schnitten und dem Betrachter eine Nase drehten.

Waren gar nicht alle Gargoyles im Keller des Klosters böse und blutrünstig? Gab es genauso welche, die einfach nur darauf aus waren, Streiche zu spielen, auf dem geistigen Niveau von Schimpansen?

Das alles waren völlig neue Gedanken, und Chris brauchte eine Weile, ehe er endlich einen Entschluss fasste.

Langsam setzte er sich in Bewegung. Er machte nicht erst den Versuch, den Gargoyle zu umrunden. Stattdessen ging er geradewegs auf ihn zu – und auf die Vespa, die unmittelbar vor ihm am Boden lag.

Das Wippen des Wesens blieb ruhig und gleichmäßig. Ein leises Gurren drang zwischen seinen zusammengepressten Lippen hervor, wie von einer Taube. Sein freches Grinsen blieb unverändert, seine Augen folgten jeder von Chris’ Bewegungen.

»Ganz brav«, flüsterte Chris, so, als nähere er sich einem Wachhund.

Der Gargoyle legte aufmerksam den Kopf schräg. Seine bernsteinfarbenen Augen blitzten schalkhaft.

»Bleib schön sitzen«, murmelte Chris, hauptsächlich um sich selbst zu beruhigen. »Braver Kerl, ganz, ganz brav …«

Nur noch ein guter Meter trennte ihn von dem grinsenden Wesen. Hinter dem Gargoyle bewegte sich etwas. Ein langer Eidechsenschwanz. Der Gargoyle wedelte damit wie ein Hund, dem man einen Knochen hinhielt.

Freute er sich, weil Chris ein so appetitlicher Happen war? Oder gefiel ihm der beruhigende Tonfall, in dem er zu ihm sprach?

Chris fasste den Lenker der Vespa mit beiden Händen und richtete den Roller langsam auf.

Vor und zurück wippte der Gargoyle. Vor und zurück.

Chris schluckte, als er vorsichtig ein Bein über den Sattel schwang. Dabei ließ er das Wesen nicht aus den Augen.

Unendlich sachte tasteten seine Finger nach dem Zündschlüssel.

Der Gargoyle zwinkerte ihm mit dem rechten Auge zu. Die Außenseite seines Lides war farbig gezeichnet, schillerte wie der Panzer eines Käfers im Sonnenlicht.

Was für sonderbare Wesen!, dachte Chris, teils fasziniert, teils angstvoll. Wo, zum Teufel, war Damiano nur auf sie gestoßen? Hatten sie schon zu Zeiten der Etrusker dort unten gehaust, vor mehr als zweitausend Jahren? Oder sogar noch früher?

Ihm war klar, dass er darauf keine Antwort finden würde. Manche Wunder musste man einfach als solche akzeptieren. Schluss, aus.

Er hielt die Luft an und drehte den Schlüssel herum. Der Motor tuckerte los. Chris duckte sich instinktiv im Sattel, um einem möglichen Angriff des Gargoyles auszuweichen.

Doch die Kreatur dachte gar nicht daran, Chris zu attackieren. Sie zuckte beim Geräusch des Motors erschrocken zusammen, nahm aber dann wieder ihr zermürbendes Wippen auf.

Er hat Angst, dachte Chris überrascht. Er will es nicht zeigen, aber er fürchtet sich vor dem Lärm.

Dann tat Chris etwas, das er selbst nicht recht verstand. Es war wie ein Instinkt, etwas, das er einfach tun musste.

Er löste die Hände vom Lenker und streckte beide Zeigefinger aus. Dann steckte er sie sich ganz langsam in die Ohren, so, dass der Gargoyle genau dabei zusehen konnte. Er kam sich dabei ziemlich verrückt vor.

Die Kreatur stieß ein leises Gackern aus und grinste wieder. Ihre langen Klauenhände hatten bisher ineinander verschlungen im Schoß gelegen. Jetzt aber hob sie sie hoch und betrachtete neugierig ihre Zeigefinger. Die Krallen waren kurz genagt. Noch einmal schaute der Gargoyle Chris an, gackerte erneut, dann schob er sich die Finger in die spitzen Teufelsohren. Ja, tatsächlich, er ahmte Chris nach!

Chris zwang sich zu einem Lächeln und nickte. »Richtig so«, sagte er leise. »Du machst das ganz toll.«

Der Gargoyle sah ihn aus großen Augen an. Er war offenbar völlig irritiert, dass er den Motorenlärm nicht mehr hören konnte. Mit einem kurzen Plopp zog er die Finger wieder heraus und schüttelte sich erschrocken, als der Krach erneut an seine Ohren drang. Geschwind steckte er die Finger zurück. Ein Ausdruck von Zufriedenheit legte sich über das hagere Teufelsgesicht.

Chris nahm seine Hände langsam herunter und packte den Lenker. Hielt die Luft an. Drehte am Gas.

Jaulend schoss die Vespa vor, in einem Bogen um den sitzenden Gargoyle herum und auf der anderen Seite in die Mündung des nächsten Korridors. Einmal noch schaute Chris sich um und sah, dass das bizarre Wesen immer noch dasaß, ihm den Rücken zuwandte und wippte, die Finger tief in den Ohren vergraben.

Der Anblick stimmte Chris traurig. Nicht alle diese Kreaturen waren auf Mord und Zerstörung aus. Dass man sie dennoch eingekerkert hatte, erschien ihm ungerecht und gemein.

Ohne auf weitere Hindernisse zu stoßen, bog er in den Ostflügel und hielt vor den Türen der Forscherunterkünfte. Er ließ den Motor laufen, sprang vom Sattel und stürmte in Doktor Richardsons Zimmer.

Das Rollo vor dem neu verglasten Fenster war als Schutz gegen die Sonne herabgezogen worden – es war gelb, und der Professor hatte schon bei ihrer Ankunft gescherzt, dass Doktor Richardson gewiss nur deshalb ausgerechnet dieses Zimmer für sich ausgewählt hatte. Jetzt erfüllte der Schimmer, der durch den Filzstoff fiel, den Raum mit einem ungesunden Zwielicht. Chris’ Haut sah aus, als hätte er Gelbsucht.

Unter dem Fenster stand ein Schreibtisch, daneben türmte sich auf dem Boden ein hoher Stapel Aktenordner. Ein offener Koffer mit schmutziger Wäsche befand sich mit allerlei anderem Kleinkram – einem Kosmetikkoffer, einem Reisebügeleisen und einer Waschmitteltube – neben dem zerwühlten Bett.

Auf dem Schreibtisch lag ein aufgeschlagenes Buch in lateinischer Sprache, augenscheinlich eine wertvolle Handschrift, die Doktor Richardson in keiner Bibliothek der Welt hätte ausleihen können – zumindest nicht auf legalem Wege. Daneben entdeckte Chris einen Block, auf dem die Amerikanerin anscheinend Passagen aus dem Buch ins Englische übertragen hatte. Er erinnerte sich an Kyras Worte, rollte den Block zusammen und steckte ihn sich in den Hosenbund.

Die Fernbedienung! Wo steckte das blöde Ding nur?

Chris blickte aufmerksam durchs Zimmer, dann wieder hinüber zum Fenster – und erstarrte schlagartig.

Auf dem herabgezogenen Rollo war ein riesenhafter Umriss erschienen.

Chris wagte kaum mehr zu atmen, wurde mucksmäuschenstill. Dann aber fiel ihm die Vespa ein. Das Wummern des Motors musste dort draußen deutlich zu hören sein.

Inmitten der schwarzen Silhouette glühte ein Augenpaar, so hell, dass es sich sogar auf dem Rollo abzeichnete. Aus den Schultern des Wesens wuchsen zwei mächtige Hörner, zwei weitere ragten aus seinem Schädel.

Ob die Glutaugen ihn durch den Filzstoff hindurch sehen konnten? Chris lief ein Schauder über den Rücken, seine Knie begannen zu zittern.

Unendlich langsam löste er seinen Blick von dem Umriss und suchte weiter.

Da – die Fernbedienung lag am Boden neben dem Bett, zwischen aufgeschlagenen Büchern, benutzten Papiertaschentüchern und einer braunen Bananenschale.

Sachte machte er einen Schritt darauf zu, dann noch einen. Schließlich bückte er sich vorsichtig nach vorne und hob das handtellergroße Gerät vom Boden. Hoffentlich waren die Batterien nicht leer.

Der Schatten vor dem Fenster war größer geworden. Zugleich schrumpften die Augen zu immer helleren Lichtpunkten zusammen, konzentrierten sich mehr und mehr wie die Mündung eines Laserskalpells.

Er kann mich sehen, schoss es Chris durch den Kopf. Er kann mich, verdammt noch mal, sehen!

Panisch schaute er sich nach etwas um, das er als Waffe benutzen konnte. Wahrscheinlich ein aussichtsloser Versuch, angesichts eines solchen Gegners. Aber er würde sich nicht ohne Gegenwehr geschlagen geben. Niemals!

An der Wand lehnte etwas, das er für ein mittelalterliches Trinkhorn hielt. Es war etwas länger als Chris’ Arm, zu einem Halbkreis gebogen und lief an einer Seite spitz aus. Ob es stabil genug war, um es als Knüppel zu benutzen, wusste Chris nicht, aber er musste es zumindest versuchen. Besser, als einer dieser Bestien mit bloßen Händen gegenüberzutreten.

Bestien? Blitzartig erinnerte er sich wieder an den Gargoyle im Treppenhaus. Vielleicht war ihm das Wesen dort draußen vor dem Fenster ja ebenso friedlich gesonnen.

Aber darauf wollte er es lieber nicht ankommen lassen.

Eilig schlich er aus dem Zimmer, steckte die Fernbedienung in die Hosentasche und schob das Horn unter seinen Gürtel wie ein Krummschwert.

Ein letztes tiefes Durchatmen, dann raste er los.

Diesmal entschloss er sich, nicht den Weg durch das Gemäuer zu nehmen. Stattdessen suchte er den nächstbesten Ausgang zur Außenseite des Klosters. Auf dem Grasstreifen zwischen Mauer und Parkdickicht würde er freie Bahn haben – vorausgesetzt, niemand vertrat ihm den Weg.

Immer wieder blickte er während der Fahrt nach hinten, doch der Gargoyle mit den leuchtenden Augen zeigte sich nicht.

Als Chris nach bangen Minuten endlich die Stelle erreichte, an der er die anderen zurückgelassen hatte, erwartete ihn der nächste Schock.

Seine Freunde waren verschwunden.