Der schlimmste Fehler

Chris hielt sich nicht erst mit den Sprossen auf, als er die Schreie der Mädchen hörte. Ohne zu überlegen, glitt er an den Griffleisten der Leiter in die Tiefe. Der grelle Strahler, den er aus dem Jeep mitgebracht hatte, fraß eine Glutbahn in die Dunkelheit.

Jemand raste auf ihn zu.

»Lisa! Kyra!«

Beide sagten kein Wort. Rissen nur an seinem Sweatshirt, an seinen Armen. Zerrten ihn mit sich zur Leiter.

Von oben packte Nils Kyras Hände und zog sie aus dem Loch. Danach kam Lisa an die Reihe, zuletzt endlich Chris.

»Die Platte!«, schrie Kyra mit sich überschlagender Stimme. »Wir müssen die Öffnung verschließen!«

Die Jungen stellten keine Fragen. Das Poltern und Rumpeln in der Tiefe nahm alle Antworten vorweg. Es klang, als tobe eine Armee von Riesen aus den Katakomben herauf.

Nils gab der Leiter einen Stoß, sodass sie im Abgrund verschwand. Dann packten sie zu viert die Platte. Chris glaubte, noch etwas zu sehen, Sekundenbruchteile bevor sich die Öffnung schloss. Etwas Großes, mit Fängen so lang wie Brotmesser.

»Wie lange wird sie das aufhalten?«, brachte Lisa atemlos hervor.

»Eine Minute. Zwei. Vielleicht auch überhaupt nicht.« Kyra verschwendete keine Zeit. Sie sprang auf und fuchtelte mit der erloschenen Taschenlampe Richtung Ausgang.

Die vier hasteten los.

Von unten schlug etwas gegen die Bodenplatte. Alle hörten, wie der Stein knirschte. Ein zweiter Schlag ertönte. Etwas zerbarst. Splitter prasselten zu Boden.

Chris schaute zurück und wünschte sogleich, er hätte es nicht getan. Im umherhuschenden Schein des Strahlers sah er einen schuppigen Arm, der durch die Platte brach. Blitzende Klauen wirbelten ins Leere. In einer Geste abgrundtiefen Zorns ballten sie sich zu einer Faust, groß wie ein Pferdeschädel.

Die Freunde erreichten den Gang, der zur Treppe führte. Frische Luft wehte ihnen entgegen. Keuchend sprangen sie die Stufen hinauf, gelangten ins Freie.

Einen Augenblick lang war das Tageslicht überwältigend. Beinahe hätte es sie getäuscht: Ganz kurz kam es den Kindern vor, als sei alles, was sich in den Katakomben abgespielt hatte, nur ein Traum gewesen. Die Helligkeit war wie ein Schlag, vor allem für Kyra und Lisa.

Aus dem Treppenschacht drang dumpfer Lärm empor. Ein Donnern wie von einem Vulkan, der zu neuer Aktivität erwacht.

Aber es war keine Lava, die aus der Tiefe heraufquoll. Lava lebt nicht, schreit nicht, spürt keinen Hunger. Lava ist ohne Verstand.

Nichts davon traf auf die Kreaturen zu, die sich jetzt einen Weg ins Freie suchten. In spätestens ein, zwei Minuten würden sie den Schock ihrer neuen Freiheit überwunden haben.

»Wie viele?«, stammelte Nils, als sie weiterliefen, quer durch die Ruinen der Kapelle. Vor ihnen schimmerte das Grün des Innenhofs durchs offene Portal.

»Viele«, gab Kyra atemlos zurück. »Dreißig, vierzig, fünfzig. Vielleicht auch fünfhundert.«

Aber dann, als Kyra zurückschaute, war es nur ein Einziger, der die Stufen hinaufkam. Der Gargoyle übertraf alles an Scheußlichkeit, was ihr bisher unter die Augen getreten war.

Er war mindestens drei Meter groß und massig wie ein Ochse. Er stand auf zwei Beinen und stützte sein Gewicht zusätzlich mit einem langen Schwanz, ähnlich dem eines Alligators. Seine Haut hatte die Farbe von verfaultem Seetang, darunter zeichneten sich kraftvolle Muskelstränge ab. Zwei mächtige Hörner saßen auf seinem Eidechsenschädel. Als er das Maul aufriss, schoss eine schwarze Zunge hervor, lang und flink wie eine Lederpeitsche. Aus seinem Rücken stachen gewaltige Fledermausschwingen.

Der Gargoyle zögerte noch, ehe er die Verfolgung der Freunde aufnahm. Prüfend öffnete er seine Flügel, ließ sie zweimal auf- und zuklappen; sie hatten eine Spannweite von mehr als sechs Metern. Aus geschlitzten Pupillen musterte er seine Umgebung, vielleicht auf Gefahren lauernd, vielleicht auch nur aus Neugier.

Doch was für Gefahren hatte solch ein Wesen schon zu fürchten? Kyra fiel kaum eine ein, die weniger Schaden anrichtete als eine Wasserstoffbombe.

Sie fuhr herum und wandte sich wieder ihrem Fluchtweg zu. Die Freunde liefen unter dem Torbogen hindurch, durchquerten dann den Innenhof der Abtei.

Hinter ihnen begann der Boden zu beben, als der Gargoyle sich in Bewegung setzte. Seine Größe und Grobschlächtigkeit täuschten – er war weit schneller, als sein Anblick vermuten ließ. Mit donnernden Schritten stampfte er durch die Kapelle, hinter den fliehenden Freunden her.

»Wohin?«, brüllte Nils.

»Zum Jeep!«, erwiderte Chris. Dann blickte er zu Kyra hinüber: »Oder?«

Sie konnte keine Antwort geben. Der Schreck saß ihr immer noch zu tief in den Gliedern.

Atemlos liefen sie durch den Tunnel, der durch den Westflügel des Klostergemäuers ins Freie führte. Der Lärm ihrer Schritte wurde von den Steinwänden zurückgeworfen. Am hellen Ende der Röhre konnte Kyra schon den Wagen erkennen. Er war genauso knallgelb wie die Kleidung von – Nein, nicht an Doktor Richardson denken! Kein Gedanke an das, was mit ihr geschehen war! Es würde sie nur lähmen, würde ihre Flucht zu einem schnellen Ende bringen.

Sie erreichten das Ende des Tunnels. Professor Rabenson blickte von seinem bandagierten Knie auf und schaute ihnen verwundert entgegen.

»Was ist denn –«, begann er, aber Kyra ließ ihn nicht ausreden.

»Rück hinters Steuer! Schnell!«

Ihr Vater saß auf dem Beifahrersitz, weil dort mehr Platz war, um das verletzte Bein auszustrecken. Er machte keinerlei Anstalten, Kyras Aufforderung nachzukommen.

»Aber was –«

»Frag nicht!«, rief Kyra ihm entgegen. »Mach schon, beeil dich. Du musst den Motor starten.«

Aber es war offensichtlich, dass er es nicht schnell genug schaffen würde. Das geschwollene Knie über den Schaltknüppel zu hieven würde mindestens eine oder zwei Minuten dauern.

»Ich mach das schon!«, verkündete Chris entschlossen. Er wurde noch schneller, rannte an den anderen vorüber und sprang auf den freien Fahrersitz. Professor Rabenson staunte nicht schlecht, als Chris den Schlüssel herumdrehte und den Motor anließ.

Kyra, Nils und Lisa hechteten auf die Ladefläche des offenen Jeeps. Ein Blick zurück verriet ihnen, dass der Gargoyle gerade durch den Tunnel tobte. Sein nachtschwarzer Umriss hob sich scharf gegen den hellgrünen Innenhof ab. Noch lagen zwischen ihm und dem Wagen mehr als dreißig Meter, aber das Wesen holte rasend schnell auf.

»Du kannst Auto fahren?«, rief Kyra über ihre Schulter nach vorne.

»Nein«, entgegnete Chris verbissen. »Wie kommst du darauf?«

Und damit trat er aufs Gaspedal, rammte es nach unten bis zum Anschlag. Der Jeep machte einen Satz. Die Kinder auf der Ladefläche purzelten schreiend durcheinander. Der Wagen ruckelte noch ein-, zweimal, dann erstarb der Motor.

Der Gargoyle kam näher. Jetzt hatte ihn auch Kyras Vater entdeckt. Der Professor hatte im Laufe seiner Forscherkarriere schon so manche Unfassbarkeit erlebt, hatte Wesen gesehen, die als ausgestorben oder als Hirngespinste galten. Es war beneidenswert, wie schnell er seinen Schock überwand.

»Los!«, brüllte er Chris an. »Dreh den Schlüssel!«

Erneut sprang der Wagen an.

»Kupplung durchtreten«, kommandierte Professor Rabenson. »Jetzt das Pedal langsam zurückkommen lassen. Ja, genau so. Und dabei vorsichtig Gas geben.«

Augenscheinlich unternahm Chris nicht zum ersten Mal den Versuch, ein Auto zu starten. Tatsächlich gelang es ihm diesmal, den Wagen ins Rollen zu bringen.

Der Gargoyle verließ den Tunnel.

»Schneller!«, brüllte Lisa voller Entsetzen.

»Aufs Gas«, wies Professor Rabenson Chris an. »Und bleib ganz ruhig. Du machst das sehr gut.«

Der Jeep gewann an Geschwindigkeit. Zweimal noch wies der Professor Chris an, auf die Kupplung zu treten – er selbst schaltete dabei erst in den zweiten, dann in den dritten Gang. Die Tachonadel stieg auf vierzig Stundenkilometer. Der Wagen rumpelte über den zugewucherten Weg, der zum Tor der Umzäunung führte. Bei jeder Wurzel wurden die Insassen nach oben geschleudert, ihnen allen peitschten tief hängende Äste ins Gesicht.

»Du musst noch schneller fahren!«, rief Nils.

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