»Schneller geht’s nicht«, gab der Professor zurück. »Der Weg ist zu uneben. Wir werden umkippen oder gegen einen Baum knallen.«

Lisas Stimme klang panisch. »Aber er holt auf!«

Tatsächlich verminderte der Gargoyle seinen Abstand zum Jeep immer mehr. Zum Glück hielt ihn der enge Hohlweg durchs Dickicht davon ab, seine Schwingen einzusetzen. Aber auch zu Fuß war er schneller als der Wagen. Ihr Vorsprung betrug nur Sekunden.

Chris gab sich alle Mühe, das Steuer gerade zu halten, doch die Erschütterungen machten das nahezu unmöglich. Immer wieder raste der Jeep um Haaresbreite an Zypressen und Baumstämmen vorüber, riss Zweige ab und schlenkerte heillos von einer Seite zur anderen. Kyra wusste kaum noch, was sie mehr fürchten sollte: die Kreatur, die ihnen folgte, oder Chris’ Fahrkünste. Wenn das eine sie nicht umbrachte, würde es zweifellos das andere tun.

»Da kommen noch mehr!«, schrie Lisa plötzlich.

Kyra wirbelte herum. »Wo?«

Nils deutete nach hinten. Sein Arm wippte durch die rumpelnde Fahrt wild auf und ab. »Da! Ich hab sie auch gesehen. Sie sind hinter dem anderen.«

Tatsächlich! Nun entdeckte auch Kyra sie. Wenn sich der vordere Gargoyle unter den tiefen Ästen bückte, konnte man sehen, dass ihm zwei weitere Kreaturen folgten. Sie waren kleiner als er, ihre Umrisse fast zierlich. Dafür hatten sie lange Schnauzen wie Krokodile, aus denen rundherum fingerlange Zähne ragten. Auch sie besaßen Schwingen, zerfetzte, verkümmerte Flughäute.

Chris trat das Gaspedal noch weiter durch. Professor Rabenson protestierte lautstark, doch seine Worte gingen im Lärm des aufjaulenden Motors unter. Der Jeep gewann abermals an Tempo und vergrößerte zum ersten Mal seinen Vorsprung.

Über ihnen, jenseits des dichten Blätterdachs, verdunkelte ein gewaltiger Umriss den Himmel. Heftige Windstöße rissen die Zweige auseinander. Kyra gelang es, einen flüchtigen Blick auf das zu erhaschen, was über den Baumwipfeln vorüberzog.

Ein geflügelter Gargoyle!

Größer noch als der erste, fast so wie ein Drache.

»Er schneidet uns den Weg ab!«, schrie sie, um den Motor zu übertönen.

Doch selbst wenn Chris sie gehört hätte, hätte es keinen Unterschied mehr gemacht. Das Dickicht rechts und links des Hohlweges war zu dicht, auch gab es keine Abzweigungen. Sie konnten nur geradeaus fahren oder anhalten – und dann würden ihre drei Verfolger über sie herfallen.

Vor ihnen rückte das Gestrüpp noch einmal besonders eng zusammen. Dahinter endete der Park. Jenseits einer freien Fläche lagen das Tor und der Starkstromzaun.

Über dem Platz vor dem Tor schwebte ein monströser Schatten.

»Er wartet auf uns!«, entfuhr es Professor Rabenson.

»Sag ich doch!« Kyra schaute sich nach hinten um. Ihre Verfolger waren zurückgeblieben, Laub und Astwerk verbargen sie vor ihren Blicken.

»Wir müssen abspringen!«

»Abspringen?«, riefen alle anderen im Chor.

Kyra nickte hektisch. »Chris, fahr langsamer! Und dann springen wir alle rechts und links ins Gebüsch.«

»Und der Jeep?«, brüllte Chris nach hinten.

»Fährt allein weiter!«

Professor Rabenson begriff, was sie vorhatte.

»Das ist völlig verrückt.« Er warf einen wehleidigen Blick auf sein Knie. »Und so wie’s aussieht, unsere einzige Chance.«

Nils und Lisa sahen sich fassungslos an.

»Was –«, begann Nils entsetzt, doch Kyra brachte ihn mit einer barschen Handbewegung zum Schweigen.

»Tu’s einfach«, verlangte sie scharf.

Chris verlangsamte die Geschwindigkeit. Ganz kurz brachte er den Wagen fast auf Schritttempo. Kyra, Nils und Lisa sprangen von der Ladefläche, krochen stolpernd ins Unterholz. Professor Rabenson folgte ihnen mit einem wilden Aufschrei; irgendwie gelang es ihm, sein beträchtliches Gewicht so zu verlagern, dass der Schmerz in seinem verletzten Bein ihm nicht die Besinnung raubte.

Nur Chris blieb sitzen. Er trat aufs Gas.

»Chris!«, schrie Kyra. »Du musst springen.«

Er aber beschleunigte den Jeep nur noch weiter. Erst im letzten Moment, als der Wagen schon fast die Grenze des Dickichts erreicht hatte, ließ er sich seitlich aus dem Jeep fallen und verschwand wie eine Kanonenkugel im Unterholz.

Der Wagen raste ins Freie.

Eine riesige Kreatur – fünf, sechs Meter lang – stieß aus der Luft herab. Blitzschnell stürzte sie sich auf den Jeep, verkrallte sich in der Karosserie wie ein Greifvögel im Rücken einer Feldmaus. Ihre Lederschwingen klatschten zu beiden Seiten gegen Blech und Kunststoff.

Der Gargoyle machte keinen Unterschied zwischen Opfern aus Fleisch und aus Metall. Wutentbrannt zerrte er an den Seitenteilen des Jeeps, während dieser immer weiter fuhr, einen Schlenker machte und geradewegs auf den Zaun zuraste.

Mit einem ohrenbetäubenden Bersten krachte das Gefährt in das Stahlgitter. Elektrische Entladungen ergossen sich über den Wagen und den Gargoyle. Funken stoben in alle Richtungen. Die Reifen drehten durch und platzten. Einen Moment lang sah es aus, als würden Wagen und Kreatur von weißen Flammen umhüllt.

Dann verebbte das Feuerwerk.

Der leblose Gargoyle hing mit ausgebreiteten Schwingen über dem Autowrack. Schwarzer Rauch kräuselte sich aus Rissen in seiner Schuppenhaut.

»Wir müssen Chris helfen«, stammelte Lisa.

Kyra nickte – um im nächsten Augenblick durch nahen Lärm eines Besseren belehrt zu werden. Ihre drei Verfolger holten auf.

»Zurück!«, zischte Professor Rabenson.

Er und die drei Kinder krochen widerstrebend nach hinten, tiefer ins schützende Dickicht. Chris war irgendwo auf der anderen Seite des Weges gelandet. Bei der hohen Geschwindigkeit, die der Jeep bei seinem Absprung gehabt hatte, konnte er sich durchaus ein paar Knochen gebrochen haben. Oder das Genick.

Aber sie konnten jetzt nicht auf die andere Seite laufen. Die drei Gargoyles würden sie unweigerlich entdecken.

Der Schatten der vorderen Kreatur legte sich auf die kauernden Gefährten, huschte dann an ihnen vorüber. Die stampfenden Schritte des Gargoyles ließen Erde und Bäume erzittern. Auch die beiden kleineren Wesen sprangen an dem Versteck vorüber. Alle drei hatten nur Augen für das, was aus ihrem Artgenossen geworden war. Sie verstanden nicht, was geschehen war. Elektrizität und ihre Wirkung waren ihnen fremd.

Kyra und die anderen schauten vorsichtig zwischen den Ästen hervor. Sie sahen zu, wie sich die drei monströsen Kreaturen dem Wrack näherten. Ein Geruch wie von verbranntem Fisch wehte zu den Freunden herüber.

»Los, nun macht schon«, flüsterte Nils gebannt.

Und, tatsächlich, die Gargoyles taten ihm den Gefallen.

Alle drei begannen nahezu gleichzeitig, am Kadaver ihres Artgenossen zu ziehen und zu zerren, so, als wollten sie ihn aufwecken. Sofort sprang der tödliche Strom auf sie über. Der Gestank wurde unerträglich.

Eilig wandten die Freunde ihre Blicke von den qualmenden Monsterkörpern ab. Keines der Wesen hatte überlebt.

»Wir müssen Chris suchen!«, rief Lisa. Bevor irgendwer sie aufhalten konnte, sprang sie schon aus den Büschen, überquerte den Weg und lief zu der Stelle, an der Chris im Dickicht verschwunden war.

»Lisa, warte!«, rief ihr Bruder besorgt und folgte ihr.

Kyra blickte hinüber zur Ausfahrt, dann auf ihren Vater. »Ich helfe den anderen. Mach du schon mal das Tor auf.«

»Wenn du mir sagst, womit«, erwiderte er und massierte sich zaghaft das Knie.

»Mit der Fernbedienung natürlich. Der aus dem Jeep.«

Kyra hatte die letzten Worte kaum ausgesprochen, als sie auch schon begriff, was los war.

Ihr Vater hatte die Fernbedienung gar nicht! Niemand hatte in der Eile des Absprungs daran gedacht, auch er nicht. Jetzt lag das Gerät irgendwo im Wrack des Jeeps, umzuckt von tödlichen Entladungen, begraben unter dem Kadaver des Fluggargoyles.

Sie konnten das Tor nicht mehr öffnen. Sie waren gefangen.

Gemeinsam mit hunderten von hungrigen Gargoyles.