Vorzeichen

Doktor Richardson stand am Tor des Elektrozauns und winkte den Freunden zu.

»Sie tut so, als würde sie uns zuwinken«, sagte Chris, als der Professor den Jeep anhielt und wartete, bis das Tor zur Seite glitt. »Dabei sieht sie in Wirklichkeit nur deinen Vater an.«

Kyra schnitt eine Grimasse. »Mein Vater weiß gar nicht, was Frauen sind«, sagte sie.

»Das hab ich gehört, junge Dame«, ertönte es vergnügt vom Fahrersitz.

Lisa kicherte.

Kyra streckte ihrem Vater die Zunge heraus. »Ist doch wahr … Die gute Mrs Richardson ist ganz versessen darauf, sich mit dir über ihre Forschungen zu unterhalten.«

»Wer sagt denn, dass wir das nicht längst getan haben?«, gab der Professor mit Unschuldsmiene zurück.

»Ihr habt –?«

»Uns über ihre Forschungen unterhalten, allerdings«, erwiderte ihr Vater ernsthaft. »Wie es unter Wissenschaftlern so üblich ist.«

»Wie es unter Wissenschaftlern üblich ist«, äffte Kyra ihn so leise nach, dass nur ihre Freunde es verstehen konnten. Die anderen grinsten.

»Wenn er sie heiratet«, sagte Nils augenzwinkernd, »kannst du dich Kyra Rabenson-Richardson nennen.«

Lisa verzog das Gesicht. »Doppelnamen find ich affig.«

Als Kyra aufblickte, sah sie, dass ihr Vater ihr im Rückspiegel zuzwinkerte. »Ist das jetzt schon die Pubertät?«, fragte er.

»Frag Doktor Richardson. Frauen kennen sich mit so was besser aus.«

»Ja, vielleicht sollte ich das tun. Und ich werde sie bitten, sich die restlichen Ferien über um euch zu kümmern.«

Nils raufte sich in gespielter Verzweiflung die Haare. »Oh nein, nur das nicht! Seht euch nur ihre Klamotten an.«

Während der Jeep losfuhr und über die Stahlschiene des Tors rumpelte, schauten sich die vier Freunde nach der Amerikanerin um. Sie war eigentlich eine recht attraktive Frau Ende dreißig. Allerdings hatte sie eine fatale Vorliebe für zitronengelbe Kleidungsstücke. Im Augenblick trug sie gelbe Shorts und ein enges gelbes T-Shirt. Einen gelben Pullover hatte sie sich locker um die Hüfte gebunden. Auf ihrer Nase saß ein gewaltiges Brillengestell.

»Warum kauft die sich keine Kontaktlinsen?«, fragte Lisa naserümpfend.

Professor Rabenson hob belehrend den Zeigefinger. »Brillen verleihen Charakter. Das solltest du dir merken, kleines Fräulein.« Er drückte auf eine abgegriffene Fernbedienung, die vorne auf den Armaturen lag. Das Schiebetor begann sich knirschend zu schließen.

Doktor Richardson blieb winkend hinter ihnen zurück. Vor dem Dunkelgrün des Parkdickichts leuchtete sie in ihrer gelben Kleidung wie ein Kanarienvogel.

»Was untersucht die hier eigentlich?«, wollte Nils wissen.

»Das hab ich euch doch schon erklärt«, sagte der Professor.

Nils grinste. »Da muss ich gerade … na ja, abgelenkt gewesen sein.«

Professor Rabenson stieß ein tiefes Seufzen aus. »Sie schreibt an einer Arbeit über den Bildhauer Damiano. Er hat im Mittelalter hier in der Abtei gelebt. Ihr habt doch die Steinfiguren gesehen, die überall zwischen den Bäumen stehen, oder?«

»Die mit den Teufelsfratzen?«, fragte Lisa.

»Das sind Wasserspeier. Man nennt sie auch Gargoyles. Damiano war berühmt dafür. Er hat einige hundert davon geschaffen, und man kann sie noch heute an allen großen Kathedralen Europas finden. Jeder hat sich damals um Damianos Wasserspeier gerissen, vom kleinen Geistlichen über die Kardinäle der alten Weltmetropolen bis hinauf zum Papst persönlich. Damiano war Mönch, aber zugleich wurde er einer der reichsten Männer seiner Zeit.«

»Nur durch diese … Gargäuls?«, fragte Chris.

»So spricht man sie aus, ja. Geschrieben G-A-R-G-O-Y-L-E-S.« Der Professor lächelte Chris im Rückspiegel an. »Damiano war der unumstrittene Meister der Wasserspeier. Dieses Kloster war bis unter die Dächer voll davon. Es heißt, sie standen überall, auf jedem Giebel, jeder Mauer, vor jeder Tür. Die meisten sind in Museen auf der ganzen Welt verschwunden, aber eine Hand voll steht noch immer hier in San Cosimo.«

»Ich finde die Dinger scheußlich«, meinte Lisa.

Ihr Bruder schüttelte den Kopf. »Quatsch. Die sehen besser aus als die Monster in jedem Horrorfilm.«

Nils sammelte Monstermasken aus Latex und Gummi, und die Schöpfungen Damianos hatten ihn vom ersten Tag an begeistert. Bucklige Dämonen, spindeldürre Teufel, Gruselgeschöpfe in allen Größen und Formen. Allein mit denen, die noch im Dickicht rund um das Kloster standen, hätte man eine ganze Geisterbahn ausstatten können.

»Für die Menschen des Mittelalters wirkten Damianos Gargoyles ungemein lebensecht«, erklärte der Professor. »Ihr müsst bedenken, die Leute damals waren solch einen Anblick nicht gewohnt, so ganz ohne Film und Fernsehen. Damianos Geschöpfe müssen auf sie eine ungeheure Wirkung gehabt haben, gerade weil sie so realistisch wirkten.«

»Was wollte man überhaupt mit den Viechern?«, fragte Kyra.

»Sie sollten die echten Teufel und Dämonen abschrecken«, sagte ihr Vater. »Gebäude, die mit Damianos Figuren bestückt waren, galten als sicher vor dem Einfluss des Bösen.«

Vielleicht sollten wir ein paar davon mit nach Giebelstein nehmen, dachte Kyra und strich sich über den Unterarm. Noch immer zeigte sich keine Spur von den Siegeln. Kyras verstorbene Mutter, eine erbitterte Gegnerin aller Geschöpfe der Finsternis, hatte sie ihrer Tochter und deren drei besten Freunden vererbt. Die Male warnten vor allen Kreaturen der Hölle, wirkten zugleich aber auch wie ein Magnet auf alles Böse. Seit die Kinder die Sieben Siegel trugen, mussten sie jederzeit damit rechnen, dass ihnen Dämonen und andere Schergen des Teufels nachstellten. Vor allem Kyra fühlte sich seither nirgends mehr sicher, ein Verfolgungswahn, den sie ebenfalls ihrer toten Mutter verdankte.

Der Jeep brauste über eine schmale Schotterstraße. Steine spritzten gegen das Innere der Kotflügel und verursachten einen Höllenlärm.

Um sie herum zog die herrliche Landschaft der Toskana vorüber. Gelbe und grüne Hügel erstreckten sich bis zum Horizont, gesäumt von schlanken Zypressen, die wie Messerspitzen ins Blau des Himmels stachen. Viele Hänge waren terrassenförmig angelegt, um die Bebauung mit Mais und Gerste, mit Olivenhainen und Weinreben zu erleichtern. Hoch über ihnen drehten einige Mauersegler ihre Runden.

Während Nils in Gedanken die Monsterfratzen des Damiano Revue passieren ließ und Kyra über die Geheimnisse der Sieben Siegel nachgrübelte, warf Lisa Chris verstohlene Blicke zu. Sie mochte ihn gern, weit mehr, als sie je zugegeben hätte. Sogar bei dieser Hitze trug er schwarze Kleidung – Jeans und Sweatshirt –, und sein Haar, ebenfalls schwarz, fiel ihm tollkühn in die Stirn. Obwohl Chris permanent essen konnte, wirkte er überaus sportlich – eine Tatsache, die vor allem bei Lisa und Kyra auf Unverständnis, insgeheim aber auch auf Gefallen stieß: Chris sah wirklich gut aus.

Lisa war strohblond wie ihr Bruder Nils. Manchmal beneidete sie Kyra um ihre dunkelrote Haarflut. Im Fahrtwind sah es aus, als tanzten Flammen um Kyras Kopf. Auch Chris schien dieses Schauspiel aufzufallen, denn Lisa entging nicht, dass er Kyra heimlich beobachtete. Insgeheim seufzte sie.

Bald erreichten sie Saturnia.

Die kleine Ortschaft lag idyllisch unweit eines Wasserfalls. Dampfende Fluten ergossen sich aus einer heißen Quelle in die Tiefe. Das Wasser war stark schwefelhaltig, und obgleich es hier nicht so gottserbärmlich stank wie in der Abtei, war der Geruch in der Nähe des Wasserfalls deutlich wahrzunehmen. Ein weiterer Hinweis, dass es sich bei dem Dunst aus den Tiefen des Klosters um eine natürliche Erscheinung handelte.

Professor Rabenson parkte den Jeep auf der Piazza, dem Marktplatz des Dorfes. Hohe Bäume spendeten Schatten. Vor einem Eiscafé waren einige Tische und Stühle aufgestellt. Um diese Uhrzeit versammelten sich hier die Einheimischen zur Mittagspause. Kyra entdeckte den Dorfpolizisten an einem der Tische, ebenso den Bürgermeister und seine Sekretärin. Die beiden hatten den Professor bei seiner Ankunft begrüßt; man hatte ihnen deutlich ansehen können, dass ihnen die Anwesenheit der Kinder im Kloster alles andere als recht war.

Der Professor und die vier Freunde nahmen an einem Tisch Platz und bestellten Eis für alle, außerdem kühle Getränke. Nils verzichtete diesmal auf den Kaffee. Er tat so, als bemerke er nicht, dass sie von derselben jungen Kellnerin bedient wurden wie beim Frühstück.

Faulenzend warteten sie, bis die Sonne den höchsten Punkt überschritten hatte. Professor Rabenson trank ein großes Glas Rotwein – einheimischen Chianti – dann machten sie sich wieder auf den Rückweg.

Im Jeep erzählte Nils den anderen eine seiner berühmt-berüchtigten Gruselgeschichten. Er tat das mit größter Begeisterung, und immer behauptete er, sie hätten sich genau so zugetragen.

»Es gab da mal ein Mädchen, das studierte irgendwo an einer großen Universität«, begann er. »Sie war die Schwester eines Typs, den ich aus der Schule kenne. Oder vielleicht auch seine Kusine … ist ja auch egal. Auf jeden Fall wohnte sie in einem dieser Studentenheime, ihr wisst schon, wo Jungen und Mädchen in Doppelzimmern hausen, die Jungs in einem Stockwerk und die Mädchen in einem anderen. Die Geschichte hat sich letztes Jahr zu Ostern abgespielt.«

Nils holte tief Luft, dann fuhr er fort: »Fast alle, die in diesem Wohnheim lebten, fuhren über die Feiertage nach Hause. Nur das Mädchen und ihre Zimmergenossin blieben dort. Sie wollten irgendeinen Vortrag vorbereiten, den sie gleich nach Ostern halten sollten, und so hatten sie das ganze Wohnheim für sich allein. Als es Abend wurde, beschloss die Freundin, ins Kino zu gehen – sie hatte genug von all den Büchern, die sie den Tag über gewälzt hatte. Das Mädchen aber wollte nicht mitkommen. Als ihre Freundin fortging, warnte das Mädchen sie, sie solle vorsichtig sein. Schließlich wäre es nicht das erste Mal gewesen, dass sich irgendwelche Spinner in dem ausgestorbenen Wohnheim herumgetrieben hätten. Sogar ein Mörder hatte hier vor Jahren schon Zuflucht gesucht. Die Freundin aber lachte nur und meinte, das Mädchen solle sich keine Sorgen machen. Und so wurde es Nacht.«

Erneut machte Nils eine Pause und beobachtete die Gesichter seiner Freunde. Zufrieden stellte er fest, dass seine Geschichte die anderen in ihren Bann gezogen hatte.

»Kurz nach Mitternacht erwachte das Mädchen von seltsamen Geräuschen. Schlurfende Schritte ertönten draußen auf dem Gang, dazu ein leises Stöhnen. Es war stockdunkel im Zimmer, nur durch den Türschlitz fiel das Flimmern der Notbeleuchtung vom Korridor. Das Mädchen bekam panische Angst. Die Schritte stoppten vor der Tür des Zimmers – und im gleichen Augenblick fiel dem Mädchen ein, dass es die Tür nicht abgeschlossen hatte! Es sprang auf und wollte den Schlüssel herumdrehen, doch da wurde die Tür schon einen Spalt weit geöffnet. Das grauenvolle Stöhnen wurde lauter, immer lauter, und das Mädchen stolperte rückwärts. Völlig verängstigt schloss es sich im Wandschrank ein. Die Schritte kamen näher, das Mädchen konnte sie ganz genau hören. Ja, sie kamen genau auf den Schrank zu! Und dann begann … es!«

»Was?«, brüllten die anderen im Chor.

Nils fletschte die Zähne zu einem teuflischen Grinsen. »Das Kratzen! Das Kratzen von langen Fingernägeln an der Schranktür!«

»Uuuh!«, machte Chris mit dunkler Grabesstimme und legte die Hände um Lisas Hals, als ob er sie würgen wollte. Nach außen hin tat sie erschrocken, aber insgeheim genoss sie die Berührung.

»Das schreckliche Kratzen und Stöhnen ging weiter bis zum frühen Morgen. Das Mädchen wurde fast wahnsinnig in seinem Versteck. Es betete, bis es hell wurde, und dankte dem lieben Gott dafür, dass der Schrank ein Schloss hatte. Was immer dort draußen für ein Ding war, es konnte nicht zu ihr herein! Dann, als die Sonne aufging, verstummte das Kratzen endlich. Licht fiel ins Zimmer, und das Mädchen beschloss, den Schrank zu verlassen. Doch das, was draußen gekratzt und gestöhnt hatte, war keineswegs fort!«

»Was war es?«

»Ein Irrer?«

»Ein Mädchenmörder?«

Nils grinste noch breiter. »Es war ihre Freundin. Oder besser: die Leiche ihrer Freundin! Irgendein Kerl hatte sie in der Nacht entsetzlich zugerichtet, und sie hatte sich mit letzter Kraft zurück aufs Zimmer geschleppt. Und während sich das Mädchen ängstlich im Schrank versteckte, hatte die Freundin Hilfe suchend an der Tür gekratzt, unfähig zu sprechen. Und genau so lag sie am Morgen da.«

Schweigen. Sogar Professor Rabenson hatte den Fuß vom Gaspedal genommen. Alle waren mächtig beeindruckt.

Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, sagte Nils: »Und ich schwöre, genau so ist es wirklich passiert. Beim Leben meines Lieblingshamsters!«

Das sagte er immer, und meist war das der erlösende Augenblick, in dem die anderen in Gelächter oder in Ooohs und Aaahs ausbrachen.

Lisa kicherte nervös. »Ich glaube nicht, dass ich studieren werde. Und ganz bestimmt werd ich in keinem Wohnheim wohnen.«

»Wahrscheinlich wirst du Chris heiraten und bis dahin längst drei Kinder haben«, stichelte Nils.

Lisa knuffte ihn hart in die Seite. »Wenn du so weitermachst, wirst du das nicht mehr erleben.«

Der Jeep fuhr jetzt einen Hügel hinunter. Vor ihnen erschien der Starkstromzaun des Klostergeländes. Jenseits der Metallgitter wucherte der einstige Park wie ein Stück Urzeitlandschaft. Weit im Hintergrund erhob sich die Ruine des Glockenturms aus dem Dickicht.

Doktor Richardson war nirgends zu sehen. Die Überreste eines Wasserspeiers, den sie im nahen Unterholz untersucht hatte, lagen verlassen da.

Kyras Vater öffnete das Tor mit der Fernbedienung. Nachdem sie hindurchgefahren waren, schloss es sich wieder hinter ihnen. Knisternde Entladungen zuckten über die Gittermaschen des Zauns. Alle paar Meter warnten Schilder auf beiden Seiten vor Lebensgefahr. Wer den Zaun berührte, war in Sekundenschnelle nur noch ein Häuflein Asche.

Professor Rabenson brachte den Jeep vor dem Hauptportal des Klosters zum Stehen. Die hohen Doppelflügel waren längst fort, geblieben war nur ein Steinbogen, um den sich wilde Kletterpflanzen rankten.

»Doktor Richardson?«, rief der Professor. »Doktor Richardson, wir sind wieder zurück!«

Keine Antwort.

»Sie wird gerade beschäftigt sein«, meinte der Professor schulterzuckend.

Die Kinder sprangen von der Ladefläche.

Kyra schaute sich um. »Wo steckt sie denn?«

»Vielleicht in ihrer Unterkunft.«

Studenten der Universität von Florenz hatten einige Räume im Erdgeschoss des Klosters bewohnbar gemacht. Es gab einen Stromgenerator für Heizöfen und Computer, außerdem einen großen Wassertank, der regelmäßig aufgefüllt wurde. Erhielt ein Wissenschaftler die seltene Genehmigung, in San Cosimo zu forschen, wusste er genau, was ihn erwartete: Nächte im Schlafsack auf unbequemen Klappliegen, abgestandenes Trinkwasser und an Nahrung nur das, was er selbst mitbrachte. Sicher, er konnte sich in einem Hotel in Saturnia einmieten, aber das taten die wenigsten, und ganz gewiss nicht Professor Rabenson, der schon überall auf der Welt unter weit schlimmeren Bedingungen gearbeitet hatte.

Das Zimmer von Doktor Richardson lag neben dem der Kinder. Eigentlich hätte man die Rufe von dort aus hören müssen. Das wussten die Kinder aus Erfahrung. Aber noch immer gab die Amerikanerin keine Antwort.

»Doktor Richardson!«, rief Lisa erneut. Vergebens.

Gemeinsam gingen sie in die Kapelle. Zur Erleichterung aller war der Gestank verflogen.

»Schaut mal!«, meinte plötzlich Chris.

Neben der Treppe zum Kellergewölbe lag ein zitronengelber Pullover. Also war Doktor Richardson hier gewesen. War sie dort hinuntergestiegen? Hatte sie deshalb die Rufe nicht hören können?

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