Doktor Richardsons Vermächtnis

Der Motor röhrte auf, als Chris die Vespa durch einen Seiteneingang ins Innere der Ruine lenkte. Knatternd schoss das gelbe Gefährt den verfallenen Korridor entlang. Das Tageslicht blieb zurück. Nur durch leere Türrahmen fiel hier und da ein sanfter Schimmer, in den Räumen dahinter waren die Bretterverschläge vor den Fenstern verrottet und auseinander gebrochen. Seit Jahrhunderten war hier nichts mehr repariert worden.

Chris schaltete den Scheinwerfer des Rollers an. Ein gelber Strahl fraß sich durch die Schatten. Staub wirbelte auf. Immer wieder huschten Ratten vom Gang in die ausgestorbenen Zimmer.

Ein Geruch von Alter und Fäulnis hing in der Luft. Dieser Teil der Klosterruine war offenbar seit Jahren nicht mehr betreten worden. Forscher, die nach San Cosimo kamen, waren meist an den alten Mosaiken und Fresken im Südflügel interessiert, an Damianos Wasserspeiern im Park oder an der Kapelle im Zentrum des Innenhofs. Hierher jedoch kam niemand.

Nicht einmal die Gargoyles.

Wenigstens schien es so. Ungehindert gelangte Chris ans Ende des Korridors, bog nach rechts ab und raste weiter durch den Hauptgang des Nordflügels. Auch hier bot sich ihm das gleiche Bild: knöchelhoher Staub und Schmutz auf dem Boden, offene Türen, an manchen Stellen noch ein leerer Fackelhalter an den Wänden. Möbelstücke oder Zierrat gab es nicht. Was nicht zerfallen war, war schon lange von Räubern davongetragen worden. Erst seit die Universität von Florenz den Elektrozaun hatte errichten lassen, kamen keine unerwünschten Besucher mehr hierher.

In der Mitte des Nordflügels mündete der Korridor in eines der Treppenhäuser. Die Wand zum Innenhof war eingestürzt, Sonnenschein fiel herein.

Inmitten des Lichts saß ein Gargoyle und blickte dem herandröhnenden Motorroller entgegen.

Chris gelang es im letzten Moment, den Lenker herumzureißen. Die Vespa legte sich schräg und schlitterte seitwärts auf das Wesen zu. Keinen Meter von der Kreatur entfernt blieb sie liegen, ihren Fahrer halb unter sich begraben.

Der Körperbau des Gargoyles ähnelte dem eines kleinwüchsigen Menschen. Seine Haut war grau und faltig wie bei einem Elefanten. Chris hatte als Kind einmal eine Teufelspuppe geschenkt bekommen, eine Handpuppe für ein Kasperlespiel – ihr Gesicht hatte genau so ausgesehen wie das des Gargoyles. Wulstige Lippen und eine spitze Hakennase, dazu Augen, die tief in ihren Höhlen lagen. Aus der flachen Stirn des Wesens stachen zwei kurze Widderhörner.

Die Kreatur saß im Schneidersitz am Boden, wiegte sich unmerklich hin und her und blinzelte leicht, wohl wegen der ungewohnten Helligkeit.

Chris strampelte wie wild, um unter der umgekippten Vespa hervorzuklettern. Als es ihm endlich gelang, wich er mit schnellen Sprüngen nach hinten zurück. Er hatte sich beide Knie aufgeschürft, sie schmerzten bei jedem Schritt.

Der Gargoyle blieb sitzen. Wiegte sich schweigend vor und zurück. Er schien zu überlegen.

Chris erreichte die Mündung des Korridors und warf einen kurzen Blick über die Schulter. Noch immer nahm das Wesen nicht die Verfolgung auf.

Das Teufelsmaul der Kreatur verzog sich zu einem Grinsen.

Dann streckte sie Chris die Zunge heraus.

 

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