Gegen die Zeit

»Chris?« Lisa schaute sich mit Tränen in den Augen um. »Wo bist du, Chris?«

Nils stieß von hinten zu ihr. Gemeinsam betrachteten sie die Schneise, die Chris’ Körper beim Sturz in das Unterholz gerissen hatte. Beide waren ratlos und verzweifelt.

Auch Kyra trat hinzu. Ihr Vater humpelte hinter ihr her, auf einen langen Ast gestützt.

»Wo steckt er?«, fragte sie.

Lisa folgte der Schneise bis zu ihrem Ende. »Hier muss er gelegen haben.«

Nils wurde bleich. »Glaubt ihr, die Gargoyles haben ihn …?«

In einem Anflug von Panik wirbelten alle herum, betrachteten argwöhnisch die Umgebung. Jeder rechnete mit einem plötzlichen Angriff.

Doch die Büsche blieben ruhig. Keine Pranken, die das Geäst auseinander rissen. Kein stinkender Raubtieratem, der die Blätter zum Welken brachte.

Kyra trat an den beiden Geschwistern vorbei und teilte das Dickicht am Ende der Schneise.

»Hier sind Spuren«, stellte sie fest.

Lisa war sofort bei ihr. »Sie führen zurück zum Kloster … Scheiße, was ist denn in den gefahren?«

»Wahrscheinlich hat er sich beim Sturz das Hirn angeschlagen«, bemerkte Nils missmutig.

Kyra schüttelte den Kopf. Chris musste gesehen haben, dass die Fernbedienung noch im Jeep gelegen hatte – zu spät, um selbst danach zu greifen. Und jetzt tat er das einzig Richtige: Er lief zurück zum Kloster, um das zweite Gerät zu finden.

In wenigen Worten erzählte sie Lisa und Nils, dass sie das Tor im Augenblick nicht öffnen konnten. Beide wurden kreidebleich, sagten aber nichts. Sogar Nils, der sonst immer schnell mit Vorwürfen zur Hand war, hielt sich zurück.

»Und du glaubst, er will die Fernbedienung von Doktor Richardson holen?«, fragte Lisa schließlich.

»Ihr wisst doch, wie er ist. Wahrscheinlich hat er ein schlechtes Gewissen, weil er nicht daran gedacht hat, das Ding aus dem Wagen mitzunehmen.«

»So ein Unsinn!«, entfuhr es Lisa erbost. »Keiner von uns hat dran gedacht.«

Kyra zuckte die Achseln. »Jemand, der Chrysostomus Guldenmund heißt, kann gar kein unkomplizierter Mensch sein.«

Chrysostomus war Chris’ voller Name. Sein Vater hatte gerade als Diplomat in Griechenland gearbeitet, als sein Sohn geboren wurde. Chrysostomus war griechisch und bedeutete goldener Mund, eine Übersetzung seines Nachnamens.

»Wir müssen hinterher«, entschied Kyra.

Der Professor räusperte sich. »Ich glaube nicht, dass ich allzu weit laufen kann.« Er stützte sich mit der Hand gegen einen Baumstamm, hob seine Astkrücke und fuchtelte damit hilflos in der Luft. »Aber ich kann euch doch auch nicht allein gehen lassen …«

»Klar kannst du«, widersprach Kyra. »Wir schaffen das schon.«

Nils sah nicht aus, als wäre auch er dieser Ansicht. Er seufzte leise.

»Sie müssen sich hier verstecken«, sagte Lisa zum Professor. »Wenn wir zurückkommen, holen wir Sie wieder ab.«

Kyra stimmte zu. »Das ist das Beste. Du würdest uns nur aufhalten.«

Ihr Vater lächelte gequält. »Oh, recht herzlichen Dank, junge Dame.«

Kyra umarmte ihn, vorsichtig, damit sie nicht an sein Knie stieß. »Das ist doch nicht deine Schuld«, sagte sie leise. »Komm, wir suchen einen Platz, wo dich keiner findet.«

Nils schaute sich um. Er entschloss sich für die Richtung, die zum Zaun führte, und zerrte das Laubwerk auseinander.

Dann stieß er einen gellenden Schrei aus.

Zwischen den Ästen glotzte die groteske Fratze eines Gargoyles auf ihn herab.

Kyra fing sich als Erste. »Der ist nur aus Stein. Darauf sind Lisa und ich unten in der Werkstatt auch schon reingefallen.«

Nils atmete tief durch. »Tut mir Leid. Einen Moment lang dachte ich …«

»Schon gut«, besänftigte ihn Kyra. »So geht’s uns allen.«

Sie halfen dem Professor, sich am Fuß der Statue ins Unterholz zu setzen. Dann zogen sie die Äste vor ihm zusammen wie einen Vorhang.

»Sitzt du gut?«, fragte Kyra.

»Wie im Kaschmirsessel eines Ölscheichs«, erklang es dumpf jenseits der Blätter. »Obwohl mir ein Schleudersitz lieber wäre.«

Kyra lächelte. »Bis später.«

»Viel Glück!«, rief der Professor.

»Ja«, meinte Nils leise, »das werden wir brauchen.«

Die drei machten sich auf den Weg. So leise wie möglich kehrten sie auf den Pfad zurück, der das Kloster mit dem Haupttor verband. Deutlich waren die Spuren des Jeeps zu sehen, der rechts und links die Äste abrasiert und den Boden aufgewühlt hatte. Auch die Krallenabdrücke der Gargoyles hatten sich tief ins trockene Erdreich gegraben.

Zögernd schauten sie sich um. Soweit der Weg einzusehen war, gab es keine weiteren Verfolger.

Verteilten sich die übrigen Kreaturen aus den Katakomben gerade auf dem Gelände der Abtei? Wie viele würden den Tod finden, während sie versuchten, über den Zaun zu klettern? Und wie viele würden einfach darüber hinwegfliegen und ihre Opfer in Saturnia suchen?

Liebe Güte, dachte Kyra, was haben wir getan? Dieser Kerker hätte niemals geöffnet werden dürfen. Was, zum Teufel, hatte sich Doktor Richardson nur dabei gedacht?

Sie hatten kaum fünfzig oder sechzig Meter zurückgelegt, als sie zwischen den Ästen einen dunklen Umriss entdeckten.

»Das ist einer von denen!«, flüsterte Nils alarmiert.

Aber Lisa, die die schärferen Augen besaß, lächelte plötzlich. »Chris!«, entfuhr es ihr erleichtert.

Die Gestalt blieb stehen und drehte sich um. Dann machte sie einige Schritte auf die Freunde zu und trat durch die Blätterwand.

»Ihr hättet warten sollen«, sagte Chris ein wenig atemlos. Er hatte Kratzer auf den Wangen. Seine Kleidung war von dem Sturz völlig verdreckt.

»Warum bist du abgehauen?«, fragte Nils.

»Weil ich’s vermurkst habe«, erwiderte er. »Ich wollte –«

»Doktor Richardsons Fernbedienung holen«, führte Kyra seinen Satz zu Ende. »Das wissen wir. Aber meinst du nicht, zu viert ständen unsere Chancen besser? Außerdem: Du hast überhaupt nichts vermurkst. Du hast uns das Leben gerettet.«

Chris schaute beschämt zu Boden. Dann, mit einem Mal erschrocken, fragte er:»Wo ist dein Vater? Es geht ihm doch gut, oder?«

Kyra klärte ihn kurz über alles auf, dann setzten sie den Weg zum Kloster gemeinsam fort. Chris war sichtlich hin und her gerissen zwischen seiner Erleichterung, dass die Freunde bei ihm waren, und seinem gekränkten Ehrgefühl. Kyra fand das ziemlich albern – schließlich waren sie keine Musketiere oder Ritter der Tafelrunde. Außerdem ging es um ihrer aller Leben.

»Was, wenn Doktor Richardson das Gerät bei sich trug, als sie … sie –« Lisa brach ab. »Na ja, eben als sie im Keller war.«

Chris schüttelte den Kopf. »Das Ding liegt in ihrem Zimmer. Sie hat niemals mehr mit sich herumgeschleppt, als unbedingt nötig war. Das hat sie immer gesagt.«

Kyra verzog den Mund. »Wie sonst hätte sie auch ständig diese kurzen Shorts und knappen Tops tragen können.«

Einen Moment lang schwiegen sie betroffen bei der Erinnerung an die Tote. Dann deutete Nils plötzlich nach vorne.

»Da ist das Kloster.«

Die braunen Mauern waren am Ende des Weges deutlich zu erkennen. Der Tunnel zum Innenhof lag verlassen da. Auch sonst gab es kein Anzeichen von Leben.

»Wo sind die alle hin?«, fragte Lisa mit zittriger Stimme.

Auch den anderen war bei diesem Versteckspiel mehr als unwohl zu Mute. Wenn man einen Gegner sah, konnte man wenigstens vor ihm davonlaufen. So aber schwirrten in ihren Köpfen nichts als Ahnungen einer vagen Bedrohung.

»Vielleicht sind schon alle ausgeflogen«, meinte Nils.

»Die beiden kleinen Gargoyles, die hinter dem großen herliefen, sahen nicht aus, als ob sie fliegen könnten«, entgegnete Lisa.

Kyra stimmte zu. »Ihre Flügel waren verkümmert. Kein Wunder, nach der langen Zeit in den Kerkerlöchern. Ich glaube nicht, dass viele von denen überhaupt noch in die Luft kommen.«

Chris grinste bitter. »Soll uns das nun freuen oder nicht?«

Das war eine berechtigte Frage. Zum einen verminderte das die Gefahr für die Außenwelt, denn über den Starkstromzaun kamen die Kreaturen nicht hinweg. Andererseits aber würde das Abteigelände bald nur so wimmeln von mordlustigen Bestien, die gewiss nicht glücklich darüber waren, hier eingesperrt zu sein.

»Hey«, meinte Nils bitter, »da können wir doch verdammt noch mal froh sein für die Leute in Saturnia! Und wenn wir uns noch freiwillig auffressen lassen, sind die Viecher vielleicht so satt, dass sie nicht mal versuchen werden auszubrechen.«

Alle schwiegen betreten. Erst allmählich wurde ihnen bewusst, wie aussichtslos ihre Lage war.

»Seht mal, da drüben«, sagte Chris, als sie sich nebeneinander an den Rand des Dickichts kauerten und das Klosterportal beobachteten.

Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf einen zitronengelben Motorroller, der unweit der Tunnelöffnung an der Mauer stand.

»Doktor Richardsons Vespa«, sagte Nils. »Na und? Wir können ja wohl kaum zu fünft darauf abhauen.«

»Wer redet denn von abhauen?«

»Was denn sonst? Wolltest du eine Spritztour machen?«

Chris schenkte Nils einen finsteren Blick. »Die Monster sind schnell. Verflucht schnell. Und die Unterkünfte liegen im Ostflügel, also auf der anderen Seite. Es ist ein ganz schönes Stück bis dahin.«

Kyra ahnte, welchen Plan er hatte. »Du meinst, einer von uns sollte auf der Vespa durchs Kloster fahren? Ist das dein Ernst?«

»Ich werd’s versuchen«, sagte Chris. Sein Tonfall verriet, dass er keinen Widerspruch duldete. »Mit dem Motorroller bin ich vielleicht schneller als die Gargoyles. Auf jeden Fall schneller als zu Fuß.«

»Und ungefähr hundertmal lauter«, wandte Lisa ein. »Die werden sofort wissen, dass du da bist – und wo du bist.«

»Die meisten von denen sind sicher noch im Keller. Vielleicht haben sie Angst vor dem Licht. Ich meine, die waren jahrhundertelang eingesperrt …« Chris schaute wieder zu der gelben Vespa hinüber, so, als rase er darauf in Gedanken schon durch die Klostergänge. »Aber wer weiß, wie lange es noch dauert, bis sie sich mit dem Gedanken an Sonnenschein angefreundet haben. Spätestens dann müssen wir hier weg sein. Begreift ihr denn nicht? Wir haben keine Zeit mehr!«

Kyra sah ein, dass er Recht hatte. »Gut. Aber warum ausgerechnet du?«

»Weil ich schon auf so einem Ding gefahren bin«, erwiderte er und zeigte auf die Vespa. »Na ja, zumindest auf ein paar Mofas. Nicht in allen Ländern, in denen ich mit meinen Eltern gewohnt hab, sieht man das so streng wie in Deutschland.«

Dagegen ließ sich kaum etwas einwenden. Weder Kyra, Nils noch Lisa wussten, wie man einen Motorroller bedient.

Kyra nickte Chris zu. »Dann versuch’s. Und bring alles mit, das uns irgendwie helfen könnte. Doktor Richardson beschäftigt sich schon seit Jahren mit Damiano und seinen Wasserspeiern. Vielleicht steht in ihren Unterlagen irgendwas Nützliches.«

»Okay.« Nils schenkte Chris ein aufmunterndes Lächeln. »Manchmal bist du … na ja, ziemlich klasse.«

Dies ausgerechnet von Nils zu hören, mit dem er sich ständig in der Wolle hatte, schien Chris zu irritieren. Dann aber erwiderte er Nils’ Grinsen, und alle sahen ihm an, dass er sich über das Lob freute.

Lisa dagegen wirkte bedrückt. »Du passt doch auf dich auf, oder?«

Chris hob die Hand und griff sanft hinter Lisas Ohr, so, als wollte er ihr über das strohblonde Haar streicheln. Dann jedoch zog er die Finger schnell wieder zurück. In seiner Handfläche lag der steinerne Krallenfinger eines Wasserspeiers. »Das steckte hinter deinem Ohr. Behalt’s als Glücksbringer.«

Lisa nahm es verwirrt entgegen. »Hinter meinem Ohr?«

Kyra schenkte Chris einen zweifelnden Blick. »Konntest du so was schon immer? Zauberkunststücke, meine ich.«

Er grinste noch breiter und schob sich eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn. »Nee, ganz plötzlich. Seit … ja, seit wir die Siegel tragen.«

Damit wandte er sich ab und lief los, über den schmalen Grasstreifen zwischen Dickicht und Klostermauern, geradewegs auf das Portal und den Motorroller zu.

Seine drei Freunde starrten ihm hinterher, Lisa und Nils angstvoll, Kyra nachdenklich.

Also haben die Sieben Siegel auch Chris verändert, dachte Kyra. Sie hatte sich die ganze Zeit über gefragt, welche Wandlung wohl mit ihm vorgehen mochte.

Lisa war, seit sie die Siegel trug, selbstbewusster geworden, außerdem ein Ass im Lösen von kniffligen Rätseln. Nils hatte seinen früheren Leichtsinn verloren und war jetzt die Vorsicht in Person. Dagegen wurde Kyra mehr und mehr zum Ebenbild ihrer toten Mutter, zumindest innerlich: verbissen im Kampf gegen die Mächte des Bösen, manchmal bis an die Grenze zur Besessenheit.

Und Chris … nun, er also zauberte plötzlich. Dazu brauchte es ungeheures Fingergeschick. Die Sache mit dem Steinfinger hinter Lisas Ohr war nur ein Scherz gewesen, ein Kinderspiel; aber vielleicht konnte er sein neues Talent auch in ernsthafteren Situationen nutzen. Möglicherweise würde er sie noch das eine oder andere Mal mit seinen neu erworbenen Fertigkeiten überraschen.

Immer vorausgesetzt, die Gargoyles bekamen ihn nicht in die Finger.

Kyra sah, wie Chris ihnen zuwinkte. Das sollte wohl bedeuten, dass der Schlüssel im Zündschloss steckte.

Und, tatsächlich, nur Augenblicke später schwang sich Chris in den Sattel und ließ den Motor an.

Mit durchdrehenden Reifen raste er vorwärts.

Der Tunnel verschluckte ihn wie der Schlund eines Urzeitwesens.