Nils kicherte, und Lisa musste sich sehr beherrschen, um nicht mit einzufallen. Auch Chris verzog das Gesicht und schaute eilig in eine andere Richtung.

»Kinder, wo bleibt ihr denn?«, rief der Professor im selben Moment über seine Schulter.

Widerwillig schlossen die vier zu ihm auf und versammelten sich rund um die Öffnung. Der Geruch war unangenehm, aber gerade noch zu ertragen.

»Leuchte mal mit der Lampe hinunter«, sagte Kyra.

Ihr Vater lenkte den Strahl in die Tiefe. Nach einigen Metern fiel der Lichtkreis auf soliden Untergrund. Zumindest war der Schacht nicht bodenlos.

Chris ging in die Hocke und versuchte, seitlich in das Loch zu spähen. »Es ist ein Gang«, sagte er. »Scheint nach Norden zu führen. Auf den drei anderen Seiten sind überall Wände rund um die Öffnung.«

Der Professor zeigte am Strahl entlang nach unten. »Das da sieht aus, als wär’s mal eine Leiter gewesen.«

Tatsächlich ließen sich im Schein der Lampe ein paar zerbrochene Holzsprossen erkennen. Mit viel Fantasie mochte es sich um Überreste einer alten Leiter handeln.

»Was glaubt ihr, wie tief das ist?«, fragte Lisa.

»Drei Meter«, meinte Kyra. »Ungefähr.«

Professor Rabenson zog die Lampe zurück und leuchtete reihum auf die Kinder. »Wir haben doch die Alu-Leiter, oben am Portal.«

»Du willst wirklich da runter?«, fragte Kyra zweifelnd. Sie horchte schon die ganze Zeit auf verdächtige Geräusche in der Tiefe. Aber dort unten herrschte völlige Stille. Sie war nicht sicher, ob sie das beruhigen oder nur noch mehr verunsichern sollte.

»Ich mache mir nun mal Sorgen um Doktor Richardson«, entgegnete ihr Vater.

Nils witterte eine Chance, das Abenteuer an dieser Stelle zu beenden. »Sie ist doch bestimmt nicht einfach runtergesprungen«, sagte er. »Sie wird sich irgendwo in den Ruinen rumtreiben. Ich meine, sie hat schließlich eine Brille … Vielleicht hört sie ja auch schlecht.«

Die strafenden Blicke der anderen brachten ihn zum Schweigen. Missmutig trat er von einem Fuß auf den anderen.

Professor Rabenson dachte laut nach: »Vielleicht wollte sie nachsehen, woher der Gestank kommt. Sie ist hier runtergegangen und durch die Gase bewusstlos geworden.«

»Du denkst, sie sei in das Loch gefallen?«, fragte Kyra. »Dann müsste sie aber immer noch dort unten liegen, oder nicht? Es sei denn, sie hat es irgendwie geschafft und doch die alte Leiter benutzt.«

Ihr Vater seufzte und traf seine Entscheidung. »Egal. Wir müssen nachsehen, das ist unsere Pflicht. Chris und ich holen die Alu-Leiter, ihr anderen wartet hier.« Damit drückte er Kyra die Taschenlampe in die Hand und gab Chris mit einem Wink zu verstehen, dass er ihm folgen sollte.

Chris wechselte einen flüchtigen Blick mit Kyra, zuckte dann mit den Schultern und lief hinter dem Professor her.

Die drei anderen blieben allein am Rande der Öffnung zurück.

Nils schmollte mal wieder. »Wir werden tagelang nach Schwefel stinken.«

Seine Schwester starrte ihn ungläubig an. »Ist das wirklich dein einziges Problem?«

»Wenn ich sage, dass ich Schiss habe, weiß ich schon genau, was Kyra antworten wird.« Er imitierte sie mit unheilschwangerer Stimme: »Haben wir denn eine andere Wahl?«

Kyra lächelte flüchtig, obwohl ihr nicht danach zu Mute war. »Wir haben doch auch keine, oder? Die Siegel werden dafür sorgen, dass es uns folgt – was immer es auch sein mag. Wahrscheinlich hat es längst Witterung aufgenommen.«

»Oh, das macht mir Mut«, schnappte Nils.

Alle drei versanken in Schweigen.

Noch immer drang kein Laut aus der Tiefe. Nicht der leiseste verräterische Ton.

Wenn Doktor Richardson wirklich dort unten war, stand es mit ziemlicher Sicherheit nicht allzu gut um sie.

Zwei, drei Minuten vergingen, dann polterte es plötzlich hinter ihnen in der Finsternis. Erschrocken rasten ihre Blicke herum. Der Lichtstrahl der Lampe fingerte unruhig ins Dunkel und blieb schließlich an Professor Rabenson haften, der fluchend auf seinem Hinterteil saß. Das Ende der Leiter war ihm beim Stolpern aus den Händen geglitten. Die scharfe Aluminiumkante hatte ihm das linke Knie aufgeschlagen. Ein Blutfleck sickerte durch den Stoff seiner khakifarbenen Leinenhose.

»Nun leuchte schon in eine andere Richtung!«, rief er unwirsch zu Kyra herüber. »Oder soll ich zu allem Übel auch noch blind werden?«

Die drei eilten zu ihm. Nils hob das Ende der Leiter hoch und legte das sperrige Gerät mit Chris’ Hilfe beiseite.

»Tut’s sehr weh?«, fragte Lisa besorgt und betrachtete das Knie des Professors.

»Ich kann nicht aufstehen.«

»Glaubst du, es ist irgendwas gebrochen?«, fragte Kyra.

Er presste mit den Fingern vorsichtig auf die Verletzung und stöhnte vor Schmerz. »Nein, ich glaube nicht. Aber das Knie schwillt an wie ein Luftballon.«

Chris trat neben ihn. »Nils und ich bringen Sie zum Jeep. Im Erste-Hilfe-Kasten müsste es irgendwas geben, um die Wunde zu verarzten.«

Professor Rabenson warf einen bedauernden Blick zur Öffnung hinüber, dann nickte er schweren Herzens. »Das wird wohl das Beste sein.«

Die beiden Jungen halfen ihm beim Aufstehen und stützten ihn auf dem Weg nach oben. Der Professor konnte mit dem verletzten Bein kaum auftreten. Er stöhnte bei fast jedem Schritt, ab und zu fluchte er steinerweichend. Auch Nils und Chris keuchten. Der Professor wog mindestens hundert Kilo.

Kyra und Lisa blieben mit Lampe und Leiter zurück.

»So langsam, wie die vorankommen, werden sie zwei Stunden brauchen, ehe sie wieder hier unten sind«, meinte Lisa.

Kyra leuchtete an der Leiter entlang. »Komm, wir tragen sie zum Loch«, schlug sie vor.

Lisa half ihr ohne große Begeisterung. »Sollen wir sie schon runterschieben?«

Kyra wusste, was ihre Freundin meinte. Wenn dort unten etwas war – oder jemand –, würden sie ihm damit den Weg herauf erleichtern. Das musste nun wirklich nicht sein.

Sie legten die Leiter am Rand der Öffnung ab. »So, das reicht«, sagte Kyra.

Lisa nickte erleichtert und schaute zurück in die Richtung, in der die Jungen den Professor davonschleppten. Ihre winzigen Umrisse hoben sich in der Ferne vom Zwielicht des Kellerausgangs ab.

»Und nun?«, fragte sie leise.

Kyra zuckte die Achseln. »Warten. Was sonst?«

Am Ende des Ganges stiegen die drei Silhouetten mühsam die Treppe hinauf und verschwanden. Die Mädchen waren allein.

»Ich hab Angst«, gestand Lisa.

»Ich auch.«

»Es ist nicht mal die Dunkelheit. Auch nicht so sehr das Loch. Es sind vielmehr –«

»Die Siegel?«, führte Kyra Lisas Satz zu Ende.

»Ja. Ich denke schon. Glaubst du, wir werden sie jemals wieder los?«

Kyras Mutter hatte die magischen Male bis zu ihrem Tod getragen. Daher war es unwahrscheinlich, dass sie je von selbst verschwinden würden.

Trotzdem erwiderte Kyra unentschlossen: »Wer weiß.«

»Ich meine, klar, sie erscheinen nur, wenn eine Gefahr droht«, sagte Lisa. »Aber ist es nicht manchmal besser, nicht zu wissen, dass es gefährlich wird?« Sie lächelte nervös. »Klingt ein bisschen verrückt, oder?«

»Ich weiß, was du meinst«, entgegnete Kyra. »Das würde einem die ganze Angst ersparen. Aber es macht einen vielleicht auch unvorsichtig.«

Lisa lachte bitter und deutete auf das Loch und auf die Leiter. »Nennst du das etwa vorsichtig?«

Kyra nahm ihre Hand und tätschelte sie aufmunternd. Sie wusste nicht, was sie darauf hätte erwidern können. Lisa hatte natürlich Recht. Manchmal ging Kyra tatsächlich unnötige Risiken ein. Aber es war eine Sache, das zu wissen, und eine ganz andere, es zuzugeben. Vor allem, wenn man sich alle Mühe gab, seiner Mutter nachzueifern – und diese Mutter dummerweise die gefürchtetste Dämonenjägerin seit Jahrhunderten gewesen war.

Sie standen eine Weile lang schweigend im Dunkeln und warteten auf die Rückkehr der Jungen. Besser, sie entschieden zu viert, was sie als Nächstes tun würden. Bei aller Sorge um Doktor Richardson würde es Kyras Vater gewiss nicht recht sein, wenn die Kinder allein ins Untergeschoss der Katakomben stiegen.

Lisa öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, als ein gellender Schrei ertönte.

Der Schrei einer Frau!

Er kam von unten, aus der Tiefe des Kellers.

Lisa versteifte sich wie einer von Damianos Wasserspeiern.

»War das –?«

Kyra nickte abgehackt. Eiskaltes Grauen stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Doktor Richardson!«

»Dann ist sie wirklich … da unten?«

Darauf bedurfte es keiner Antwort. Kyra überwand sich und schob die Leiter über die Kante der Öffnung.

Lisa zitterte am ganzen Leib. »Vielleicht haben wir uns getäuscht«, flüsterte sie kleinlaut.

Die Frau kreischte zum zweiten Mal – dann brach ihr Schrei abrupt ab.

Totenstille wehte aus dem Loch empor.

»Sie ist …«, stammelte Lisa.

»Sag’s nicht«, erwiderte Kyra. »Wir müssen nachsehen.«

»Und die anderen?«

»Bis die zurück sind, ist es vielleicht zu spät.«

Das Leiterende stieß in der Tiefe auf Widerstand. Kyra rüttelte prüfend daran, dann nickte sie. »Ich gehe zuerst.«

Lisa blieb stumm. Angstvoll sah sie zu, wie ihre Freundin die oberen Sprossen hinabstieg, ein letztes Mal zu ihr aufschaute und schließlich in der Öffnung verschwand.

Mit ihr verschwand das Licht der Taschenlampe.

Lisa stand plötzlich allein in völliger Dunkelheit.

Schweren Herzens gab sie sich einen Ruck. Dann setzte sie den ersten Fuß auf die Leiter und folgte Kyra in den Abgrund.