Lisa ging neben ihm in die Knie, während ihre Freunde verständnislos von einem zum anderen blickten. Mit ihren Fingern fuhr Lisa den Verlauf des Musters nach.

»Wie wär’s, wenn uns jemand ein paar Worte dazu sagen würde?«, schlug Kyra ungeduldig vor.

Chris keuchte. »Könnten wir nicht langsam aus diesem Gestank verschwinden?«

»Gestank?«, fragte der Professor irritiert. Vor Begeisterung hatte er den Schwefelgeruch gar nicht wahrgenommen.

Lisas Blick blieb fest auf das Muster gerichtet. »Es ist eine Karte«, sagte sie. »Seht ihr das denn nicht?«

Sie war während der vergangenen Tage mehrfach allein mit dem Professor hier unten gewesen. Während ihre Freunde sich auf dem überwucherten Gelände der Klosterruine herumgetrieben hatten, war sie mit Kyras Vater durch den Keller gestreift, immer auf der Suche nach Rätseln, die es zu lösen galt. Rätsel waren neuerdings Lisas große Leidenschaft.

Das war nicht immer so gewesen. Erst seit sie und die drei anderen zu Trägern der Sieben Siegel geworden waren – magischen Malen, die durch einen Zauber auf ihre Unterarme gebrannt worden waren –, hatte sie diese übermäßige Begeisterung für vertrackte Geheimnisse, uralte Buchstabencodes und antike Bilderrätsel entwickelt.

»Eine Karte?«, fragte Nils verwundert.

»Ich sehe gar nix«, meinte Chris.

»Lisa hat Recht.« Professor Rabenson stand auf und drehte sich zu den Kindern um. Das Licht der Taschenlampe fiel von unten über seine runden Züge. Sein Kopf war vollkommen kahl, deshalb trug er die meiste Zeit einen Schlapphut – es war immer noch derselbe wie auf den Fotos in seinen Büchern. Dieser Hut hatte ihn bisher auf all seinen Reisen begleitet, lange bevor Indiana Jones einen Hut zum unentbehrlichen Utensil aller Kino-Abenteurer gemacht hatte.

Der Professor trug einen mächtigen Schnauzbart, außerdem eine Art Tropenanzug, der hier in Italien eher fehl am Platze wirkte. In seinem linken Ohrläppchen steckte ein goldener Ring, von dem er behauptete, er sei ihm vor langer Zeit von einem Piraten im Südchinesischen Meer geschenkt worden.

»Es ist eine Karte«, bestätigte er noch einmal.

»Eine Karte von was?«, fragte Kyra.

»Vom Fußboden dieses Kellers. Das gesamte Muster des Mosaiks ist an dieser Stelle noch einmal verkleinert dargestellt. Es sieht aus, als sei es einfach nur ein Bestandteil des großen Musters, aber das ist es nicht. Es zeigt die gleichen Schnörkel und Schleifen und Spiralen, nur in einem kleineren Maßstab.«

»Und?«, fragte Nils.

Der Professor hob eine Augenbraue und schenkte ihm einen missbilligenden Blick. »Sieh genau hin, mein Junge. Dann wird es dir auffallen.«

Nils trat mit einem Seufzen um den Professor herum und bückte sich. Als er mit bloßen Augen nichts Ungewöhnliches erkennen konnte, strich er vorsichtig mit den Fingerspitzen über die Mosaiksteine.

»Hier ist eine Vertiefung«, sagte er schließlich und zeigte auf einen hellen Steinsplitter, der etwa zwei Zentimeter tief in den Boden eingelassen war.

»Sehr gut«, lobte der Professor. »Eine Markierung.«

»Ein Lageplan?«, fragte Chris.

»Für einen Schatz?«, fügte Nils aufgeregt hinzu.

Kyra atmete tief durch. »Wir sollten versuchen, die gleiche Stelle in dem großen Muster zu finden.«

Nur Lisa blieb kritisch. »Das Kloster ist uralt. Vielleicht ist es ein Zufall, und der Boden ist an dieser Stelle eingesackt.«

»Genau unter diesem einzelnen Stein?«, warf der Professor ein. »Das Stück ist höchstens zwei mal zwei Zentimeter groß. Rundherum ist alles eben. Nein, Lisa, es ist ein Zeichen. Und ich weiß auch schon, wofür.«

Die vier Freunde starrten ihn verblüfft an.

»Du hast schon nachgesehen?«, fragte Kyra aufgeregt.

Ihr Vater nickte. »Kommt, ich zeig’s euch.«

Er führte sie quer durch den Gewölbekeller und blieb schließlich an einer Stelle stehen, an der zwei Spiralmuster ineinander mündeten – genau wie in der Verkleinerung.

Der Professor bückte sich. Seine Hände glitten in zwei Mulden.

»Sind das Griffe?«, fragte Nils neugierig.

Kyras Vater nickte. »Es gibt noch mehr davon. Hier … und hier! Wenn ihr Jungs mit anpackt, können wir vielleicht –«

»Eine Falltür öffnen!«, fiel Chris ihm aufgeregt ins Wort.

»Irgendwas in der Art, ja«, bestätigte der Professor. »Mir scheint, dass unter diesem Teil des Mosaiks eine lockere Bodenplatte verborgen liegt. Ich glaube, wir könnten sie zusammen anheben.«

Lisa knetete nachdenklich ihr Kinn. »Was kann denn darunter sein? Ein Grab?«

»Schon möglich«, erwiderte der Professor. »Vielleicht die Gruft eines alten Etruskerfürsten.«

»Aber die Etrusker haben hier vor über zweitausend Jahren gelebt!«, warf Kyra ein. »Wieso sollte einer von denen ausgerechnet hier begraben sein, in einem Kloster, das erst viel später erbaut worden ist? Das ergibt doch keinen Sinn.«

Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Die ganze Toskana ist übersät mit den Überbleibseln der etruskischen Kultur. Überall gibt es Felsengräber, uralte Kultstätten und andere Relikte. Warum nicht auch hier? Vielleicht haben die Mönche ihr Kloster einfach auf einem religiösen Kultplatz der Etrusker errichtet. So was hat es überall auf der Welt immer wieder gegeben, auch in Deutschland. Kirchen, die auf keltischen Heiligtümern stehen, zum Beispiel. Kathedralen auf den Überresten längst versunkener Zivilisationen … Das ist nichts Besonderes.«

Kyra hob die Schultern. »Wenn du das sagst.« Aber ganz wohl war ihr noch immer nicht bei der Sache.

Chris und Nils gingen neben dem Professor in die Hocke.

Nils bemerkte, dass dort, wo er zupacken wollte, bereits ein schmaler Spalt klaffte. »Haben Sie es schon allein versucht?«, fragte er, an den Professor gewandt.

»Vorhin, ja. Aber allein war ich nicht stark genug.«

Chris beugte sich über den schwarzen Spalt und schnüffelte daran. Er zuckte angewidert zurück. »Puuh!«, entfuhr es ihm. »Daher kommt also der Gestank!«

Der Professor roch ebenfalls daran. »Tatsächlich. Das hatte ich noch gar nicht bemerkt.«

Kyra verdrehte die Augen.

»Also«, sagte Nils, »was ist jetzt? Heben wir die Platte nun hoch oder nicht?«

»Natürlich.« Der Professor zählte von drei rückwärts, und bei eins stemmten sie die Platte gemeinsam beiseite.

Die beiden Mädchen sprangen hastig zurück, als ein unerträglicher Stinkschwall ins Freie strömte.

»Uuuh!«

Auch der Professor und die Jungen verzogen die Gesichter. Angeekelt ließen sie die Steinscheibe fallen.

Im Boden hatte sich eine Öffnung aufgetan, ungefähr zwei Meter im Quadrat. Der Gestank war kaum noch auszuhalten.

Alle hatten sich abgewandt und hielten sich stöhnend die Armbeugen vor die Nasen.

Kyra war die Erste, die ihren Ekel weit genug in den Griff bekam, um einen Blick in das Loch zu riskieren. Sie spürte, wie das Frühstück ihre Speiseröhre hinaufschoss – die Schwefeldünste waren fast mehr, als sie ertragen konnte. Trotzdem erkannte sie, dass unterhalb der Öffnung absolute Schwärze herrschte. Was immer dort unten war, es lag in völliger Finsternis.

Professor Rabenson wedelte hektisch mit der Taschenlampe. »Los, raus hier!«, rief er. »Ich will nicht derjenige sein, der euren Eltern erklären muss, dass ihr alle mit Vergiftungen in irgendeinem italienischen Krankenhaus liegt.«

Es kam öfters vor, dass er völlig übersah, dass er selbst Kyras Vater war. Die beiden trafen sich nur wenige Male im Jahr, immer während der Schulferien, wenn der Professor nach Giebelstein kam, um Kyra und ihre drei Freunde mit auf eine seiner Reisen zu nehmen. Die übrige Zeit lebte Kyra bei ihrer Tante Kassandra. Ihr Vater bereiste derweil die Welt und betrieb in den entlegensten Gegenden Recherchen für seine Bücher.

Die Kinder stürmten mit verdeckten Gesichtern am Professor vorüber, während der sie mit der Lampe Richtung Ausgang winkte. Er folgte ihnen erst, als sie den Gewölbekeller verlassen hatten und durch den Gang zur Treppe liefen.

Hintereinander hasteten sie zur Oberfläche und gelangten schließlich in die Überreste einer alten Kapelle. Sie lag im Zentrum des Klostergeländes. Dach und Wände waren noch erhalten, aber es gab keine Fensterscheiben mehr. Auch war die gesamte Einrichtung verschwunden, einschließlich des Altars. Zwischen den Bodenplatten wucherte Unkraut, die Mauern waren mit Efeu bewachsen. Tageslicht fiel durch die Fensterrahmen und den leeren Bogen des Haupteingangs.

Die fünf stolperten noch einige Meter weiter, dann erst blieben sie stehen, hustend und keuchend.

»Liebe Güte«, stöhnte Professor Rabenson. »Was, um alles in der Welt, war das?«

»Du bist der Fachmann.« Kyra hatte das Gefühl, ihr ganzer Mund schmecke nach den Dünsten aus dem Inneren der Erde.

»Verwesungsgestank?«, meinte Chris.

Der Professor schüttelte den Kopf. »Riecht anders.«

Nils wischte sich Schweiß von der Stirn. »Vielleicht eine Schwefelader. Irgendein Gas.«

Kyras Vater räusperte sich, warf noch einen Blick zurück zur Kellertreppe und sagte dann: »Kommt, wir fahren ins Dorf. Auf den Schrecken gibt’s erst mal gelato. Oder ist euch die Lust auf Eis vergangen?«

Die Kinder schüttelten eilig die Köpfe. Nils und Chris grinsten sich an.

Nur Kyra blieb skeptisch. »Willst du die Luke einfach offen stehen lassen?«

»Es wird schon keiner reinfallen. Außer uns und Doktor Richardson ist ja keiner hier. Und die ist heute den ganzen Tag über im Park beschäftigt. Ich glaube, irgendwo in der Nähe des Elektrozauns.«

Doktor Sarah Richardson war eine Wissenschaftlerin aus Philadelphia. Ebenso wie Kyras Vater hatte sie eine der seltenen Genehmigungen erhalten, auf dem Gelände von San Cosimo Forschungen zu betreiben. Sie war etwa so alt wie der Professor und machte ihm derart schöne Augen, dass es den Kindern gleich am ersten Tag aufgefallen war. Nur Professor Rabenson selbst schien die Bemühungen der Amerikanerin nicht zu bemerken, so besessen war er von seiner Arbeit.

Eigentlich war in seinem Leben ohnehin kein Platz für andere Menschen. Kyra hatte das oft genug zu spüren bekommen, etwa wenn er wieder einmal einen versprochenen Besuch in Giebelstein abgesagt hatte. Für sie war er viel mehr ein guter Freund, dem sie hin und wieder begegnete, als ein wirklicher Vater. Tante Kassandra ersetzte ihr seit vielen Jahren beide Eltern, und alle fanden, dass dies die beste Lösung wäre. Ja, Tante Kassandra war zweifellos die Größte.

Die Kinder und der Professor machten sich auf den Weg. Die Kapelle befand sich inmitten eines verwilderten Dickichts, das einst der Innenhof des Klosters gewesen war. Rundherum standen die Ruinen des Gemäuers, erstaunlich gut erhalten für ihr Alter. Fast alle Gebäude waren unversehrt, abgesehen von fehlendem Fensterglas und verrotteten Türen. Der ehemalige Park, der das Kloster auf allen Seiten umschloss, hatte sich in eine wuchernde Urlandschaft verwandelt. Wilder Wein, Zypressen, Klatschmohn und Macchiabüsche bildeten einen dichten Dschungel.

Nur ein schmaler Weg führte von den Ruinen zum Tor der hohen Starkstromumzäunung, die das Gelände als Schutz vor Plünderern und Herumtreibern umschloss.

Während der Professor den Motor seines gemieteten Jeeps anwarf, sprangen die Kinder hinten auf die Ladefläche. Johlend brausten sie los.

Nur Kyra blieb schweigsam. Verstohlen blickte sie auf ihren Unterarm, doch die Sieben Siegel, die sie sonst vor jeder Gefahr durch übernatürliche Mächte warnten, blieben unsichtbar.

Vielleicht hatte Nils ja doch Recht. Es war Schwefel, nichts sonst.

Trotzdem hatte sie das seltsame Gefühl, dass der Gestank ihnen folgte – eine unsichtbare Faust, die keines ihrer Opfer jemals wieder loslassen würde.