»Die Riegel sind nur eine zusätzliche Absicherung«, entgegnete Kyra. »Sieh dir die Schlösser an. Man braucht trotzdem einen Schlüssel, um die Türen zu öffnen.«

Lisa näherte sich dem erstbesten Gitter und schnüffelte in die Dunkelheit dahinter. Angeekelt verzog sie das Gesicht. »Mir wird schlecht.«

»Na komm, reiß dich zusammen.«

»Das stinkt genau so wie oben, als wir die Falltür geöffnet haben.«

Kyra trat vorsichtig an die Gittertür und zog daran. Erleichtert stellte sie fest, dass der Zugang verschlossen war.

»Trotzdem«, sagte sie schließlich, nachdem sie das Schloss genauer untersucht hatte, »die Riegel sind offen.«

»Du meinst –«

»Jemand hat an dem Rad gedreht und die Gitter entriegelt.«

»Doktor Richardson?«

Kyra fuhr mit dem Finger über den offenen Riegel. »Die Schleifspuren sind frisch. Sie muss es gewesen sein.«

»Was hätte das für einen Zweck gehabt? Sie hatte ja doch keinen Schlüssel, um die Türen ganz aufzuschließen.«

Kyra ließ den Lichtstrahl über die Spuren am Boden fächern. Hier führten die Abdrücke in beide Richtungen. Ganz so, als wäre jemand den Mittelgang hinuntergegangen, dann zurückgekehrt, um sich schließlich abermals umzuwenden und einen neuen Versuch zu wagen.

»Kein Schlüssel, ja?«, fragte Kyra zweifelnd und zeigte auf einen langen Haken, der neben dem Rad in der Wand befestigt war. Darunter hatten Füße den Staub aufgewühlt. Es fiel nicht schwer, sich vorzustellen, dass dort bis vor kurzem ein Schlüsselbund gehangen hatte.

Jetzt war er fort.

Lisas Magen zog sich zu einem steinharten Klumpen zusammen. Ihr war übel, und sie hatte das Gefühl, dass sie dringend aufs Klo musste.

Kyra fuhr herum und leuchtete abermals den Kerkergang hinunter. Das Licht reichte gerade zehn Schritte weit, dahinter war die Finsternis dicht wie schwarzer Nebel.

Aus der Dunkelheit ertönte ein schleifendes Geräusch. Wie von etwas Großem, das über den staubigen Boden gezogen wurde.

Kyra machte einen Schritt nach vorne. Lisa wollte sie voller Entsetzen an der Schulter zurückhalten, doch Kyra schüttelte ihre Hand ungeduldig ab. Das Erbe ihrer Mutter gewann die Oberhand und brachte ihre Neugier zum Kochen.

»Warte!« Lisa hätte sie am liebsten zurückgerissen und ans Tageslicht gezerrt. »Du darfst nicht einfach weitergehen.«

Kyra schaute sich nicht zu ihr um. »Du kannst ja hier warten.«

»Worauf? Dass ich dich und Doktor Richardson um die Wette schreien höre?«

»Es würde mich sehr wundern, wenn Doktor Richardson überhaupt noch mal schreien würde … schreien könnte.«

Dann schwieg sie, ging einfach weiter den Gang hinunter, ohne ihre Freundin länger zu beachten.

Manchmal kam es Lisa vor, als existierte in Kyra tatsächlich ein Teil ihrer toten Mutter weiter, ein Stück ihrer Seele – oder ihr Geist. In solchen Momenten benahm sich Kyra nicht mehr wie eine Zwölfjährige. Sie handelte gegen alle Vernunft, gegen alles, das irgendwie erklärbar war. Ihr Verhalten folgte Gesetzen, die jenseits dessen lagen, was Lisa und die anderen nachvollziehen konnten. War es Mut? War es Tapferkeit? Oder schlicht und einfach Wahnwitz?

Wahrscheinlich von allem ein wenig.

Lisa zögerte noch einige Herzschläge länger, dann setzte sie mit drei, vier entschlossenen Schritten hinter Kyra her. Sie holte sie auf Höhe der vierten Gittertür ein.

Kyra hielt die Taschenlampe starr geradeaus. Wartete angespannt, dass sich etwas aus der Dunkelheit schälte.

Das Schleifen brach für ein paar Sekunden ab. Dann begann es von neuem. Es klang jetzt viel näher.

»Was, zum Teufel, ist das?«, wisperte Kyra.

»Ich glaube nicht, dass ich das wirklich wissen will«, gab Lisa zurück.

Um sich abzulenken, zählte Lisa im Stillen die Türen. Sie passierten die zehnte, die elfte. Hinter keinem der Gitter regte sich etwas.

Schließlich aber sahen sie es.

Ungefähr zwei Atemzüge lang. Dann flackerte plötzlich das Licht der Taschenlampe – und erlosch. Kyra schüttelte die Lampe fluchend hin und her. Lisas Herz blieb fast stehen. Stumm sandte sie ein Stoßgebet zur schwarzen Kerkerdecke empor.

Die Glühbirne glomm erneut auf, allerdings kaum noch halb so hell wie zuvor. In spätestens zwei, drei Minuten würde das Licht endgültig ausgehen.

»Hast du das –?«, begann Lisa und wurde von Kyra unterbrochen:

»Ich hab’s gesehen. Eines der Gitter ist offen.«

Jetzt, da das Licht an Intensität verloren hatte, war die offene Gittertür wieder im Dunkeln verschwunden. Der Lichtkreis war enger geworden, flimmerte jetzt nur noch in mattem Gelb. Sie mussten noch näher heran, um wieder in Sichtweite zu gelangen – was Lisa wie ein Selbstmordkommando vorkam.

Trotzdem ging sie weiter, beinahe willenlos. Ohne Kyra und ohne das Licht wäre alles nur noch schlimmer geworden.

»Die Lampe geht aus«, jammerte Lisa. »Wir müssen umkehren.«

»Gleich. Nur noch das kleine Stück.«

Die Tür kam wieder in Sicht. Ein uralter Schlüsselbund baumelte am Schloss. Der Gitterflügel stand weit offen. Die schleifenden Laute drangen aus dem Kerker dahinter.

Der Lichtschein flackerte wieder wie eine Kerze im Abendwind. Lisa sah sich in Gedanken schon allein in völliger Finsternis stehen, gleich vor dem offenen Gitter, während das Schleifen immer näher kam, und näher …

Sie traten an das offen stehende Gitter heran. Kyra hob die Lampe und leuchtete mehr schlecht als recht ins Innere der Tunnelkammer. Das Flimmern reichte kaum mehr drei, vier Meter weit, geschweige denn bis zur Rückwand.

Aber etwas anderes wurde in dem schwachen Schein sichtbar.

Etwas, das davongezerrt wurde. Ein Hauch von Gelb, der mit den Schatten verschmolz.

Und dahinter – groß, so entsetzlich groß – eine Silhouette.

Erst glaubte Lisa, es sei einer von Damianos Wasserspeiern. In der Tat hatte das Wesen die gleichen verschobenen Proportionen, die gleiche massige Erscheinung.

Doch dieser Wasserspeier bewegte sich.

Ein lebender, atmender, hungriger Gargoyle!

Kyra und Lisa schrien gleichzeitig auf. Wirbelten herum. Rannten los.

Die Schwärze hinter den Gittertüren war nicht länger leer. Mit einem Mal entstand überall Bewegung. Umrisse tauchten aus den Schatten empor, manche schlaftrunken, andere blitzschnell. Rechts und links des Korridors waren plötzlich Pranken, die zwischen den Gittern hervorstießen, zupackende Klauen. Finger, dick wie junge Baumstämme, mit rauer Lederhaut überzogen. Krallen, einige abgenagt, viele so scharf wie Rasierklingen.

Seit Jahrhunderten hatten diese Wesen geschlafen. Damianos Modelle. Die lebenden Vorbilder seiner Kunst.

Hatten geschlafen und geträumt, gepeinigt von Visionen von frischem, warmem Fleisch. Von Freiheit. Endlich wieder Freiheit!

Die Schreie hatten die Schlafenden geweckt. Zuerst das Brüllen der Frau, dann das schrillere Kreischen der Mädchen.

Jetzt waren sie wach. Und sie verlangten nach Nahrung. Nach Bewegung. Nach Freisein unter endlosem Himmel.

Lisa und Kyra rannten, so schnell sie nur konnten. Bückten sich unter vorschnellenden Klauen, sprangen über klebrige Zungen wie von Riesenfröschen.

Immer noch erwachten neue Gefangene, sprangen vor, rüttelten unter wahnsinnigem Geschrei an den Gittern. Wie Äste eines lebendigen Waldes ragten Finger, Fühler, ganze Arme zwischen den Stäben hervor, tasteten vergeblich nach den beiden Mädchen.

Hinter Kyra und Lisa ertönte das Klirren des Schlüsselbundes. Dann wurde krachend eine Tür aufgeschleudert. Noch eine. Und noch eine.

Diese Wesen besaßen Intelligenz. Sie wussten, was mit den Schlüsseln zu tun war. Sie befreiten einander. Und sie nahmen die Verfolgung ihrer Opfer auf.

Lisa folgte dem flimmernden Schein der Taschenlampe, ein Irrlicht, das vor ihnen über den Boden zuckte. Nicht nachdenken. Nicht zögern. Nur reagieren. Laufen, springen, sich bücken. Überleben.

Sie hatten die Werkstatt fast durchquert. Noch zwei Meter, noch einer …

Die Batterien waren am Ende.

Diesmal gab es kein erneutes Flirren, keine letzte Gnadenfrist. Die Schwärze kroch aus Spalten und Winkeln hervor wie ein Ameisenheer.

Das Licht erstarb.

 

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