XX Montag, 28. Dezember


Als Jury am nächsten Morgen aufwachte, konnte er sich kaum erinnern, wie er noch die Treppe hochgestolpert war und sich aufs Bett hatte fallen lassen. Ausgezogen hatte er sich nicht. Darringtons Bourbon und der Schlafmangel während der letzten 48 Stunden hatten ihm wohl den letzten Rest gegeben. Das Klopfen, das ihn geweckt hatte, war jedoch eher zaghaft gewesen. Er rief: «Herein!» und Wiggins steckte seinen Kopf durch den Türspalt.

«Es tut mir aufrichtig leid, Sir, Sie wecken zu müssen. Aber Kriminaldirektor Racer sitzt unten im Speisesaal und fragt schon seit einer Stunde nach Ihnen. Ich hab ihn immer wieder hingehalten, aber ich glaube, lange schaffe ich’s nicht mehr.» Jury hatte ihm erzählt, zu welchem Zweck er die Hustenbonbons verwandt hatte, und das war für Wiggins, der sich die schrecklichsten Vorwürfe machte, weil ihm Matchett durch die Lappen gegangen war, der einzige Trost gewesen. «Wenn Sie nicht gewesen wären, Wachtmeister –» Daß er Inspektor Jury gleichsam das Leben gerettet hatte, hatte dem Wachtmeister Auftrieb gegeben. Vierschrötig stand er in Jurys Zimmer und sagte deutlich: «Ehrlich gesagt, Sir, ich finde es eine Schande, wie er Sie behandelt. Seit einer Woche haben Sie kaum ein Auge zugetan. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber Sie arbeiten viel zuviel. Ich hab Kriminaldirektor Racer gesagt, ich würde Sie schon wecken, aber zu einer annehmbaren Zeit, nicht vorher.» Wachtmeister Wiggins verstummte plötzlich, als könnten seinen Worten Flügel wachsen und sie nach New Scotland Yard tragen.

«Das haben Sie tatsächlich gesagt?» Jury stützte sich auf einen Ellbogen auf und starrte Wiggins an.

«Jawohl, Sir.»

«Da kann ich nur sagen, daß Sie verdammt viel Zivilcourage haben, mehr als ich, Wiggins.»

Strahlend ging der Wachtmeister aus dem Zimmer, damit Jury sich ankleiden konnte. Und Jury war nicht entgangen, daß er kein einziges Mal sein Taschentuch hervorgezogen hatte.

«Sie wollten mich sprechen?» Jury verzichtete geflissentlich darauf, ihn mit «Sir» anzureden.

Kriminaldirektor Racer hatte es sich im Speisesaal bequem gemacht, und um ihn herum standen die Teller mit den Resten eines üppigen Frühstücks: halbe Brötchen, Eierstückchen, Räucherlachsgräten. Der Onyx-Ring an seinem Finger funkelte, während er eine frisch angezündete Zigarre in seinem Mund rollte.

«Sie haben auf dem Land wohl etwas Schlaf nachgeholt? Es war wirklich höchste Zeit, daß dieser Fall abgeschlossen wurde, Jury –» Jury bemerkte, daß derjenige, dessen Verdienst das war, mit keinem Wort erwähnt wurde –, «oder das Sanitätsbataillon wäre aufgetaucht, das garantiere ich Ihnen.»

Immer noch glühend, stellte ihnen Daphne eine silberne Kaffeekanne hin und entfernte sich dann strahlend, ohne zu bemerken, daß Racer ihre Beine begutachtete.

«Gar nicht so schlecht, die Kleine», sagte er, bevor er sich wieder umwandte und über den Tisch beugte, um Jury anzufunkeln. Sein Jackett, daß er sich elegant über die Schultern geworfen hatte, war auf der einen Seite heruntergerutscht, und er zog es wieder hoch. «Jury, auch wenn ich nicht alles gutheißen kann, was Sie getan haben, so ist die Sache doch zu einem guten Ende gekommen, und ich meinerseits möchte Ihnen auch keine Vorwürfe machen. Ich hab Sie nie für einen schlechten Mann gehalten, obwohl Sie sich für meinen Geschmack einer zu großen Beliebtheit erfreuen. Ich meine, Ihre Beliebtheit bei Ihren Untergebenen – dieses verdammte Kumpel hier und Kumpel da. Die Leute sollen Sie respektieren, Jury, nicht ins Herz schließen. Es ist aber nicht nur das. Sie ignorieren grundsätzlich alles, was man Ihnen aufträgt. Sie hätten sich jeden Tag melden und mich auf dem laufenden halten sollen, und das haben Sie nicht getan. So werden Sie nie Kriminaldirektor, Jury. Sie müssen lernen, wie Sie mit den Männern über Ihnen und den Jungs unter Ihnen umzugehen haben.»

Jury hatte das Gefühl, in einem schlechten amerikanischen Kriegsfilm zu sein.

«Na schön, ich verabschiede mich jetzt. Sie können hier reinen Tisch machen.» Racer warf eine Handvoll Kleingeld auf den Tisch – knickrig war er nicht, das mußte man ihm lassen – und blickte sich um. «Gar nicht so schlecht für dieses Kaff. Das Essen gestern war auch sehr anständig. Man muß es jemandem schon hoch anrechnen, wenn er sein eigenes Bier braut …»

Wenn nur Jack the Ripper sein eigenes Bier gebraut hätte, dachte Jury und strich sich etwas Butter auf eine Scheibe kalten Toasts.

«Was gibt es, Wiggins?» zischte Racer.

Wachtmeister Wiggins war wie ein Gummiball an ihrem Tisch aufgetaucht. «Wachtmeister Pluck hat den Wagen vorgefahren, Sir.»

«Gut.» Als Wiggins wieder kehrtmachen wollte, rief ihn Racer zurück. «Wachtmeister, den Ton von heute morgen möchte ich mir verbitten.»

Jury wurde allmählich ungeduldig. «Wiggins hat mir sozusagen das Leben gerettet.» Als Racer fragend die Augenbrauen hochzog, fuhr Jury fort: «Sie kennen doch bestimmt die Geschichte von dem Soldaten, der mit dem Leben davonkam, weil seine alte Mutter darauf bestanden hatte, daß er die Bibel in seiner Brusttasche trug?» Jury warf die Schachtel mit den Hustenbonbons auf den Tisch.

«Und was zum Teufel hat das verhindert?» fragte Racer und schubste die Schachtel wie eine tote Maus mit spitzen Fingern von sich.

«Das und eine Schleuder haben mir das Leben gerettet.» Jury trank seinen Kaffee aus und beschloß, die Sache noch etwas auszuschmücken. «Wiggins wußte, daß ich keine Pistole bei mir hatte. Meiner Meinung nach hat er erstaunliche Geistesgegenwärtigkeit bewiesen.»

Wiggins, dem dieses unerwartete und (wie er vermutete) unverdiente Lob in der Seele guttat, strahlte und warf Jury gleichzeitig einen fragenden Blick zu. Er schien sich nicht sicher zu sein, wie er diese verschlüsselte Botschaft, die Jury gerade seinem Vorgesetzten übermittelt hatte, interpretieren sollte.

Racer blickte von dem einen zum andern und grunzte. Dann sagte er mit honigsüßer, vor Bosheit triefender Stimme: «Wenn Sie nichts dagegen haben, Inspektor, dann lassen wir es besser nicht an die Öffentlichkeit dringen, daß Scotland Yard nur Kinderschleudern zu seiner Verteidigung mit sich führt.»

Jury, der seinen Abschied von Vivian so lange wie möglich hinausschieben wollte, ging auf dem Polizeirevier von Long Piddleton irgendwelche Papiere durch und hörte zu, wie Pluck und Wiggins sich stritten. Pluck, der die Vorzüge des Landlebens verteidigte, blätterte gerade die Times nach Vergewaltigungen, Überfällen und Morden in dunklen Londoner Gassen durch, als die Tür wie von Geisterhand aufging und Lady Ardry hereingerauscht kam, gefolgt von Melrose, der sich entschuldigend umschaute. Pluck und Wiggins tauschten einen kurzen Blick und verzogen sich dann mit Tee und Zeitungen in den Vorraum.

Lady Ardrys Hand schnellte wie ein Schnappmesser hervor und schüttelte Jurys. «Wir haben’s geschafft, Inspektor Jury, wir haben’s geschafft!» In ihrem Siegestaumel hatte sie sogar ihren alten Groll gegen Jury vergessen.

«Wir, liebe Tante?» fragte Melrose und nahm in dem Sessel in der Ecke Platz, so daß er etwas hinter ihr im Dunkeln saß. Er zündete sich eine Zigarre mit einem besonders betörenden Aroma an.

Jury lächelte. «Ist ja nicht so wichtig, wer es war, Lady Ardry, Hauptsache, die Sache hat ein Ende.»

«Ich wollte Sie eigentlich zum Lunch einladen, Inspektor; unterwegs traf ich dann zufällig meine Tante.»

«Lunch?» fragte Lady Ardry, die ihr Cape wie einen Krönungsmantel um ihren Stuhl drapierte. «Eine gute Idee. Um wieviel Uhr denn?»

«Die Einladung, liebe Tante, galt dem Inspektor –»

Ungeduldig winkte sie über die Schulter hinweg ab. «Wir haben Wichtigeres zu besprechen als Essen.» Ihre Hände lagen auf ihrem Stock, und Jury stellte zufrieden fest, daß sie wieder ihre Handschuhe mit den abgeschnittenen Fingern hervorgeholt hatte. Einen der braunen Handschuhe umschloß Plants Armband. Jury kam es so vor, als hätten die Smaragde und Rubine bereits etwas von ihrem Glanz verloren.

«Er mußte es ja gewesen sein, dieser Matchett. Mir war das von Anfang an klar. Es läßt sich von den Augen ablesen, Inspektor. Die Augen sagen alles. Paranoid, irgendwie irre sahen sie aus, Matchetts Augen. Hart und kalt … Aber naja!» Sie schlug mit der Hand auf den Schreibtisch. «Ich kann nur sagen, gut, daß Sie da waren. Ein Mann, auf den Verlaß ist – Sie und nicht dieser schreckliche Kerl, Ihr Kriminaldirektor. Sie wollen bestimmt nicht noch mal hören, wie unmöglich er sich in meinem Haus benommen hat –»

«Nein, bestimmt nicht, Agatha», sagte Melrose, um den sich die Rauchschwaden wie eine durchscheinende Rüstung gelegt hatten.

Über die Schulter hinweg schleuderte sie ihm entgegen: «Für dich ist ja alles in Ordnung, wenn du nur auf Ardry End herumlungern kannst und eine Flasche Portwein und Walnüsse in Reichweite hast.»

«Lady Ardry», sagte Jury und war sich bewußt, daß er seine neugewonnene Popularität aufs Spiel setzte, «wenn Mr. Plant nicht mitgeholfen hätte, hätten wir es nie geschafft, Matchett hinter Schloß und Riegel zu bringen.»

«Sehr anständig von Ihnen, mein lieber Jury, Sie sind eben ein großzügiger und anständiger Mensch –»

Hinter ihr erstickte Plant beinahe an seiner Zigarre.

«Aber», fuhr sie fort, «wir wissen, wer hier die eigentliche Arbeit geleistet hat.» Sie schenkte ihm ein honigsüßes Lächeln. «Und das war weder Plant noch dieser verrückte Kriminaldirektor, der alle Mädchen im Dorf beschnüffelt hat.» Mit ihrer behandschuhten Hand polierte sie einen Smaragd ihres Armbands, beugte sich zu ihm hinüber und flüsterte: «Ich hab gehört, er war gestern abend in der Hammerschmiede und hat sich an Nellie Lickens rangemacht.»

Jury ließ seiner Neugierde freien Lauf. «Und wer ist Nellie Lickens?»

«Sie wissen doch, Ida Lickens Tochter. Die mit dem Trödelladen. Nellie hilft ab und zu bei Dick Scroggs aus; mich wundert es ja nicht …»

«Das ist doch nur Klatsch, Agatha.»

«Schon gut, Plant. Zugegeben, mein bescheidenes Zuhause ist nicht Ardry End» – sie warf Plant einen herausfordernden Blick zu – «aber Kriminaldirektor Wie-heißt-er-schon-wieder hatte kein Recht, mich so zu behandeln. Er kam hereinstolziert, schaute sich einmal um und machte wieder kehrt. Sogar ein Abendessen hatte ich für ihn gerichtet, Aalstew, eine Spezialität von mir – du brauchst gar nicht solche Geräusche zu machen, Plant –, und der Kerl hatte die Frechheit, in meine Küche zu gehen und in den Topf zu schauen!»

«Tut mir schrecklich leid, Lady Ardry, wenn New Scotland Yard Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet hat.»

«Glauben Sie mir, ich lasse es meinen Gästen an nichts fehlen. Mir kam übrigens heute die Idee, daß ich ja ein Schild raushängen könnte, ‹Zimmer mit Frühstück›. Ich glaube, ich hätte schnell den Dreh raus …»

«Wunderbar», sagte Melrose durch seinen Rauchschleier. «Unsere nächste Serie könnten wir vielleicht ‹die Northants Touristenmorde› nennen.»

«Übrigens, Plant», meinte sie über die Schulter, «warum machst du das nicht? Würde dir auch nichts schaden, mal was zu deinem Lebensunterhalt beizutragen.»

«Du meinst, ich soll Ardry End in eine Pension verwandeln?»

«Genau das. Du würdest bestimmt ein tolles Geschäft machen.» Das Glitzern ihrer Augen bewies Jury, daß ihr diese verrückte Idee gerade eben gekommen sein mußte. Sie würde jetzt jede Windmühle angreifen, die ihr im Weg stand. «22 Zimmer – du lieber Himmel! Warum haben wir nicht schon früher daran gedacht? Martha könnte das Frühstück zubereiten, und ich könnte das Ganze managen – eine Goldgrube!»

«Ich hab nicht die Zeit dafür», sagte Melrose gelassen.

«Zeit? Du hast doch nur Zeit. An der Universität bist du vielleicht eine Stunde in der Woche. Du brauchst eine Arbeit, Melrose –»

«Aber ich hab eine. Ich habe beschlossen, Schriftsteller zu werden.» Durch die Rauchschlieren hindurch lächelte Melrose Jury vielsagend an. «Ich schreibe ein Buch.»

Sie warf beinahe ihren Stuhl um, so abrupt sprang sie auf. «Was, um Himmels willen, meinst du damit?»

«Nun, daß ich schreiben will, Agatha, ein Buch über diese ganzen Greueltaten.»

«Aber das ist unmöglich! Wir würden beide über dieselbe Sache schreiben! Ich hab dir doch gesagt, daß ich eine Art Dokumentarbericht geplant habe. Wie dieser Capote über die Morde in Amerika.»

«Nicht ka-put, um Gottes willen, Ca-po-te. Drei Silben, langes O. Mußt du selbst die Namen deiner Landsleute verstümmeln?»

«Schon gut. Ich hab die Sache schon vor Augen.»

«Dann mach dich am besten gleich an die Arbeit. Oder ich werde noch vor dir fertig.»

«Fertig! So schnell geht das nicht, mein Lieber. Erst mußt du einen Verleger finden. Wer tagaus, tagein am Schreibtisch sitzt, weiß, wie schwer das ist.»

«Ich kauf mir einfach einen Verlag.» Melrose hatte die Augen auf Jury geheftet.

«Oh, das sieht dir ähnlich, Plant.»

«Ja, nicht wahr? Mein erstes Kapitel ist schon fertig!» Melrose klopfte die Asche seiner Zigarre fein säuberlich in seine hohle Hand.

Sie drehte sich nach Jury um, als erwarte sie von ihm, daß er diesem Wahnsinnigen Einhalt gebiete. Jury zuckte nur mit den Schultern. «Von mir aus könnt ihr beiden den ganzen Nachmittag hier vertrödeln, ich muß jedenfalls an meinen Schreibtisch zurück.» Ihren Stock hinter sich herschleifend, eilte sie aus der Tür.

«Für heute nachmittag zumindest sind wir sie los, Inspektor», sagte Melrose, «und haben Zeit für ein nettes kleines Essen. Das heißt, wenn Sie Lust haben?» Plant stand auf und legte seine Zigarre in den Aschenbecher auf dem Tisch.

«Es wird mir ein Vergnügen sein.»

Plant streckte die Hand aus, und Jury erhob sich. «Vielleicht ist es unter diesen Umständen etwas unpassend», sagte Melrose, «aber irgendwie bedauere ich, daß alles vorbei ist. Man trifft so selten einen Menschen, dessen Verstand auch noch in Krisensituationen funktioniert.» Er streifte seine Glacehandschuhe über und zog seine Mütze zurecht. Als er sich zum Gehen anschickte, fragte ihn Jury: «Noch eine Frage, Mr. Plant: Warum haben Sie eigentlich Ihren Titel abgelegt?»

«Warum?» Plant machte ein nachdenkliches Gesicht. «Ich werd’s Ihnen verraten, wenn Sie mir versprechen, es nicht weiterzusagen.» Jury lächelte und nickte. Plant senkte die Stimme zu einem Flüstern. «Wenn ich dieses capeähnliche Gewand und diese Perücke anlege, Inspektor, sehe ich meiner Tante Agatha zum Verwechseln ähnlich.» Er trat aus der Tür. Bevor er sie jedoch hinter sich schloß, wandte er sich noch einmal um. «Es gibt schon einen Grund, Inspektor, aber den erzähle ich Ihnen ein anderes Mal. Bis dann, Inspektor.» Er tippte an seine Mütze.

Als Jury kurz nach Plant aus dem Zimmer ging, hörte er Pluck und Wiggins diskutieren.

«Hier schauen Sie mal, was gestern in Hampstead Heath passiert ist», sagte Pluck und klopfte mit den Fingern gegen eine Seite des Telegraph: «Brutaler Überfall auf Fünfzehnjährige.» Er legte die Zeitung beiseite. «Und Sie behaupten, London sei in Ordnung. Ha, keine zehn Pferde würden mich dahinbringen.» Jury schloß die Tür hinter sich, während Pluck seinen Tee schlürfte und hinzufügte: «Da ist man ja seines Lebens nicht mehr sicher.»

Er hatte Vivian gesagt, er wolle gegen Mittag bei ihr vorbeikommen; inzwischen war es auch beinahe soweit, aber er versuchte das Treffen noch etwas hinauszuschieben. Deshalb war er auch ganz froh, als er Marshall Trueblood wie einen Vogel mit dem Finger von innen gegen die Scheiben seines Regency-Fensters klopfen sah.

«Verehrtester!» sagte Trueblood, als Jury in den Laden trat. «Ich habe gehört, Sie wollen uns wieder verlassen! Ich kann Ihnen nur sagen, es war die Überraschung meines Lebens – ausgerechnet Simon, ein so attraktiver Mann. Hat denn der Elende auch noch versucht, mich in die Sache zu verwickeln, indem er meinen Brieföffner benutzte?»

«Sieht so aus. Den Pfarrer konnte er anscheinend nicht von hinten angreifen und erdrosseln.»

«Mein Gott, ich dachte eben an die arme Vivian. Was wäre passiert, wenn sie den Kerl geheiratet hätte?» Trueblood erschauerte und zündete sich eine leuchtend rosa Zigarette an. «Matchett hat also auch seine Frau umgebracht?»

«Ja. Zu guter Letzt hat er auch das noch zugegeben.» Jury blickte auf seine Uhr und stand auf. «Wenn Sie nach London kommen, Mr. Trueblood, würde ich mich über Ihren Besuch freuen.»

«Die Gelegenheit werde ich nicht verpassen, mein Lieber!»

In der Anlage stand eine Bank, und da es die ganze Nacht über geschneit hatte, war der Platz wieder eine einzige glitzernde, weiße Fläche. Jury setzte sich und starrte auf die Enten; dann starrte er auf den dunklen Stein, aus dem das Haus der Rivingtons gebaut war. Er sollte wie versprochen, hinübergehen. Aber er blieb einfach sitzen. Schließlich sah er, wie die Haustür aufging und eine weibliche Gestalt in Schal und Mantel herauskam. Sie hinterließ auf der glatten, weißen Fläche eine Reihe ordentlicher Spuren, während sie auf ihn zustapfte.

Als sie an dem Teich angelangt war, stand er auf. «Ich dachte, Sie wollten gegen elf vorbeikommen», sagte sie lächelnd. «Ich hielt nach Ihnen Ausschau und sah dann jemanden auf dieser Bank sitzen. Ich fragte mich, ob Sie das vielleicht seien.» Als Jury nicht antwortete, fuhr sie fort: «Vor allem möchte ich mich bei Ihnen bedanken.»

Seine Lippen waren steif vor Kälte. Aber schließlich brachte er doch etwas hervor. «Ich hoffe, diese Enthüllung hat Sie nicht allzusehr … deprimiert, Miss Rivington.»

Ihre Augen wanderten über sein Gesicht. «Deprimiert. Eine glückliche Wortwahl. Nein, nicht wirklich. Ich war nur schockiert. Anscheinend habe ich mich mit Leuten umgeben, denen ich nicht trauen konnte.» Sie verschränkte die Arme über der Brust, um sich warm zu halten, und die Spitze ihres Überschuhs schob den Schnee zurück. «Isabel hat mir die Wahrheit gesagt: über den Unfall, den mein Vater hatte.» Sie blickte zu ihm hoch, aber Jury äußerte sich nicht dazu. «Sie sagte, die Sache hätte ihr auf dem Gewissen gelegen. Was ich bezweifle. Warum sollte sie nach all den Jahren plötzlich Gewissensbisse bekommen … Sie waren ihr Gewissen, stimmt’s?» Vivian lächelte. Jury starrte auf den Schnee, als würden plötzlich wie auf einem Foto im Entwicklungsbad Gänseblümchen aus ihm hervorsprießen. Als er nicht antwortete, sagte sie: «Etwas müssen Sie mir jedoch noch sagen.»

«Und was?» Seine Stimme kam ihm selbst sehr komisch vor.

«Simon und Isabel?» Sie hatte die Hände in den Taschen ihres Mantels vergraben und den Kopf so tief gesenkt, daß er nur ihre gestrickte Mütze sehen konnte. «Hatten sie ein Verhältnis?» Sie hob den Kopf und blickte ihm ins Gesicht. «Hatten sie vor, mich unauffällig um die Ecke zu bringen und sich dann mit der Beute aus dem Staub zu machen?»

Sie lächelte immer noch, aber der Schmerz in ihren Augen versetzte ihm einen Stich. Jury war überzeugt, daß das Matchetts Plan gewesen war. Er hatte Isabel gebraucht, um an Vivian ranzukommen. Daß ihr Verlobter und ihre Schwester sich hinter ihrem Rücken vergnügt und über sie gelacht hatten – diese Vorstellung mußte sie wohl verfolgt haben.

«War es so?» fragte sie.

«Nein. Sie – und das Geld – hätten Matchett wohl genügt.»

Vivian stieß die Luft aus, als hätte sie lange Zeit den Atem angehalten. «Ich weiß auch nicht, warum mich das immer noch beschäftigt, wo sich das Ganze doch sowieso erledigt hat. Es ging mir einfach nicht aus dem Kopf.» Sie seufzte. «Ich sollte das vielleicht nicht sagen, aber irgendwie bin ich froh, daß es so gekommen ist, ich meine, daß ich ihn nicht zu heiraten brauche.»

«Wer hätte Sie denn dazu gezwungen! Niemand.»

«Ja, ich weiß.»

«Er wäre sowieso nicht der Richtige für Sie gewesen.» Jury blickte zu den Wolken hoch, die über den wasserblauen Winterhimmel trieben. «Nicht Ihr Typ.» Er stand einfach nur da und überließ es dem lieben Gott, die Dinge in Ordnung zu bringen.

«Was ist denn mein Typ?»

«Oh, vielleicht jemand mit einem größeren Reflexionsvermögen.»

Sie schwieg. Dann fragte sie, «Wie hieß dieser Satz, den Sie zitiert haben, Agnosco …?»

«Oh … Agnosco veteris vestigia flammae: Ich erkenne die Spuren einer alten Flamme.»

«Sehr eindrucksvoll.»

«Wer? Aeneas?»

«Nein, die alte Flamme. Nicht einmal Aeneas konnte über sie triumphieren.»

«Vielleicht doch.»

«Ich bin mir da nicht sicher.» Sie starrte auch in den blauen Himmel. «Ich glaube, ich ziehe nach Frankreich oder besser noch nach Italien.»

Oder auf den Mars.

Einen Augenblick lang blieb sie noch bei ihm stehen und blickte ihn an, dann wandte sie sich um. «Leben Sie wohl. Und vielen Dank. Manchmal sind Worte doch sehr unzulänglich.» Ihre Hand streifte seine.

Während er ihr nachschaute und beobachtete, wie sie eine zweite sehr ordentliche Spur in dem unberührten Schnee hinterließ, beschimpfte er sich. Du bist wirklich ein Frauenheld, Jury. Kein Wunder, daß sie, wenn du vorbeigehst, schreiend aus den Büschen gestürzt kommen und sich die Kleider vom Leib reißen. Aus der Entfernung sah es aus, als ginge eine Puppe in ihr Puppenhaus und schlösse die Tür hinter sich.