XII Donnerstag, 24. Dezember
Am nächsten Morgen saß Jury an Plucks schäbigem Holzschreibtisch, und Wiggins blickte ihm über die Schulter. Sie studierten Darringstons Buch Scharf auf Mord und die Fortsetzung, die gleich daneben lag. Jury fuhr mit dem Finger eine Zeile entlang und wechselte dann von dem einen Buch auf das andere über. «Der Qualitätsunterschied zwischen den beiden ist einfach enorm. Auch der Stil ist völlig anders. Mit anderen Worten, das eine wirkt wie eine plumpe Imitation des andern.»
Wiggins schüttelte den Kopf. «Das kann ich nicht beurteilen, Sir. Aber ich bin auch kein großer Leser.»
Jury klappte die Bücher zu und legte sie zu den andern beiden Bänden. «Ich glaube nicht, daß Darrington Scharf auf Mord geschrieben hat. Er hat nur versucht, den Stil zu imitieren, und das zweite Buch zusammengepfuscht. Meiner Meinung nach hat der Verfasser des ersten Buchs auch den dritten Band geschrieben –» Jury zog aus dem Stapel von vier Büchern eines hervor. «Scharf macht Ferien. Ja. Diese beiden stammen aus derselben Feder. Aber nicht die andern beiden. Darrington muß sich zwei Manuskripte unter den Nagel gerissen haben und danach seine eigenen gestrickt haben.»
«Aber wer hat die andern beiden – die guten – geschrieben?»
«Keine Ahnung. Das Interessante an der Sache ist – jemand hat vielleicht gewußt, daß es sich um ein Plagiat handelt und hat versucht, Darrington zu erpressen.»
«Meinen Sie Small zum Beispiel? Aber was machen Sie dann mit Ainsley und Creed?»
«Sie können es ja zu dritt geplant haben … Rufen Sie doch mal London an – sie sollen über den Verlag, für den Darrington gearbeitet hat, mehr in Erfahrung bringen. Bei seiner Tätigkeit kam er wahrscheinlich ganz einfach an Manuskripte ran.» Jury stand auf und steckte seine Zigaretten in die Tasche. «Ich werd’s ihm direkt auf den Kopf zusagen. Mal sehen, was passiert.»
Jury war gerade dabei, in den blauen Morris zu steigen, als Melrose Plant in seinem Bentley neben ihm hielt und die Scheibe herunterkurbelte. «Was haben Sie vor, Inspektor?»
«Oliver Darrington einen Besuch abzustatten.»
«Morgen ist nämlich Weihnachten, wie Sie wohl wissen, und ich würde Sie gerne zum Abendessen einladen.»
«Es wird mir ein Vergnügen sein – falls die Umstände es erlauben.»
«Wunderbar. Ich wollte gerade nach Sidbury fahren, um Agathas Geschenk abzuholen.»
«Was schenken Sie ihr denn?»
«Ich dachte an ein Paar Pistolen. Mit Perlmuttgriffen, für besondere Anlässe.»
Jury lachte, während Plant wieder davonfuhr, und bog dann mit seinem Morris in die Sidbury Road ein.
Diesmal kam Darrington an die Tür, und er sprudelte auch gleich los. «Was zum Teufel soll das? Kommen Sie, weil die Leiche, die im Schwanen gefunden wurde, eines meiner Bücher in der Hand hatte?» Seine Augen funkelten. Offensichtlich interessierte ihn die Lektüre der Leiche sehr viel mehr als die Leiche selbst.
«Kann ich reinkommen, Mr. Darrington?»
Darrington riß die Tür weit auf, und Jury sah Sheila Hogg im Salon sitzen, sehr hübsch, aber auch etwas nervös und gequält. Er ging hinein und setzte sich auf den Platz, auf dem er auch schon am Tag zuvor gesessen hatte. Oliver Darrington warf ihm finstere Blicke zu, während Sheila unruhig hinter der Couch gegenüber stand und einen unsichtbaren Faden von der Rückenlehne zupfte. Sie war an diesem Nachmittag vollständig angezogen; sie trug einen geblümten Seidenanzug, schaffte es aber trotzdem, unangekleidet auszusehen. Die Konturen ihres Körpers sprangen einem einfach ins Auge, und der Teil von Jurys Gehirn, der nicht damit beschäftigt war, Darrington ein Geständnis abzuringen, registrierte sie beifällig.
«Ich hab noch ein paar Fragen, Mr. Darrington.» Da sie immer noch keine Anstalten machten, sich zu setzen, legte Jury eine kleine Pause ein und zündete sich eine Zigarette an. «Wie Sie wissen, wurde wieder jemand ermordet. Ich würde nun gern von Ihnen erfahren, wo Sie sich gestern zwischen zehn und kurz nach zwölf aufgehalten haben.»
«Hier im Haus. Sheila war bei mir.» Nichts in ihrem Gesichtsausdruck schien dem zu widersprechen, aber Jury wußte, daß keiner einem so offen in die Augen blickt wie die Schuldigen, wenn sie ihre Lügen erzählen. Er lächelte und sagte: «Außerdem wollte ich Ihnen Ihre Bücher zurückbringen.» Jury hielt sie hoch. «Sehr interessant, vor allem die Unterschiede zwischen ihnen.» Er bemerkte bei Sheila dieselben Zuckungen und fahrigen Handbewegungen wie beim letzten Mal. «Um die Wahrheit zu sagen, ich vermute, jemand hat Ihnen da ein bißchen geholfen.» Jury hatte sich so vorsichtig ausgedrückt, daß er höchst erstaunt war, als Darrington Sheila anfuhr.
«Luder!»
«Ich hab ihm nichts gesagt, Oliver! Ich schwör’s!»
Sein Ärger verflog so schnell, wie er gekommen war, und er seufzte: «Ach zum Teufel, diese Komödie ist auch ausgespielt. Du kannst ihm die Geschichte ruhig erzählen.»
Anscheinend war es Sheilas Rolle, für ihn die Kohlen aus dem Feuer zu holen.
«Es war mein Bruder», sagte Sheila. «Er kam bei einem Motorradunfall ums Leben. Ganz zufällig, als ich nach seinem Tode seine Sachen durchging, stieß ich auf diesen Brief von Oliver. Ich hatte überhaupt nicht gewußt, daß Michael – mein Bruder – überhaupt ein Buch geschrieben hatte, und erst recht nicht, daß er versuchte, einen Verleger zu finden. Ich glaube, niemand hat das gewußt. Er war ein ziemlicher Geheimniskrämer. Auf jeden Fall ging ich zu dem Verlag, für den Oliver arbeitete; irgendwie schwebte mir wohl vor, ich könnte veranlassen, daß das Buch veröffentlicht würde, sozusagen als Andenken an meinen Bruder. Oliver war der Lektor, auf dessen Schreibtisch das Manuskript gelandet war. Er war sehr nett und verständnisvoll; wir gingen zusammen Mittag essen und sprachen über Michaels Buch – wie gut es war. Später gingen wir dann zusammen zu Abend essen. Zuerst Lunch, dann Dinner, dann …» Sheila seufzte. «Ich bin sofort auf ihn abgefahren, und genau das –» sie funkelte Darrington an – «war auch seine Absicht, stimmt’s, Liebling?»
Darrington hatte den Blick auf sein Glas geheftet.
«Es gab da noch ein zweites Manuskript, Scharf macht Ferien, das ich auch unter Michaels Sachen fand. Oliver las es und meinte, es sei genauso gut wie das erste. Die Versuchung war zu groß für ihn: Er konnte das erste unter seinem eigenen Namen veröffentlichen und sich das zweite für schlechte Zeiten aufheben.» Sheila lächelte gezwungen. «Und wenn Oliver schreibt, dann sind die Zeiten immer schlecht.»
«Vielen Dank», sagte Darrington.
«Oh, bitte, Liebling», sagte sie hart. Und zu Jury gewandt: «Das ist alles. Schäbig, armselig – was kann ich schon sagen?»
Ein nettes Andenken, dachte Jury. Die Liebe, dachte er traurig. Liebe hatte sie da hineingezogen, und was kam dabei heraus? Nicht einmal ein Trauschein. Sie tat ihm leid. «Das zweite Manuskript war für Sie also eine Art Reserve, falls Ihr eigenes Buch ein Reinfall werden sollte?»
Oliver hob das Gesicht. Zumindest schien er so etwas wie Schamgefühl zu besitzen. «Ja, richtig. Ich wollte es einfach mal versuchen. Ich dachte, es würde schon klappen. Es klappte aber nicht. Ich bin ein miserabler Schreiber. Als das zweite Buch sich nicht verkaufte und nur schlechte Kritiken bekam, hab ich Hoggs zweites Manuskript herausgeholt – danach war mein Stern wieder im Steigen. Ich war felsenfest überzeugt, daß ich beim zweiten Mal mehr Glück haben würde. Aber jetzt …» Er breitete hilflos die Hände aus. Dann schien er sich daran zu erinnern, daß eigentlich etwas ganz anderes zur Debatte stand. «Moment mal, Inspektor, was hat das alles mit der Leiche von heute morgen zu tun?»
«Sie haben den Mann nicht gekannt?»
Darrington blickte ihn wütend an. «Verdammt noch mal, natürlich nicht!»
Jury genoß es, ihn für sein schäbiges Verhalten Sheila gegenüber büßen zu lassen. «Komisch. Er war ein Bewunderer von Ihnen. Dieses Buch, Sie wissen schon.» Jury tat so, als hätte er gerade einen glänzenden Einfall gehabt, und schnalzte mit den Fingern. «Oder vielleicht doch kein Bewunderer. Erpressung war schon immer ein guter Grund, jemanden um die Ecke zu bringen.»
Darrington fuhr von seinem Stuhl hoch. «Mein Gott! Ich hab ihn nicht umgebracht, ich hab den Mann noch nie in meinem Leben gesehen –»
«Wie wollen Sie das wissen, Mr. Darrington?»
«Was meinen Sie?»
«Ich nehme an, Sie haben den Toten noch nicht gesehen. Wie wollen Sie also wissen, ob Sie ihm nicht schon einmal begegnet sind, als er noch am Leben war?»
«Soll das eine Falle sein? Daß er mein Buch in der Hand hatte, beweist wohl alles?»
Sheila, etwas scharfsinniger als Darrington, sagte: «Mein Gott, Oliver, der Inspektor wird doch wohl nicht annehmen, daß drei verschiedene Männer hier aufgekreuzt sind, um dich zu erpressen!»
Wie ein Kind, das seine Eltern verdächtigt, gemeinsame Sache gegen es zu machen, blickte Oliver von einem zum anderen. Was zum Teufel, fragte sich Jury, fand Sheila nur an diesem Mann?
«Das Buch beweist eigentlich eher, daß Sie es nicht waren.» Jury stand auf und steckte seine Zigaretten in die Tasche. «Es wäre doch ziemlich seltsam, wenn Sie bei dem Ermordeten etwas hinterlassen hätten, was den Verdacht auf Sie lenkt. Nur jemand ganz Tolldreistes, jemand mit eisernen Nerven und einem ausgesprochenen Sinn für Makabres würde das wagen. Bei Ihnen, Mr. Darrington, habe ich noch keine dieser Eigenschaften festgestellt.»
Sheila brach in schallendes Gelächter aus.