XVII Samstag, 27. Dezember


In dem trüben Licht des frühen Morgens saßen Jury und Plant auf der Polizeistation von Long Piddleton. Jury starrte auf das Blatt Papier, das er von dem Schreibtisch des Pfarrers mitgebracht hatte und sagte: «Wenn es keine Notizen für eine Predigt sind, was ist es dann?»

Melrose blickte Jury über die Schulter. «‹God encompasseth us›. Das klingt wirklich nicht nach Pfarrer Smith. Zum erstenmal in meinem Leben muß ich meiner Tante recht geben.»

«Vielleicht ist es ein Zitat. Aus der Bibel?»

Plant nahm das Blatt. «‹Hirondelle›, das französische Wort für Schwalbe. Schwalbe? Sagt Ihnen das was?»

Jury schüttelte den Kopf. Sie starrten volle fünf Minuten auf die Wörter, bis Jury frustriert den Füllfederhalter auf den Tisch warf. «Ich bin wohl etwas beschränkt. Aber ich krieg’s beim besten Willen nicht raus.» Er griff nach der Packung Zigaretten, nahm sich eine und zündete sie an; während er den Rauch ausstieß, sagte er: «Ich nehme einfach mal an – obwohl ich natürlich völlig falsch damit liegen kann –, daß der Mörder Mr. Smith einen kleinen ‹nachbarlichen Besuch› abgestattet hat, um zu sehen, was er von ihm in Erfahrung bringen konnte. Er wollte rauskriegen, wieviel der Pfarrer wußte. Und während sie sich unterhielten, durchzuckte den Pfarrer der Gedanke, daß sein Besucher vielleicht diese Verbrechen auf dem Gewissen habe. Er blieb ganz ruhig an seinem Schreibtisch sitzen und machte sich diese Notizen. Hätte er nicht einfach den Namen des Schuldigen aufschreiben können? Offenbar hat Smith gewußt, daß sein Leben in Gefahr war und daß der Mörder alles, was ihn belasten könnte, verschwinden lassen würde. Ich glaube, wir haben Mr. Smith unterschätzt. Bleibt nur zu hoffen, daß er uns nicht überschätzt hat. Er hat wohl gehofft, wir könnten diese Codeworte, die für den Mörder belangloses Gekritzel waren, entschlüsseln.» Jury rauchte und dachte nach. «Eine Theorie, die vielleicht hinhaut. Was riskiere ich schon, wenn ich annehme, daß dieses Gekritzel etwas bedeutet? Es zu ignorieren könnte fatale Folgen haben.» Er stand auf und streckte sich. Dann schob er Melrose Plant das Blatt hin. «Da. Sie schaffen das Kreuzworträtsel der Times in einer Viertelstunde. Dann müssen Sie auch das schaffen.»

Plants Antwort wurde durch das Summen des Telefons unterbrochen.

«Jury am Apparat.»

«Inspektor Jury», sagte Kriminaldirektor Racer mit ausgesuchter Höflichkeit, «seit wir Sie losgeschickt haben, wurde uns von drei weiteren Morden berichtet. Was haben Sie gemacht? Reklame?»

Jury seufzte innerlich und suchte in Plucks Schreibtischschubladen nach etwas Eßbarem. Er fand eine Packung mit altem Zwieback. «Ich habe auf Ihren Anruf gewartet, Sir.» Er stopfte sich einen Zwieback in den Mund.

«Oh, haben Sie das, Jury. Ich habe praktisch jeden Tag angerufen, seit Sie in diesem Kaff sind, junger Mann. Und wurde nicht zurückgerufen – Sie kauen in mein Ohr, Jury! Können Sie nicht mit Essen und Trinken so lange warten, bis Sie Ihren Bericht durchgegeben haben? Eine Kneipe oder ein Partyservice, das wäre der richtige Beruf für Sie! Auf jeden Fall, genug ist genug. Morgen um zwölf Uhr treffe ich in Northants ein. Nein, heute mittag um zwölf. Für mich sieht die Sache so aus: heute ist der siebenundzwanzigste. Sie kamen am zweiundzwanzigsten dort an. Zählt man den heutigen Tag nicht hinzu, dann kommen auf jeden Tag, den Sie sich in dem Kaff aufhielten, 0,66 Morde!»

«Ja, Sir. Genauso sieht es aus, Sir. Hinter dem Komma.» Jury kritzelte kleine Gasthofschilder auf Plucks Löschblatt, während Racer die Bestrafungen herunterrasselte, die seinen Oberinspektor erwarteten. Sie rangierten von der Streckleiter bis zur Vierteilung, dem auf der Tower-Brücke aufgespießten Kopf und dem anschließenden Zusammenflicken der Einzelteile, damit sein Körper auf einen öffentlichen Hinrichtungsplatz gekarrt werden konnte. Für seine Strafandrohungen hatte sich der Kriminaldirektor schon immer vom Mittelalter inspirieren lassen.

«Tut mir leid, daß wir nicht mehr erreicht haben. Aber ein Mord allein ist schon schwierig genug, und ich habe inzwischen vier Morde an der Hand, wenn Sie sich das bitte vergegenwärtigen wollen. Außerdem ist Weihnachten, das erschwert alles.»

«Weihnachten? Weihnachten?» Racer vermittelte den Eindruck, als sei durch Parlamentsbeschluß ein neuer Feiertag eingeführt worden. Dann fuhr er jedoch mit gedämpfter Stimme fort: «Ist es nicht komisch, Jury, daß die Wahnsinnigen selbst an Weihnachten ihr Unwesen treiben? Hat Jack the Ripper vielleicht an Weihnachten eine Pause eingelegt, Jury? Oder Crippen?»

Jury nutzte die Gelegenheit. «Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, daß Jack the Ripper an Weihnachten unterwegs war. Soviel ich mich erinnere –»

Schweigen. «Soll das ein Witz sein, Jury?»

«Oh, nein. So komisch ist das Ganze wirklich nicht.»

Wieder Schweigen. Dann zischte Racer: «Also seien Sie pünktlich, ich komme mit dem Mittagszug. Und Briscowe wird mich begleiten.»

«Geht in Ordnung, Sir. Wenn Sie meinen.» Jury hatte angefangen, eine kleine Lokomotive mit einer dicken Rauchfahne zu malen, die frontal mit einem andern Zug zusammenstieß. Er hielt den Hörer ein paar Zentimeter von seinem Ohr weg, so daß die Stimme Racers durch den Raum schrillte.

«Noch was – ich möchte nicht in einem mit Küchenschaben verseuchten Gasthof und auch nicht in irgendeiner aufgemotzten Absteige einquartiert werden. Besorgen Sie mir ein Zimmer im ersten Haus am Platz –» Er senkte die Stimme. «Und möglichst in einem, in dem ich nicht im Schlaf erdrosselt werde. Der Gedanke, daß ich nur Sie zu meinem Schutz habe, macht mich etwas nervös, mein Freund. Und achten Sie bitte darauf, daß die Speisekarte einigermaßen anständig ist und daß auch ein paar Flaschen Wein im Keller stehen. Nett wäre auch –» Die Lüsternheit in seiner Stimme war beinahe mit Händen greifbar, «wenn was Hübsches hinter der Bar stünde.»

Wie wär’s mit dem Neunten Höllenkreis, fragte sich Jury.

«… Aber es ist mir natürlich bewußt, daß man in einem Kaff wie Ihrem keine zu großen Ansprüche haben darf. Bis bald.»

Racer knallte den Hörer auf die Gabel.

«Jawohl, Sir», sagte Jury und gähnte in den toten Hörer. Als er aufgelegt hatte, fragte Plant: «Ein Freund von Ihnen?»

«Kriminaldirektor Racer. Er findet, daß ich schlechte Arbeit geleistet habe. Kommt persönlich und möchte untergebracht werden – im Savoy am liebsten. Auf jeden Fall im ersten Haus am Platz.» Jury grinste boshaft.

«Also, wenn Sie meinen, alter Junge, kann ich Ruthven Bescheid sagen –»

Jury schüttelte den Kopf und schob Plant das Telefon hin. «Ich dachte nicht an Ardry End.»

Melrose hielt beim Anzünden seiner Zigarre inne und grinste Jury durch den Rauch hindurch an. «Ich glaube, ich habe verstanden …» Er wählte und wartete längere Zeit, bis sich ein heiserer Laut vernehmen ließ. «Tante Agatha? Tut mir leid dich so früh zu stören. Aber Inspektor Jury hätte eine große Bitte …»

Eine Stunde später, als Wiggins und Pluck hereinkamen und sich den Schnee aus den Mänteln klopften, saßen sie immer noch über den Notizen des Pfarrers. «Sie ist da, Sir», sagte Wiggins, «Daisy Trump.»

Pluck unterbrach ihn. «Wir haben sie etwas außerhalb von Dorking Dean, im Sack voll Nägel untergebracht. In die andern Gasthöfe wollte sie nicht, kann man ja verstehen. Wir haben den Dorfpolizisten bei ihr gelassen, wer weiß, welcher Gasthof als nächster dran ist.» Pluck genoß offensichtlich seine Rolle.

«Wer ist Daisy Trump?» fragte Melrose.

Wiggins wollte schon antworten, dann fiel ihm jedoch ein, daß er damit vielleicht eine wichtige Information preisgebe und preßte die Lippen aufeinander.

«Ist schon in Ordnung, Wachtmeister. Mr. Plant arbeitet mit mir zusammen.» Er wandte sich an Melrose. «Also dann, auf zu dem Gasthof.»

«Sie möchten, daß ich mitkomme?»

«Ja, wenn Sie nichts dagegen haben. Wiggins kann die Festung hier halten. Und Wachtmeister Pluck kann fahren.»

Pluck strahlte und salutierte.

Miss Trump war, wie die Kellnerin erklärte, die ihnen im Sack voll Nägel den Kaffee servierte, kurz auf ihr Zimmer hochgegangen, um sich frisch zu machen. Sie würde den Herren sofort zur Verfügung stehen.

«Daisy Trump», sagte Jury, während er den Zucker in seinem Kaffee verrührte, «arbeitete im Gasthof zur Ziege mit dem Kompaß. Ein komischer Name. Es wundert mich nicht, daß Ihre Tante mit unseren englischen Namen nicht zurechtkommt. Ich meine Bister-Strawn statt Bicester-Strachan und so weiter.»

Plant lächelte. «Und Ruthven, Ruthven, Ruthven statt Rivv’n.» Plant hielt den Atem an und starrte Jury ins Gesicht. «Pluck!»

Jury grinste. «Oh, ich nehme an, Pluck kann selbst Ihre Tante richtig aussprechen.»

Plant lächelte nicht mehr. Er wiederholte nur noch einmal «Pluck!»

Jury schaute ihn fragend an.

«Mann, lassen Sie sofort Pluck holen.»

Jury war so verblüfft, von Plant einen Befehl zu erhalten, daß er ihm sofort nachkam.

«Wiederholen Sie, Pluck!» befahl ihm Melrose ohne weitere Erklärungen abzugeben, und seine grünen Augen funkelten.

Der arme Pluck zerdrückte seine Mütze in den Händen wie ein Wilddieb, der in den Wäldern seiner Herrschaft geschnappt worden war. «Was denn, Ihre Lordschaft?»

«Was Sie vorhin gesagt haben, als Sie mit Wachtmeister Wiggins aufs Revier kamen. Los Mann, machen sie schon!»

Pluck blickte sich hilfesuchend nach Jury um. Jury zuckte aber nur mit den Schultern und meinte, «Sie sagten, Sie hätten Daisy Trump …» Jury verstummte.

Melrose nickte. «Richtig, Sie haben Daisy Trump wo untergebracht?» Er nickte Pluck aufmunternd zu und versuchte, ihm die richtigen Worte zu entlocken.

Pluck kratzte sich ratlos am Kopf. «Jawohl, Sir. Ich sagte, wir hätten sie im Sack voll Nägel untergebracht.»

Melrose schaute Jury an, aber Jury reagierte genauso verständnislos wie Pluck.

«Das ist es! Das ist es!» triumphierte Plant, schloß die Augen und formte stumm die Worte. Lady Ardry hätte zweifellos darauf hingewiesen, dieses Verhalten sei bei ihrem verrückten Neffen durchaus nicht ungewöhnlich.

«Ja, das ist es! Wie konnte ich nur so dumm sein!» Auf Melroses ernstem Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. «Sagen Sie es noch einmal, Pluck.»

«Sie meinen Sack voll Nägel, Bag o’Nails, Sir?»

«Hören Sie das, Inspektor? Es klingt ganz anders, wenn Pluck das ausspricht, da seine Art und Weise zu reden – entschuldigen Sie bitte, Wachtmeister – nicht so präzis ist. Er zieht es mehr zusammen. Hören Sie gut zu, Inspektor: Bag o’Nails

Jury schlug sich die Hand vor die Stirn. «Mein Gott. Bacchanals!» Er warf Pluck einen kurzen Blick zu, Pluck schien jedoch überhaupt nichts zu verstehen und runzelte ratlos die Stirn.

Gut so, dachte Jury, da er die Geschichte nicht gerade dem Stadtausrufer auf die Nase binden wollte. «Wachtmeister, gehen Sie bitte aufs Revier zurück und sagen Sie Wachtmeister Wiggins, er soll am Telefon bleiben. Ich werde mich bei ihm melden.»

Pluck salutierte und verzog sich schnell.

«Und jetzt, Inspektor», sagte Melrose Plant, «Zur Ziege mit dem Kompaß. Sagen Sie das zwei oder dreimal hintereinander, schnell und nicht sehr deutlich.»

Jury formte die Worte mit den Lippen, ohne einen Ton von sich zu geben. «God encompasseth us! Matchett. Es ist Matchett. Das sind zwei von seinen Gasthöfen. Aber wie hieß denn der dritte? Es gibt keinen Gasthof, der ‹Hirondelle› heißt.»

«Natürlich nicht. Es ist ein Wortspiel wie die andern auch. Großer Gott, jetzt weiß ich auch, warum der Pfarrer dachte, Sie könnten die Botschaft entziffern. Er hat sich ja lange genug mit uns über Wirtshausschilder unterhalten. Sie haben recht, wir haben ihn unterschätzt. Das ist wirklich verflucht schlau.»

«Und tapfer. So geistesgegenwärtig wären die wenigsten gewesen.»

«Aber wie heißt denn nun Matchetts dritter Gasthof?»

Jury ging bereits die Papiere durch, die er mitgebracht hatte, die Matchett-Akte. «… Goat and Compasses. Devon. Devon … hier! Heiliger Strohsack! Zum Eisenteufel!»

«Wie heißt es?»

«The Iron Devil.»

Daisy Trump war eine rundliche, kleine Person um die Fünfzig – ein Ball, der gleich davonhüpfen würde. Sie könne sich nicht vorstellen, meinte sie, was Scotland Yard von jemanden wie ihr wolle; aber sie schien das Ganze als einen von der Regierung bezahlten Urlaub aufzufassen. Ihr Haar sah frisch gewellt aus.

«Wie lange leben Sie schon in Yorkshire, Miss Trump?»

«Ach, zehn Jahre schätzungsweise. Ich bin nach Yorkshire gezogen, als meine Schwägerin gestorben ist – Gott hab sie selig –, um für meinen Bruder den Haushalt zu führen.»

Jury unterbrach sie, bevor sie begann, die Familienverhältnisse näher zu schildern. «Miss Trump, Sie waren einmal in Devon – Dartmouth hieß der Ort – Zimmermädchen in einem Gasthof, der von Mrs. und Mr. Matchett geführt wurde. Das war vor ungefähr sechzehn Jahren.»

«Ja, ja. Wo dann dieser schreckliche Mord passierte. Wollten Sie mich deswegen sehen? Wegen dem Mord an Mrs. Matchett? Man hat ja nie rausgekriegt, wer es war – wer damals in ihr Büro eingebrochen ist und das Geld gestohlen hat.»

«Sie erinnern sich doch bestimmt noch an die Smolletts? Sie war Köchin; was er getan hat, weiß ich nicht genau.»

«Meistens gar nichts. Ein richtiger Tagedieb, dieser Will Smollett. Rose war meine beste Freundin. Sie ist inzwischen auch gestorben, die Ärmste.» Bei diesen Worten zog sie ein Taschentuch aus dem Ärmel ihres Kleides und führte die rituelle Bewegung zur Nase aus. «Die gute Rose. Sie war eine treue Seele. Aber dieser Mann von ihr, der arbeitete mal hier, mal da, wie es ihm gerade paßte. Er und dieser Ansy-Hansi.» Sie verzog das Gesicht.

Jury lächelte. «Wer war denn das?»

«Ein totaler Verquerer. Aber er und Smollett waren dicke Freunde.»

Jury erinnerte sich nicht, in dem Bericht auf diesen Namen gestoßen zu sein.

«Wie hieß er sonst noch? Ich meine, mit seinem richtigen Namen?»

Daisy Trump zuckte die Achseln. «Andrew vielleicht. Ich kann mich nicht erinnern. Wir sagen immer nur, ‹Ansy-Hansi› zu ihm. Ja, er muß wohl Andrew geheißen haben.»

«Wir haben versucht, Mr. Smollett ausfindig zu machen, vielleicht könnte er sich noch an ein paar Einzelheiten erinnern. Ich nehme nicht an, daß Sie noch mit ihm in Verbindung stehen?»

«Nein, nicht mehr, seit Rosie gestorben ist. Ich bin noch zu ihrer Beerdigung gefahren. Sie lebten irgendwo außerhalb von London. Crystal Palace, wenn ich mich nicht täusche.» Sie fragte, ob sie noch etwas Tee haben könne.

Jury rief die Kellnerin und fragte: «Glauben Sie, Sie können sich noch an diesen Abend erinnern. Ich weiß, es ist lange her, aber –»

«Erinnern? Und ob. Mir wär’s lieber, wenn ich ihn endlich vergessen könnte; man hat mich damals sogar verdächtigt. Sie wollten wissen, ob ich der armen Frau etwas in die Schokolade getan hätte. Ich hab ihnen erzählt, daß Mrs. Matchett abends immer ihre Tropfen zum Einschlafen brauchte. An diesem Abend hat sie offenbar besonders viel genommen. Gewöhnlich brachte ich ihr das Tablett ins Büro, und später holten ich oder Rose es dann wieder ab. An diesem Abend ging die arme Rose. Der Anblick von Mrs. Matchett, wie sie so über ihrem Schreibtisch hing, hat ihr einen fürchterlichen Schock versetzt. Einen Augenblick lang dachte sie, sie wäre vielleicht eingeschlafen. Aber dann sah sie das Durcheinander in dem Zimmer. Und daß das ganze Geld weg war. Obwohl es sich wegen dem Betrag nicht gelohnt hat, jemanden um die Ecke zu bringen. Ein paar hundert Pfund –»

Jury unterbrach sie. «Ein Teil des Gasthofs – der Innenhof – wurde zum Theaterspielen benutzt, stimmt das? Und das Büro von Mrs. Matchett war nur durch einen schmalen Gang von der Bühne getrennt?»

«Stimmt genau. Ich glaube, Sie wollte vor allem Mr. Matchett im Auge behalten. Ehrlich gesagt, ich kann mir gar nicht vorstellen, daß er überhaupt Zeit gefunden hat, sich mit diesem Mädchen einzulassen.»

«Harriet Gethvyn-Owen?»

«Ja, so hieß sie. Ein meschuggener Name für eine meschuggene Person.» Jury lächelte. «Einiges jünger als er. Aber er war auch jünger als die Gnädigste. Ich frage mich, warum er sie überhaupt geheiratet hat. Vielleicht wollte er sein Schäfchen ins trockene bringen.»

Jury zog das sorgsam in sein Taschentuch eingewickelte Armband hervor. «Haben Sie das schon einmal gesehen, Miss Trump?»

Sie nahm es in die Hand, schaute es sich genau an and blickte schockiert zu ihm hoch: «Woher haben Sie das, Sir? Dieses Armband – das hat doch der gnädigen Frau gehört. Da mach ich jede Wette. Jeder dieser kleinen Anhänger hatte eine besondere Bedeutung, deshalb erinnere ich mich auch noch so gut; ich weiß aber nicht mehr, für was sie alles standen. Dieser Fuchs da – sie ritt gerne bei den Fuchsjagden mit. Und dieser kleine Würfel mit der Münze – sie hatte irgendwas mit Mr. Matchett gewettet …» Staunend betrachtete sie das Armband.

«An dem Abend wurde doch auch ein Stück aufgeführt. Othello. Mr. Matchett hatte die Hauptrolle, und das Mädchen – Harriet Gethvyn-Owen – spielte auch mit. Die Rolle der Desdemona?»

«Ich weiß nicht mehr, welches Stück das war. Was Schauerliches. Aber ich versteh nicht viel davon. Als ich mit dem Tablett zu ihr ging, konnte ich hören, wie Mr. Matchett einem der Schauspieler etwas zubrüllte.»

«Ja. Und –?»

«Ich wollte gerade das Tablett vor der Tür abstellen, als ich sah, daß die Tür einen Spalt aufstand. Mrs. Matchett fragte, ob ich es sei – ich solle doch bitte das Tablett auf den kleinen Tisch neben dem Sessel stellen. Ich ging also rein.»

«Wo saß Mrs. Matchett?»

«An ihrem großen Schreibtisch wie immer. Sie bedankte sich, und ich ging wieder.»

«Können Sie die Augen schließen und sich das Zimmer in allen Einzelheiten vorstellen, Miss Trump? Und nun beschreiben Sie ganz genau der Reihe nach, was sich abgespielt hat.»

Gehorsam klappte Daisy die Augen zu, als wäre Jury ein Bühnenhypnotiseur. «Sie sagt zu mir durch den Türspalt: ‹Daisy, bitte stellen Sie das Tablett auf den Tisch neben dem Sessel.› Ich geh rein, stelle das Tablett ab, und sie sagt so über die Schulter: ‹Danke.› Und ich frage: ‹Kann ich Ihnen sonst noch was bringen?› Sie sagt: ‹Nein, vielen Dank› und macht sich wieder an die Arbeit. Sie erledigte die ganze Buchführung. Eine gescheite Frau, aber ziemlich kalt. Ganz und gar nicht wie Mr. Matchett. Ein netter Mensch! Und sehr beliebt bei den Damen, was nicht verwunderlich war, wo er doch so gut aussah. Wahrscheinlich hat sie sich darüber geärgert. Dieses Büro hat sie auch nur deswegen gleich neben der Bühne eingerichtet – er sollte wissen, daß sie immer aufpaßte. Sie führte ein strenges Regiment, das kann ich Ihnen sagen. Eifersüchtig. Ich hab noch nie eine so eifersüchtige Frau gesehen.»

«Wer hat Ihrer Meinung nach Mrs. Matchett umgebracht?» fragteJury.

Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. «Was glauben denn Sie, ein Einbrecher natürlich. Die Polizei hat das auch gesagt. Er stieg durch das Fenster ein und hat alles mitgenommen.» Sie senkte die Stimme. «Wenn ich ganz ehrlich bin, ich dachte auch an diesen Smollett und an Ansy-Hansi. Den beiden hätte ich so was zugetraut. Aber ich hütete mich natürlich, was zu sagen. Wegen Rose, Sie verstehen.»

«Alle, die damals mit von der Partie waren, hatten ein Alibi, Miss Trump, einschließlich der Küchenhilfe.»

Sie schnaubte nur, offensichtlich nicht überzeugt.

«Haben Sie denn nicht auch an ihren Mann, Mr. Matchett, gedacht?»

Mit bewundernswerter Offenheit sagte sie: «Natürlich. Rosie und ich hörten, wie sie die ganze Zeit über stritten – in dem Zimmer direkt über der Küche. Er wollte sich immer scheiden lassen. Und sie fing unglaublich zu brüllen an, wenn sie mal richtig in Fahrt kam. Ja, so war sie, die Gnädigste, sie hatte die Hand auf dem, was ihr gehörte. Und sie war entschlossen, sie auch drauf zu lassen, da war nichts zu machen. Ich erinnere mich noch, daß Rose und mir derselbe Gedanke durch den Kopf schoß, als wir erfuhren, daß sie tot war. ‹Jetzt hat er ihr also doch den Hals umgedreht.› Aber die Polizei meinte, weder er noch seine Freundin könnte es getan haben. Wie sagen die Franzosen? Crime – und noch was?»

«Crime passionnel», ergänzte Jury lächelnd.

«Klingt hübsch. Irgendwie haute es zeitlich nicht hin: Es muß passiert sein, nachdem ich ihr die Schokolade gebracht habe und bevor Rose das Tablett wieder abholte und die Leiche entdeckte. Sie hatten es beinahe bis auf die Minute genau festgelegt. Und da beide die ganze Zeit über auf der Bühne standen, konnten es weder Mr. Matchett noch seine meschuggene Freundin gewesen sein. Die arme Rose war wirklich völlig fertig –»

Etwas in Jurys Kopf wurde umgeschlagen wie die Seite eines alten Buches: Devon. Dartmouth lag in Devon. Konnte er wirklich so blind gewesen sein? Rose. Rosie. Mrs. Rosamund Smollett. Will Smollett. «Sie wollte ihre Tante Rose und ihren Onkel Will besuchen.» Mrs. Judds Worte fielen ihm wieder ein. Will Smollett. William Small. Es bedurfte keiner großen Kombinationsgabe, um diese Verbindung herzustellen.

Er nahm die Fotos von Small und Ainsley aus der Mappe und schob sie ihr hinüber. «Miss Trump, kennen Sie diese Männer?»

Sie nahm Smalls Foto in die Hand und studierte es eingehend. «Ich glaub schon … ja, das ist doch Will, wie er leibt und lebt. Nur hatte er damals einen Schnurrbart.» Ihre Augen wanderten zu dem zweiten Foto. «Du meine Güte, wenn das nicht Ansy-Hansi ist. Nur trug er keinen Schnurrbart.»

«Nicht Andrew», sagte Jury. «Ainsley. ‹Ansy› stand für Ainsley.»

Daisy starrte ihn an. «Ainsley. Ja, richtig. Wir zogen ihn immer damit auf, daß der das H nicht richtig aussprach. Sein Name war Hainsley. Rufus Hainsley. ‹Nicht einmal deinen Namen kriegst du auf die Reihe›, ärgerten wir ihn.»

Und Smollett hat sich einfach Small genannt, dachte Jury.

«Woher haben Sie denn diese Bilder, Sir?»

Jury gab ihr keine Antwort darauf. «Hatten die Smolletts nicht auch eine Nichte, die manchmal für längere Zeit bei ihnen zu Besuch war?»

«Und ob!» Daisy hob mit gespieltem Entsetzen die Hände. «Ruby. Das kleine Fräulein Naseweis. Sie war immer mit von der Partie. Gewundert hat’s mich nicht: bei solchen Eltern – bei jeder Gelegenheit haben sie sie abgeschoben – was konnte man da von der Kleinen schon anderes erwarten?»

Jury hielt das Armband hoch. «Vielleicht hat sie das dann gestohlen?»

«Das Armband? Würde mich wundern, Sir. Mrs. Matchett hat es die ganze Zeit getragen, so hing sie daran. Wie manche Frauen an ihrem Ehering. Oh, nein, Ruby wäre da nicht rangekommen. Nur über ihre Leiche.»

Daisy Trump verabschiedete sich. Jury saß an dem Tisch – die Tasse mit dem kalten Kaffee hatte er zur Seite geschoben – und starrte auf den Plan von dem Büro, in dem Celia Matchett sich an dem verhängnisvollen Abend aufgehalten hatte. Matchett mußte seine Frau umgebracht haben, anders ließen sich diese Morde nicht erklären. Ergo: die kleine Szene im Büro war nur für einen einzigen Zuschauer gedacht gewesen – für Daisy Trump, die als einzige bezeugen konnte, daß Celia Matchett in diesem Augenblick noch am Leben gewesen war. Aber Jury hätte seinen Kopf wetten können, daß sie es nicht mehr war. Ergo: Die Frau am Schreibtisch war nicht Celia Matchett, sondern ein Double gewesen. Und in Frage kam eigentlich nur die Geliebte, Harriet Gethvyn-Owen. Die Leute sehen auch immer nur das, was sie erwarten, und Daisy Trump hatte Celia erwartet. Außerdem hatte sie sie nur von hinten gesehen, in derselben Aufmachung und vielleicht auch mit einer Perücke. Und das Zimmer war ziemlich dunkel gewesen.

Blieb nur noch ein scheinbar unüberwindliches Problem: die Sache mit dem Alibi. Jury las sich noch einmal den Polizeibericht durch. Beide, Matchett und diese Gethvyn-Owen, waren angeblich auf der Bühne gewesen, als Celia Matchett ermordet wurde. Zeugen hatten sie mehr als genug – die ganze Zuschauerschaft. Jury vergegenwärtigte sich die Rolle des Othello. Um den Mohr zu spielen, mußte man sich kräftig schminken – ein Make-up, hinter dem sich jeder verstecken konnte. Aber wenn ein anderer für Matchett eingesprungen wäre, hätte das einen weiteren Mitwisser bedeutet, und das war ziemlich unwahrscheinlich. Oder vielleicht doch nicht? Vielleicht war einer von diesen drei Männern in die Sache verwickelt – Ainsley, Creed, Small. Aber auf eine andere Art und Weise. Keiner von ihnen hatte die richtige Größe, und außerdem wäre auch keiner in der Lage gewesen, vor einem Publikum aufzutreten. Aber angenommen, es war nur eine Frage der Vertretung, warum mußte dann seine Geliebte die Rolle Celias spielen?

Frustriert gab Jury auf. Er trat an das Fenster und sah Melrose Plant gegen den blauen Morris gelehnt mit Wachtmeister Pluck sprechen, der schon vor einer guten halben Stunde hätte auf das Revier zurückgehen sollen. Jury seufzte und stieß das Fenster auf.

«Wachtmeister Pluck, ist es denn zuviel von Ihnen verlangt, daß Sie meinen Anordnungen Folge leisten?» brüllte Jury.

«Oh, ist schon alles erledigt, Sir. Ich war in Long Pidd und bin bereits wieder zurück. Ich dachte, Sie könnten vielleicht den Morris gebrauchen.»

«Ah, gut, vielen Dank. Und Sie, Mr. Plant, könnten Sie mal kurz reinkommen? Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen.»

Plant riß sich von dem Auto und von Pluck los und ging in das Gebäude.

Jury ließ frischen Kaffee kommen und sagte: «Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich das mal durch den Kopf gehen lassen könnten: Ich bin überzeugt, daß Matchett in diesem Gasthof in Devon seine Frau umgebracht hat. Die Frage ist nur, wie zum Teufel hat er das gemacht?» Jury zählte noch einmal alle Einzelheiten des Falles auf und meinte abschließend: «Der Haken ist das Alibi. Allem Anschein nach konnte zum Zeitpunkt des Mordes keiner von beiden in Celias Büro gewesen sein.»

«Aber ist das nicht eine ganz gängige Praxis, Inspektor? Ich meine, man bringt jemand um die Ecke, wirft die Leiche zum Beispiel in einen Brunnen und ersetzt ihn in der für das Alibi wichtigen Zeit durch einen andern?»

Jury schüttelte den Kopf. «Ja, schon. Nur sieht’s in diesem Fall etwas anders aus. Celia war noch am Leben, als das Stück anfing. Ein halbes Dutzend Leute hat sie noch kurz vor dem Stück gesehen. Bei verschiedenen Gelegenheiten. Das Problem bleibt: Wie konnte der Mann an zwei Orten gleichzeitig sein?»

Plant antwortete nachdenklich: «Nun, ein Schauspieler ist gewissermaßen immer an zwei Orten gleichzeitig –»

«Ich kann Ihnen nicht folgen.»

«Wann hat das Stück angefangen?»

Jury öffnete die Mappe: «Um halb neun, oder wenige Minuten danach.»

«Und wann wurde Celia – oder diese andere Frau – in ihrem Büro gesehen?»

Jury drehte eine Seite um und fuhr mit dem Finger über die Zeilen. «Ungefähr um 22.40, nach der Aussage von Daisy Trump.»

Zwei oder drei Minuten lang sagte Plant überhaupt nichts, sondern rauchte nur stumm. Seine grünen Augen schienen die Höhlen, in denen sie lagen, von innen zu erleuchten. Schließlich sagte er: «Das Stück, Inspektor. Das Stück ist die Antwort.»

«Ich bitte Sie, Sie wollen doch nicht behaupten, Sie wüßten, wie er es gemacht hat?»

«Doch. Aber ich würde es Ihnen lieber zeigen als erklären; ich muß nur noch ein paar Vorbereitungen treffen. Entschuldigen Sie also, wenn ich gleich mal Ruthven anrufe.» Und bevor Jury protestieren konnte, hatte Plant sich auch schon das Telefon geschnappt.

Eine halbe Stunde später setzte Pluck Jury vor dem Polizeirevier in Long Piddleton ab. Drinnen traf er auf Wiggins, der sich gerade seine Tropfen in die Nase flößte.

«Ich werde auf Ardry End sein, Wiggins.»

«Ja, Sir. Aber Kriminaldirektor Racer ist hier – ich meine, er war hier. Er ist mit Superintendent Pratt nach Weatherington gefahren.»

«Machen Sie sich da keine Sorgen. Hören Sie, statten Sie doch mal der Pandorabüchse einen Besuch ab und beschatten Sie Matchett. Lassen Sie ihn nicht aus den Augen, aber so, daß er nichts merkt.»

Wiggins war überrascht. «Sie meinen, Sie haben ihn im Verdacht?»

«Richtig, Wachtmeister. Und noch was –» Jury bekam einen Hustenanfall. Er hoffte nur, daß er sich keine von Wiggins namenlosen Krankheiten zugezogen hatte. Er schneuzte sich und fuhr fort: «Noch was, wenn Kriminaldirektor Racer zurückkommt und Sie sich nicht mehr erinnern können, wohin ich gegangen bin, würde ich Ihnen das nicht verübeln.»

Wiggins grinste übers ganze Gesicht. «Ich hab ein miserables Gedächtnis, Sir. Aber hier –» Er wühlte in seinen Taschen und brachte eine nagelneue Packung Hustenbonbons zum Vorschein. «Nehmen Sie die mal. Einen Husten wie Ihren darf man nicht vernachlässigen.» Wiggins teilte mit Vergnügen seine Taschenapotheke mit seinem Vorgesetzten.

Jury versuchte, sie ihm zurückzugeben. «Eigentlich brauche ich sie gar nicht –»

Aber Wiggins, der sich sonst so leicht abwimmeln ließ, zeigte sich unnachgiebig. «Ich bestehe darauf. Stecken Sie sie ein.»

Jury gab sich geschlagen und tat, wie ihm geheißen wurde.