II Sonntag, 20. Dezember
«Diese Morde», sagte der Pfarrer, «erinnern mich an den Straußen in Colnbrook.» Er biß in seine Makrone, und Krümel rieselten über seinen dunklen Anzug.
Den Mund voller Kuchen, meinte Lady Agatha Ardry: «Ich hab den Eindruck, ein neuer Ripper weilt unter uns.»
«Jack the Ripper, liebe Tante, hatte es nur auf Frauen abgesehen, auf Frauen von zweifelhafter Moral», sagte Melrose Plant.
Lady Ardry schob sich den letzten Rest Kuchen in den Mund und wischte sich die Hände ab. Sie inspizierte den Teetisch. «Sie haben sich die letzte Makrone genommen, Denzil», sagte sie vorwurfsvoll zum Pfarrer.
Vor dem in kleine Quadrate unterteilten Fenster des Pfarrhauses driftete ein feiner Sprühregen in zarten Schlieren über den Friedhof. Direkt hinter dem Dorfplatz und mit Blick auf ihn standen die St.-Rules-Kirche und das Pfarrhaus auf einem Hügel, so niedrig, daß er diese Bezeichnung kaum verdiente. Sie befanden sich auf der andern Seite der Brücke, bei der die Hauptstraße endete, und die Atmosphäre, die dort herrschte, war gesetzter. Den Platz umgaben Häuser im Tudorstil, deren Dächer entweder mit Stroh oder Holzziegeln gedeckt waren; alle sehr herausgeputzt, und alle eng aneinandergekuschelt.
Melrose ging ungern zum Tee ins Pfarrhaus, vor allem, wenn seine Tante eingeladen war. Die Haushälterin des Pfarrers zeichnete sich nicht gerade durch ihre Backkünste aus. Ihre Plätzchen hätten in der Schlacht um England gute Dienste geleistet – als Ersatz für Kugeln und Geschosse. Melrose suchte auf der dreistöckigen Gebäckplatte nach etwas Eßbarem: Der Sandkuchen machte seinem Namen alle Ehre, die «Brautjungfern» schienen von Victorias Hochzeit übriggeblieben zu sein, und das Früchtebrot hatte wohl einen langen Anmarsch hinter sich.
Er hatte den Pfarrer und seine Tante nun fast zwei Stunden lang über diese beiden Morde reden hören und hatte einen gewaltigen Hunger. Mit den schlimmsten Bedenken streckte er die Hand nach einem gefüllten Pfefferkuchen aus und fragte den Pfarrer sehr höflich: «Sie erwähnten den Straußen?»
Durch seine Frage ermutigt, fuhr Denzil Smith mit großem Eifer fort: «Ja, wissen Sie, wenn dem Wirt ein etwas betuchterer Gast über den Weg lief, gab er ihm das Zimmer mit dem Bett, das auf einer Falltür stand.» Der Pfarrer hielt inne und nahm ein vertrocknet aussehendes Plätzchen von der Platte. «Und wenn der unglückselige und nichtsahnende Gast dann eingeschlafen war, sprang die Falltür auf, und er fiel in einen Kessel mit kochendem Wasser.»
«Wollen Sie damit sagen, daß Matchett und Scroggs sich ihrer Gäste entledigen?» Vierschrötig, kompakt und grau wie ein Betonblock saß Lady Ardry in der Bibliothek; die kurzen, stämmigen Beine hatte sie übereinandergeschlagen, und ihre plumpen Finger nahmen ein zweites Stück Kuchen in Angriff.
«Offensichtlich ein geistesgestörter Psychopath», sagte Lady Ardry.
Plant überging den Pleonasmus, fragte aber: «Wieso bist du so sicher, daß der Mörder ein Psychopath ist, Agatha?»
«Ich bitte dich – eine Leiche auf diesen Balken da vor dem Haus zu hieven, auf einen Balkon, der bestimmt sechs Meter hoch ist, wer würde so etwas tun?»
«King Kong?» schlug Melrose vor und hielt den Pfefferkuchen wie den Korken einer Weinflasche unter seine Nase hin.
«Sie scheinen diese schreckliche Sache recht leicht zu nehmen, Melrose», sagte Pfarrer Denzil Smith.
«Von Melrose brauchen Sie kein Mitgefühl zu erwarten», meinte seine Tante selbstgefällig und ließ sich in den überdimensionalen viktorianischen Sessel zurücksinken. «Du lebst ja auch ganz allein in diesem riesigen Haus und hast außer diesem Ruthven niemand um dich herum – kein Wunder, daß du so wenig sozial bist.»
Und trotzdem saß er hier, trank seinen Tee und benahm sich entsetzlich sozial. Melrose seufzte. Seine Tante konnte einfach alles vom Tisch fegen. Vorsichtig biß er in den Pfefferkuchen und bereute es sofort.
«Nun?» fragte Lady Ardry.
Melrose zog die Brauen hoch. «Nun was?»
Sie bewegte die Kanne in die Richtung ihrer Tasse und setzte sie dann wieder ab. «Ich hätte eigentlich erwartet, daß du mehr über diese Morde zu sagen hast. Schließlich warst du doch mit Scroggs zusammen dort.» Das war offensichtlich eine Provokation. Listig fügte sie hinzu: «Auch wenn Dick derjenige war, der ihn gefunden hat. Deshalb hast du auch keinen solchen Schock bekommen wie ich, als ich die Kellertreppe runterstieg und da diesen Small aus dem Bierfaß baumeln sah –»
«Du hast ihn nicht gefunden. Die kleine Murch war’s.» Melrose fuhr sich mit der Zunge über den Gaumen. Die Füllung hatte eindeutig einen metallischen Geschmack. Aber besser ein vergifteter Kuchen als Agatha zuhören zu müssen. «Ob die Creme in diesem Pfefferkuchen wohl noch gut ist? Sie schmeckt etwas seltsam.» Er legte das Gebäckstück auf seine Untertasse und fragte sich, wieviel Zeit ihm noch bliebe, bis sie den Krankenwagen rufen würden.
«Es gab da einen ähnlichen Fall, damals im Jahr – Moment mal –, war es 1892? Eine Frau namens Betty Radcliff, Wirtin der Glocke. Irgendwo in Norfolk. Sie wurde von ihrem Liebhaber, dem Gärtner, ermordet, wenn ich mich recht erinnere.»
Denzil Smith zeichnete sich weniger durch seine Frömmigkeit aus als durch seine Neugierde, was ihn zu einem idealen Gesprächspartner für Lady Ardry machte. Sie hingen auf eine völlig unreflektierte Art und Weise aneinander, zwei Gibbons, die sich gegenseitig lausten. Er speicherte alle Anekdoten aus dem Dorf wie der weiteren Umgebung, eine wandelnde Chronik.
Melrose blickte um sich und befand, daß das Pfarrhaus die ideale Umgebung für Denzil Smith war; dunkel und so verstaubt wie die Wachsfrüchte unter den Glasglocken. Auf dem Kaminsims breitete eine ausgestopfte Eule ihre Schwingen aus. Und die Klauenfüße, die unter dem Chintz-Volant des Sofas und der Sessel mit den klobigen Armlehnen hervorschauten, vermittelten Melrose den Eindruck, bei den drei Bären zu Gast zu sein. Clematis und Teufelszwirn rankten ungehindert an den Fenstern empor. Er fragte sich, wie man sich wohl mit einer Schlinge aus Teufelszwirn um den Hals fühlen mochte. Schlimmer als der Kuchen konnte es nicht sein. Das erinnerte ihn an den Mord, dem William Small zum Opfer gefallen war, erwürgt mit einem Draht, der von dem Korken einer Champagnerflasche stammte.
Lady Ardry sprach über den bevorstehenden Besuch von Scotland Yard. «Die Polizei von Northants hat sich mit Scotland Yard in Verbindung gesetzt. Ich weiß das von Pluck. Ich bin mal gespannt, wen sie uns schicken.»
Melrose Plant gähnte. «Den alten Swinnerton wahrscheinlich.»
Sie richtete sich kerzengerade in ihrem Sessel auf. Ihre Brille steckte in ihrem grauen Kraushaar wie die Schutzbrille eines Rennfahrers. «Swinnerton? Ja, kennst du den denn?»
Er bedauerte, daß er den Namen erfunden hatte – aber gab es nicht immer einen Swinnerton? –, denn nun würde sie darauf herumkauen wie ein Hund auf seinem Knochen. Da Melrose mit seinem Titel zur Welt gekommen war (im Gegensatz zu seiner Tante, die sich den ihren nur erheiratet hatte), schien sie sich gar nicht darüber zu wundern, daß er vom Premierminister abwärts einfach jeden kannte. Er versuchte, sie abzulenken. «Ich weiß auch nicht, zu was sie Scotland Yard hier noch brauchen, wo sie doch dich haben, Agatha.»
Seine Tante zierte sich etwas und reichte ihm dann zur Belohnung dafür, daß er ihr Genie erkannt hatte, die Platte mit dem schrecklichen Gebäck. «Ich erfinde faszinierende Stories, nicht wahr?»
Long Piddleton hatte in letzter Zeit immer mehr Künstler und Schriftsteller angezogen, und Lady Ardry, die schon seit vielen Jahren hier lebte, betrachtete sich selbst als Autorin von Detektivromanen, als würdige Nachfolgerin der großen Kriminalschriftstellerinnen. Aber, wie Melrose festgestellt hatte, kokettierte sie nur damit. Er hatte noch nie ein fertiges Produkt von ihr gesehen; wahrscheinlich betrachtete sie die Schriftstellerei wie einen geliebten kleinen Sprößling, eine Art Elfe, die anmutig im Garten umhertanzte, aber nie ins Haus kommt und warmes Essen verlangt. Seines Wissens hatte sie noch nie eine ihrer «faszinierenden Stories» zu Ende geschrieben.
Agatha schlug sich mit der Faust gegen die flache Hand und meinte: «Scotland Yard wird natürlich sofort mit mir sprechen wollen –»
«Dann will ich mich mal verabschieden», sagte Plant, der befürchtete, seine Tante würde ihre Rolle bei diesen Morden weiter ausschmücken und Geschichten wiederholen, die er bereits mehrere Male gehört hatte. Er stand auf und machte eine knappe Verbeugung.
«Ich hätte gedacht, das würde dich etwas mehr berühren», sagte Agatha. «Aber deine Leiche hat ja auch Scroggs gefunden.» Sie wollte Melroses Rolle auf das absolute Minimum beschränken.
«Genauer gesagt, es war ein Hund. Scotland Yard wird ihn bestimmt als ersten verhören. Auf Wiedersehen, Agatha.»
Als der Pfarrer Plant durch den gotischen Bogen der Bibliothek und zur Tür begleitete, verfolgte sie Lady Ardrys Stimme – um sämtliche Ecken und durch den Korridor.
«Deine Frivolität ist bei dieser grauenvollen Sache wirklich fehl am Platz, Melrose.» Dann lauter: «Es wundert mich aber keineswegs.» Und noch lauter: «Vergiß nicht, du hast uns heute abend zu Matchett eingeladen. Du kannst mich um neun abholen.»
Melrose spürte schon fast selbst das Unheil im Nacken, als der Pfarrer die Geschichte eines gräßlichen Verbrechens erzählte, dem vor ein paar Jahren eine Bardame in Cheapside zum Opfer gefallen war.